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Der Heilige und die letzten Tage von Pinapataui

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Schloß Pinapataui, am 16. Tag des Hitzemondes, im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Der Ritter winkte die Pagin zu sich und reichte ihr seine leere Trinkschale aus dünnem Silber, die in ihrer Form einer halbierten Kokosnuß glich. Die junge Frau nahm das Gefäß entgegen und füllte es mit drei Teilen Wein und einem Teil Kokosmilch auf. Als sie dem Ritter anbot, Kokosnußraspel auf das Getränk zu streuen, lehnte er freundlich ab: »Danke, Telila.«

»Tusila, Herr. Mein Name ist ...«, antwortete die Pagin ohne nachzudenken und verstummte erschrocken.

»Aber natürlich, Tusila ...«, räumte der Ritter wohlwollend ein. »So war dein Name: Tusila. Sei bedankt.« Er nahm die Trinkschale entgegen, trat zum Fenster, setzte sich auf den Sims und schaute angestrengt nach draußen. Außerhalb seines Blickfeldes hörte er die Pagin mit ihrem Tablett klappern und sich schließlich mit leichtem Schritt entfernen. Vermutlich war sie ganz rot im Gesicht. Gewiß würde sie sich bei der ersten Gelegenheit einer anderen Pagin anvertrauen: »Einer der Gäste unseres Herrn sprach mich an. Er kannte sogar meinen Namen!« Womöglich machte sie sich vorher sogar über ihn kundig. In dem Fall könnte sie bedeutungsschwer berichten: »Ajam Seffenaiu sprach mit mir!«

So viel Aufregung um nichts! Aber vielleicht war es auch verständlich. Die Bediensteten der Königsburg Pinapataui – der Unbezwingbaren – waren es nicht gewohnt, namentlich angesprochen oder über das unbedingt Nötige hinaus wahrgenommen zu werden. Sie hatten stumm und unsichtbar zu sein, und entsprechend wurden sie auch behandelt. Dienstbare Geister im Wortsinn ... Man beanspruchte ihre Dienste und behandelte sie wie Luft.

Die Kleine käme niemals auf den Gedanken, der Gast des Königs könne sie in einer freundlichen Anwandlung mit dem erstbesten Namen bedacht haben, der ihm in den Sinn gekommen war. Für sie mußte diese Täuschung der Beweis sein, daß unter den zahlreichen mehr oder weniger bedeutenden Gästen des Königs zumindest einer weilte, der von ihr wußte und ihr damit eine gewisse Wichtigkeit einräumte. Zweifellos würde sich die Pagin bis an ihr Lebensende an diese Aufmerksamkeit erinnern.

Leicht gesagt, dachte Seffenaiu. Denn so lange würde das nicht mehr dauern. Einige Tage vielleicht.

Er nahm einen großen Schluck Wein. Zum ersten Mal seit etwa einer Woche spürte er keine drückende Last, sondern fühlte sich ruhig und zufrieden. Er schrieb die Empfindung der Freundlichkeit zu, mit der er die Pagin bedacht hatte.

»Ich bin ein guter Mensch«, murmelte er. »Ein Heiliger womöglich. Der Schutzpatron des übersehenen Gesindes.«

Er schmunzelte. Wenn man bedachte, wie viele Heilige das Volk mit oder ohne Duldung der Kirche verehrte, so bestand durchaus die Möglichkeit, daß es unter ihnen etliche gab, die auch nicht mehr getan hatten als er. Das war eine ganz einfache Frage des gesunden Menschenverstands: Unter vier Heiligen konnte einer ein überragender Lehrer sein, ein zweiter ein großer Wohltäter, ein dritter ein standhafter Märtyrer und ein vierter vielleicht ein schwach gewordener Zweifler oder Verräter. Auch bei acht machte es keine Schwierigkeit, denn zwei Wohltäter auf einmal hatte die Welt bisher immer verkraften können. Nicht mehr so leicht hatten es achthundert oder gar achttausend Heilige. Selbst die finstersten Glaubensfeinde konnten nicht über solch bösartigen Erfindungsreichtum verfügen, um sich für zweitausend Heilige höchst einfallsreiche, völlig unterschiedliche und gänzlich unvergleichliche Märtyrertode auszudenken. Schon sehr bald gliche ein Märtyrer dem anderen. Und wie ein Volk den Tag überleben sollte, an dem zweitausend überragende Lehrer über es hereinbrächen, um es unerbittlich in allem nur Erdenklichen zu unterweisen, blieb eine offene Frage. Dennoch war es dem Volk Ikarillas gelungen, für jeden seiner weitaus mehr als achttausend Heiligen eine verehrungswürdige Nische zu finden.

Ein kurzer Blick lehrte Seffenaiu, daß er und eine Wache die einzigen waren, die sich in dem schlauchartigen, spärlich möblierten Durchgangszimmer aufhielten. Die Pagin war längst entschwunden, kein anderer Gast war zu sehen. Der Wächter stand neben einer der beiden Türen. In der Linken hielt er eine Lanze, die Rechte stützte sich auf den Griff der eisernen Reiterkeule, die in seinem Gürtel steckte. Der Mann starrte stur geradeaus. Seffenaiu sprach ihn an. Dieses Mal machte er sich nicht die Mühe, sich einen Namen auszudenken: »Wächter, beantworte mir eine Frage.«

»Sehr wohl«, antwortete der Angesprochene, ohne jedoch einen Blick zur Seite zu wagen.

»Nehmen wir an, du würdest zu einem üppigen Mahl eingeladen, bei dem schon vorher zu befürchten sei, daß es dir womöglich nicht bekömmlich sein werde. Welchen Heiligen riefest du vorsorglich an?«

Der Mann blieb stumm.

»Hast du die Frage verstanden?« hakte Seffenaiu nach.

»Sehr wohl«, bestätigte die Wache.

»Warum antwortest du dann nicht?«

»Mit Verlaub, Herr: Ich wurde bisher nie zu üppigen Mählern eingeladen.«

»Dieses Mal wirst du es. Jedenfalls in Gedanken.«

»Sehr wohl.«

»Bei diesem Mahl bestünde also die Gefahr, daß du dich heillos überfräßest. Was tätest du? Antworte!«

»Mit Verlaub Herr: Ich wäre dankbar.«

Seffenaiu sah den Mann etwas aufmerksamer an. Trieb er ein Spiel mit ihm? Hatte der Verfall der hergebrachten Ordnung, der das ganze Land ergriffen hatte und immer schneller voranschritt, jetzt schon das Heim des Königs erreicht, oder war der Wächter nur von schlichtem Gemüt?

»Beginnen wir von vorn«, sagte er ruhig. »Ich werde gelegentlich zu Gastmählern bedeutender Herrschaften eingeladen. Sitte, Anstand und allgemeine Höflichkeit verlangen es, daß man so viel in sich hineinstopft, daß einen noch Tage danach der Leib zwickt. Es sei denn, der Respekt vor dem Gastgeber und konkurrierende Höflichkeit erforderten es, beinahe ebenso gründlich dem Wein zuzusprechen. In dem Fall hat man zwar hinnen kurzem keine Sorgen mehr mit Leibdrücken, dafür fühlt sich der Kopf an, als hätte einem der Bucklige einen Helm aufgesetzt und stundenlang mit der Reiterkeule darauf herumgetrommelt. Was rätst du mir? Bestimmt gibt es doch irgendeinen Heiligen, an den man sich wenden kann?«

»Sehr wohl«, bestätigte der Wächter rasch. »Die heilige Tepora. Sie hilft bei Ungemach von Magen und Gedärm. Bei zu viel Saufen ist allerdings der heilige Pilui passender.«

»Gleich zwei?«

»Sehr wohl, Herr« hörte Seffenaiu den Mann sagen. Sein Ton klang verdächtig nach einem geringschätzigen »Aber natürlich! Was denkst du denn?«.

»Tepora und Pilui«, wiederholte Seffenaiu gedankenverloren, was der Wächter offenbar als Einladung zum Weiterreden mißverstand.

»Der heilige Pilui war ein bedeutender Märtyrer«, erklärte er. »Einmal wurden die Heiden aus dem Land Salamar seiner habhaft und sperrten ihn über viele Monde ohne Wasser und Speise in einem Weinkeller ein ...«

Seffenaiu gab einen erstickten Laut von sich und gebot seinem Gegenüber mit einer raschen Handbewegung Schweigen. Entschlossen blickte er wieder zum Fenster hinaus. Die Blöße, in Beisein des Wächters in lautes Gelächter auszubrechen, wollte er sich nicht geben.

So, so, der heilige Pilui. Den Namen mußte man sich merken. Augenscheinlich war der Heilige nichts anderes gewesen als der größte Trunkenbold, den die Welt je gesehen hatte!

Seffenaiu preßte die Lippen zusammen. Was er draußen vor der Burg entdeckte, war keineswegs geeignet, ihm zu gelassener Ernsthaftigkeit zu verhelfen.

Auf der beidseitig mit rotblühenden Tulpenbäumen bepflanzten Straße näherte sich ein auffälliger Zug der Burg. Er wurde von einem halben Dutzend Trommlern angeführt. Sie waren junge, ausgesucht gutgewachsene Burschen von kräftiger Statur, deren Bekleidung nur aus Schuhwerk und halblangen Röcken bestand. Im Haar trugen sie weiße Blütenkränze. Ihre zylinderförmigen Trommeln hingen an breiten Ledergürteln, die sich über die nackten Oberkörper spannten. Sie trommelten keinen Marsch, sondern einen Tanz.

Ihnen folgte eine Anzahl Jungfern mit schwingenden Hüften. Auch sie trugen Blütenkränze im Haar, waren aber nicht ganz so leicht bekleidet wie die Burschen: Hellblaue Schleier verbargen ihre Brüste. Über die Schultern trugen die jungen Frauen Tuchbeutel, aus denen sie Blüten streuten und gelegentlich Münzen – wahrscheinlich kupferne Racs – unter die Gaffenden warfen. Von denen gab es zuhauf. Sie waren aus den umliegenden Dörfern oder gar der Stadt Sadi herbeigeströmt und umlagerten die Burg seit Tagen in der Hoffnung auf Almosen. Die meisten waren Kinder. Über den Rest hatte Seffenaiu recht genaue Vorstellungen. Die Zuschauer beim Aufmarsch der Stolzen und Mächtigen des Königreichs waren naheliegenderweise diejenigen, die nichts Besseres zu tun hatten: landlose Habenichtse, Tagelöhner, die niemand beschäftigen wollte, und vermutlich ein erklecklicher Teil des Abschaums von Sadi.

Obwohl, wenn er es recht bedachte, so ließ sich das gar nicht mehr so sicher sagen wie früher. Viele, die sich noch vor vier Wochen Tag um Tag abgearbeitet hatten, hatten diese Anstrengung inzwischen aufgegeben. In ihren Augen lohnte sich die Mühe nicht mehr.

Inmitten der blumenstreuenden Jungfern und gefolgt von Dienern und Eskorte, ritt Ajamei Maffileokavekka, eine Kusine des Königs und Herzogin von Murui. Sie war leicht zu erkennen an ihrem dünnen, silbernen Haar, das sie wie stets offen trug. Es wehte in der leichten Brise von einem Kopf, den das Alter klein und fleischlos gemacht hatte. Trotz ihrer Jahre trug die zerbrechliche alte Dame Brustpanzer und Beinschienen. Auf den Rest ihrer Rüstung hatte sie ebenso verzichtet wie auf ihren Helm mit dem Pferdeschweif. Auch sie war blumengeschmückt: Ketten rotgeäderter Fingerblüten hingen um ihren dürren Hals und streiften das polierte Metall der Rüstung.

Die Herzogin war eine eifrige Verfechterin der alten Sitten; gern predigte sie von der Zeit, als ihre Vorfahren den schwächlichen Adel Ikarillas abgesetzt und vertrieben hatten. Wenn sie sprach – leise, von Pausen unterbrochen –, konnte man leicht vergessen, daß die Zeit, von der sie den Eindruck erweckte, sie sei die ihre gewesen, drei Jahrhunderte zurück lag. Niemand erinnerte sich daran. Schon deshalb nicht, weil alles, was man darüber wußte, überschwenglich verklärt worden war. Und zwar nicht von Ajamei Maffileokavekkas Vorfahren – die hatten vermutlich nicht einmal schreiben können –, sondern von denen, die man unterworfen hatte. Eine natürliche und sicherlich nicht schlechte Wahl. Die bisherigen Hofschreiber, Chronisten und Barden hatten schließlich über Erfahrung verfügt. Sie hatten die alten Herrscher gerühmt, und nun priesen sie die neuen. Für sie als Handwerker machte das keinen Unterschied. Kein Wunder, daß die ehrwürdigen Vorfahren so wenig Ähnlichkeit mit den unzivilisierten Reitervölkern Huaramas hatten, die ihre Verwandten gewesen waren.

Der Zug kam plötzlich zum Halten. Während die Trommler weiterhin auf ihre Instrumente schlugen, reichte ein Diener der Herzogin einen gepolsterten Stulpenhandschuh. Als sie ihn angezogen hatte, setzte ihr ein zweiter einen Falken auf den nunmehr geschützten Unterarm. Maffileokavekka entfernte die Haube, die der Vogel auf dem Kopf trug. Ein erstes »Aah!« erklang von den Zuschauern, als unerwartet ein Dutzend weißer Tuben freigelassen wurden. Die Herzogin schickte ihnen den Falken hinterher. Er fuhr zwischen die verängstigten Tauben, verfolgte sie, flog Scheinangriffe – aber er schlug keine einzige! Die Zuschauer begriffen schnell, daß eben das beabsichtigt war, und gaben ihrem Erstaunen lautstark Ausdruck.

Auch Seffenaiu war fasziniert, wiewohl er das Schauspiel schon einmal mit angesehen hatte. Es war die Umsetzung des Wahlspruchs von Ajamei Maffileokavekkas Familie: Der Falke fliegt mit den Tauben – oder so ähnlich. Nein, das war nur ein Teil des Familienmottos, besann er sich. Irgend etwas über eine gepanzerte Hand und Blumenketten gehörte noch dazu. Selbstverständlich war der Wahlspruch im Original in kunstvoller und bewußt knapper lingua dei verfasst. Wie immer er lauten mochte, vermutlich übersetzte man ihn sowieso am sinnvollsten mit: Wir sind Angeber!

Während noch immer »Aahs« und »Oohs« erklangen, fragte sich Seffenaiu nicht zum erstenmal, wie die Herzogin ihren Raubvogel davon abhielt, die Tauben zu schlagen. Irgendein Dreh mußte doch dabei sein! Seinerzeit hatte er schnell herausgefunden, daß niemand, den er fragte, die Antwort kannte. Im Stillen vermutete er, daß das Futter des Falken mit einem Rauschmittel versetzt worden war; womöglich bildete er sich ein, eine Taube nach der anderen zu erlegen. Aber vielleicht hatte man ihm auch einfach nur die Krallen ausgerissen. Ein Greifvogel, der nicht greifen konnte, war sicher kein guter Jäger mehr.

Seffenaiu nahm sich vor, den Falkner der Herzogin zu bestechen, damit er ihm das Geheimnis verriete. Er würde dem Mann so viel bieten, daß er nicht widerstehen könnte.

Einen kleinen Vorteil hatte die Gegenwart, dachte Seffenaiu flüchtig. Verschwenderische Ausgaben konnte man sich folgenlos leisten, ohne an ein Morgen denken zu müssen.

»Ich bin nur ein Heiliger«, murmelte Seffenaiu, als sich der Zug wieder in Bewegung setzte. »Doch mein König heilt die Kranken, macht die Lahmen gehen und die Blinden sehen. Demnächst wird er die Toten erwecken.«

Wäre die Herzogin keine so mächtige Frau gewesen, so wäre er versucht gewesen, ihr entgegenzueilen, um sie zu ihrer wundersamen Genesung zu beglückwünschen. Doch das wagte er nicht. Nicht einmal jetzt. Wie etliche andere Mitglieder des ikarillischen Hochadels hatte sich Ajamei Maffileokavekka ursprünglich entschuldigen lassen, als ihr greiser Herrscher und Vetter, König Ajam Sallimvallu III., sie zur Feier seines Thronjubiläums auf die königliche Schloßburg eingeladen hatte. Vermutlich aus Eitelkeit hatte sie nicht ihr Alter als Hindernis für die weite Reise angeführt – was man ihr womöglich abgenommen hätte –, sondern eine fiebrige Erkrankung vorgeschoben. Durch einen seltsamen Zufall führte der überwiegende Teil aller anderen verhinderten Gäste, die sich mit Bedauern entschuldigen ließen, nahezu denselben Grund an. Anfangs war dieses eigentümliche Zusammenspiel unter den Eingeweihten auf Pinapataui ein heimlicher Scherz gewesen: Eine schreckliche Seuche wüte im Hochadel Ikarillas! Sie warf jeden aufs Lager, der für Lustlosigkeit, Trägheit und Eigenbrötelei bekannt war oder Gründe hatte, dem Herrscher oder einem anderen Mächtigen des Reiches nicht unter die Augen zu treten!

Zum Glück war die Krankheit nicht tödlich. Selbst in den schlimmsten Fällen trat die Genesung nach genau acht Tagen ein, und zwar zeitgleich mit dem Ende des königlichen Festes – dem geplanten Ende.

Der Scherz war inzwischen schal geworden, denn mittlerweile zog sich der Aufenthalt auf Pinapataui die dritte Woche hin.

Der König war in der Tat eine Angelegenheit für sich. Obgleich Sallimvallu seit einem guten Jahrzehnt aussah, als müßte er stündlich das Zeitliche segnen, schien er fest entschlossen zu sein, all seine Vorgänger in Hinblick auf Herrschaftsdauer und Langlebigkeit zu übertrumpfen. Er hatte bereits die Kinder von drei Ehefrauen überlebt, und die Aussichten standen nicht schlecht, daß auch deren Kinder ihrem Großvater ins Grab vorausgehen würden. Doch über derlei unterhielt man sich selbst in Adelskreisen seit Jahren nur noch im Flüsterton.

Das königliche Fest war zuerst wie erwartet verlaufen. Jeder hatte gute Freunde und ferne Verwandte getroffen oder war grimmen Feinden oder nicht genug entfernten Verwandten aus dem Weg gegangen. Der Höhepunkt der Jubiläumsfeier war mit der Entdeckung des neuen Sternes zusammengefallen. Die billigsten Schmeichler hatten sogleich verkündet, er strahle zu Ehren des Königs!

Als sich jedoch die Gelehrten und Astrologen der Himmelserscheinung annahmen, stellte sich bald heraus, daß sie diese Meinung nicht teilten. Ihrer Ansicht nach war der neue Stern nicht erschienen, um über Ajam Sallimvallus ruhmvoller Regentschaft zu strahlen, sondern uni sie zu überschatten. Diese Anschauung äußerten sie deutlich, wenngleich sie sehr auf die Worte achteten. Aussagen wie »Große Umwälzungen stehen bevor!« konnten leicht als Hochverrat ausgelegt werden. Von Anfang an waren die Deuter der Zukunft daher äußerst bedacht gewesen, sich nicht selbst zu schaden. Geheimnisvoll und nichtssagend verkündeten sie, die Zukunft werde zwar düster sein, liege aber selbstverständlich noch im Dunkeln, so daß man wenig Sicheres verlautbaren könne.

Damit wäre eigentlich alles gesagt gewesen, aber man ließ sie, die doch schon eingestanden hatten, nichts zu wissen, keineswegs in Frieden. Man zwang sie regelrecht, sich immer neue Ausreden auszudenken, und legte ihnen Worte in den Mund, die sie bestätigen sollten, was sie denn auch brav taten: »Das ist denkbar. Das ist möglich. Das sollte unbedingt berücksichtigt werden.«

So retteten sich die Weisen und Hellseher von einem Tag zum anderen. Sie gaben Floskeln von sich, die all jene glaubten, welche sie unbedingt glauben wollten. Das waren viele.

Die wenigen, die das nicht taten, stellten naheliegende Mutmaßungen an. Was mochte drohen? Überschwemmungen, Mißernten, Hunger, Pestilenz? Vielleicht Krieg mit einem der Reitervölker aus Huarama?

Jeder suchte nach Antworten, die keiner geben konnte.

Unterdessen waren zu den bisher ferngebliebenen Mitgliedern des Hochadels Boten entsandt worden. Wie heilkräftig sich auf einmal das königliche Wort erwies! Seffenaiu vermutete, daß die neuerliche Einladung mit der Drohung verbunden gewesen war, über jeden, der sich noch immer verweigerte, die Acht zu verhängen. Vielleicht hatte König Ajam Sallimvallu III. ja auch gedroht, die noch ungeborenen Nachkommen eines jeden Ungehorsamen der nächsten beiden Generationen eigenhändig in die Sklaverei zu verkaufen.

Alle kamen – ein paar von ihnen waren tatsächlich todkrank. Die Nachrichten, welche die neu Hinzugekommenen aus den verschiedenen Teilen des Reiches mitbrachten, klangen besorgniserregend. Das Volk war unruhig geworden.

Bei gelegentlichen Abstechern nach Sadi im Auftrag der Gräfin Fattulloanna hatte Seffenaiu anfänglich zwei Stimmungen in der Bevölkerung beobachtet. Die Mehrheit hatte dem himmlischen Zeichen mit Gleichgültigkeit gegenübergestanden oder allenfalls mit einer Spur gespannter Erwartung. Eine Minderheit war umgehend in schicksalsergebene Betäubung verfallen: leichtgläubige, verängstigte Gemüter, die sich vor allem fürchteten. Ihrer Wesensart entsprechend, war das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnten, bereits unumstößliche Gewißheit, hei der es weder ein Drumherum noch einen Ausweg gab. Sein Eintreten war gewissermaßen nur noch eine reine Formalität. Die Angst dieser Minderheit galt dem Ende der Welt.

All das änderte sich sehr schnell. In nur zwei Wochen verkehrte sich das Verhältnis ins Gegenteil, und zwar nicht nur in Sadi, sondern im ganzen Land. Die Propheten waren daran schuld. In der Vergangenheit hatte es immer wieder Männer und Frauen gegeben, die auf den Plätzen der ikarillischen Städte Unglück, Not, das Ende der Schöpfung oder Aionars bevorstehendes Strafgericht verkündet hatten. Doch niemals waren es so viele gewesen wie jetzt. Und obwohl die Vorgänger dieser Schicksalsverkünder bisher meist falsch gelegen hatten – die Welt war schließlich kein einziges Mal untergegangen –, so wurde nun ihre schiere Zahl zum überzeugendsten Argument. Die Minderheit wurde atemberaubend schnell zur Mehrheit.

Inzwischen glaubte Seffenaiu nicht mehr, daß die Mehrheit des Volkes irrte. Ihm kam es wesentlich befremdlicher vor, daß die Edelsten des Reiches nicht einmal in Erwägung zogen, daß viel Schlimmeres bevorstehen könne und am Ende gar das, was die Spatzen in Sadi, Oaoa, Eloamé, Rafi, Peneteporata und anderen Städten Ikarillas längst von den Dächern pfiffen. Für diejenigen, die am meisten zu verlieren hatten, schien das bereitwillige Anerkennen der Vergänglichkeit unerträglich zu sein. Denn damit ging nicht nur die Erkenntnis einher, daß die Früchte lebenslangen Strebens nach Macht und Besitz urplötzlich faulig geworden waren. Auch der Glaube, daß Abstammung und Ahnentafeln noch länger irgendeine Bedeutung zukomme, daß die Blutlinie ein ewiges Band sei oder vielleicht eine Fackel, die von den Großeltern über die Eltern, Kinder und Enkel vom Gestern über das Heute bis zum fernsten Morgen weitergereicht wurde, erwies sich mit einemmal als irrig. Im Angesicht einer Gegenwart, auf die keine Zukunft folgte, spielte es keine Rolle mehr, ob man sich stolz als dritter oder vierzehnter seines Namens bezeichnete. Jeder hieß auf einmal ›der Letzte‹. Alle Fackeln würden gleichzeitig erlöschen.

Seffenaiu nahm einen großen Schluck aus der Trinkschale. Genug der unnützen düsteren Gedanken! Er hatte sich längst darauf besonnen, daß seine Zeit von Anfang an beschränkt gewesen war. Niemand hatte ihm je die Unsterblichkeit versprochen. Jetzt ging es nur noch darum, gefaßt und mit einem leichten Lächeln abzutreten!

Er hob die Schale, um den letzten Trinkspruch auszubringen. Den, der noch nie gehört worden war. Unzählige Menschen hatten sich im Lauf der Jahrhunderte von der Welt verabschiedet, doch noch nie hatte jemand der Welt selbst Abschiedsworte gewidmet.

»Leb wohl, Welt, die du lange vor uns da warst ...«, murmelte Seffenaiu. Er brach sein Vorhaben ab. Ein leeres Durchgangszimmer, das er allein mit irgendeinem Wächter teilte, war wohl kaum die richtige Umgebung für eine solch erhabene Geste.

Der Ritter ließ die halbvolle Trinkschale auf dem Sims stehen und wechselte in den belebteren Teil der Burg. Scheinbar ziellos ließ er sich treiben und tauschte dabei Grüße oder nichtssagende Worte mit anderen Gästen aus. Einmal fing er den heimlichen Blick einer Frau im weißen Sarong auf. Als er ein weiteres Mal an ihr vorbei kam, war von Heimlichkeit nicht mehr die Rede. Sie verfolgte ihn offen mit ihren Blicken. Seffenaiu nickte ihr höflich zu, worauf die Dame so anmutig den Kopf senkte, daß der Ritter nicht anders konnte, als ihr sein breitestes Lachen zu schenken. Die Unbekannte strahlte zurück. Mit einer bedauernden Geste gab ihr Seffenaiu zu verstehen, daß er leider im Augenblick anderweitig beschäftigt sei. Er ging rasch weiter zum Treppenhaus und begab sich hinab zum nächsten Stockwerk.

Eine halbe Stunde später war er immer noch nicht fündig geworden. Seffenaiu fragte sich bereits, ob er am Ende noch die Quartiere der Bediensteten aufsuchen müßte, als er schließlich in einem Saal, in dem sich vorwiegend das weniger bedeutende Gefolge der geladenen Gäste aufhielt, jenen Mann fand, den er suchte: den Falkner der Herzogin Maffileokavekka. Er stand dicht an einer Wand, bemüht, niemandem im Weg zu sein, und fühlte sich sichtlich unwohl.

Seffenaiu gesellte sich zu ihm: »Auf ein Wort, Meister.«

Der schlecht rasierte Mann sah ihn unsicher an und wußte offensichtlich nicht genau, ob er den Ritter kennen sollte.

Seffenaiu stellte sich vor: »Seffenaiu, Ajam Seffenaiu. Ich suchte dich einer Auskunft wegen.«

Die Miene des Falkners wandelte sich und spiegelte plötzliches Verstehen wider, als wüßte er bereits, was Seffenaiu von ihm wollte.

»Verrate mir, was die Herzogin mit ihrem Falken angestellt hat. Wieso läßt er die Tauben entkommen?«

»Verzeiht, Herr, doch mir steht nicht an, über die Angelegenheiten Ajamei Maffileokavekkas zu reden.«

Der Falkner sprach so, als hätte er diese Antwort schon öfter gegeben. Seffenaiu scherte sich nicht darum.

»Es wird unter uns bleiben«, versprach er. »Selbstverständlich werde ich dich für die Auskunft auch entlohnen.«

»Verzeiht, Herr, doch dieses Angebot wurde mir schon des öfteren gemacht. Aber ich muß leider wiederholen: Mir steht nicht an, über die Angelegenheiten Ajamei Maffileokavekkas zu reden.« Er sah aus, als wollte er sich zurückziehen.

Seffenaiu zuckte die Schultern. Warum sollte er geizen? Ohnehin war fraglich, ob er etwas, das er heute versprach, morgen noch einlösen mußte.

»Für ein paar Schem kann man ja auch nicht viel erwarten. Doch ich bin bereit, dir fünfhundert Dina zu bezahlen.«

Der Falkner war so überrascht, daß er beinahe das Atmen vergaß. Hastig blickte er nach links und rechts und antwortete dann tonlos: »Nicht hier.«

Seffenaiu mußte sich ein Lachen verkneifen. Hier war wahrscheinlich ein besserer Platz als irgendwo anders. Aber die Aussicht, dieses harmlose Geheimnis der Herzogin unter höchst verschwörerischen Umständen zu erfahren, übte einen besonderen Reiz auf ihn aus.

»Wo dann?« zischte er, ohne die Lippen zu bewegen.

Sein Gegenüber antwortete so leise, daß es kaum zu verstehen war: »Tür links, Gang, Treppenhaus, kleiner Turm, ganz oben.«

»Mhm«, brummte Seffenaiu.

»Ihr folgt mir mit etwas Abstand. Ich warte oben«, lautete die nächste Anweisung.

»Ich werde bis zweihundertsiebzehn zählen«, versprach der Ritter.

Der Falkner warf ihm einen sonderbaren Blick zu und verschwand.

Seffenaiu ließ etwas Zeit verstreichen, bis er ihm folgte. Im Treppenhaus aber kam ihm ein Bediensteter entgegen, der ihn sogleich ansprach: »Herr, seid Ihr der Ritter Seffenaiu?«

»Ja«, bestätigte er zögernd. »Worum geht es?« So schnell konnte diese kleine Verschwörung doch nicht aufgeflogen sein?

»Gräfin Fattulloanna wünscht Euch zu sprechen«, erklärte der Diener und machte damit Seffenaius Befürchtungen hinfällig. »Sie läßt ausrichten, daß es dringend sei.«

»Sicherlich«, entgegnete der Ritter. Mit leichter Enttäuschung blickte er treppauf. Später! Die Gräfin ließ man nicht warten.

Fattulloanna empfing ihn allein in dem ihr zugewiesenen Gemach mit den Worten: »Ihr müßt ein weiteres Mal für mich nach Sadi reiten, Ritter!« Sie nahm eine flache Schatulle von einem Beistelltischchen und überreichte sie ihm. »Ihr werdet das nach Sadi bringen. Paßt gut darauf auf!«

Wie immer verriet ihr Blick nichts, doch Seffenaiu konnte sich vorstellen, was er in Händen hielt: das, was die Gräfin als ihre Zukunft betrachtete.

»Dorthin, wo ich schon einmal war?« erkundigte er sich.

Die Gräfin nickte. »Ihr werdet dieses Mal kein Antwortschreiben erhalten. Alles ist geklärt. Er weiß, was er zu tun hat. Es mag vielleicht länger dauern. Ich verlange nicht, daß Ihr sofort zurückreitet. Ich erwarte Euch erst im Laufe des morgigen Tages wieder, Ajam.«

»Wie Ihr wünscht, Ajamei«, erwiderte Seffenaiu. Er steckte die Schatulle unter seine Bluse, verbeugte sich und eilte zu seiner Unterkunft. Für den Falkner hatte er nun keine Zeit mehr. Mit dem Besitz der Gräfin in Händen konnte sich Seffenaiu keine Ablenkung erlauben. Später fände sich mit etwas Glück eine neue Gelegenheit, das Geheimnis der Herzogin zu erfahren.

Während der Ritter leichte Rüstung anlegte und sich reisebereit machte, dachte er: So, so, die Gräfin verpfändet also ihren Familienschmuck! Er hatte gewußt, daß sie in Geldnot war. Diesem Zustand hatte ihre vereinbarte Vermählung Abhilfe schaffen sollen, doch leider war nicht alles wie geplant verlaufen. Die Hochzeit war abgesagt worden, und die Folgekosten waren höher gewesen als erwartet, denn der unzuverlässige Verlobte war nicht bereit gewesen, tatenlos zuzusehen, wie die Streiter seiner Verflossenen der Enttäuschung ihrer Herrin Ausdruck verliehen und sein Land verwüstet hatten. Wie sich gezeigt hatte, hatten seine Kämpfer mehr Erfahrung in solchen Dingen oder waren vielleicht nur ruchloser. Der Trennungsstreit war viel zu spät beigelegt worden!

Auf dem Weg zu den Stallungen begegnete Seffenaiu erneut der Frau im weißen Sarong. Sie wollte eben in ein mit Blattgold verziertes Stück Gebäck beißen, das sie vom Tablett eines Dieners genommen hatte. Als sie den Ritter entdeckte, legte sie es zurück.

»Ritter Seffenaiu?« sprach sie mit rauchiger Stimme. »Ihr sollt ein bemerkenswerter Draufgänger sein, sagt man.«

»Ihr seid im Vorteil«, entgegnete Seffenaiu. »Jeder, den ich fragte, kannte Euch nur als geheimnisvolle Schönheit.«

Sein Gegenüber lächelte. »Beatarisa. Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen, und hoffe, daß Ihr mich als wahrer Ritter erretten werdet. Ich langweile mich unsäglich.«

Seffenaiu schenkte ihr einen bekümmerten Blick. »Fürwahr, ich wäre nicht abgeneigt, Euch beizustehen, doch die Gräfin Fattulloanna hat mich schon mit Beschlag belegt.«

Beatarisa sah ihn plötzlich nicht mehr ganz so einladend an.

»Vielleicht vermutet Ihr falsch«, beeilte sich Seffenaiu richtigzustellen. »Gerne würde ich Euch aus Eurer Langweile erretten, doch die Gräfin befahl mir, nach Sadi zu reiten.«

»Seid Ihr ihr Dienstbote, Ritter?« spöttelte Beatarisa.

Seffenaiu überlegte kurz und antwortete im selben spöttelnden Ton: »Nein, aber ein sehr ausdauernder Reiter ... wie Ihr womöglich noch feststellen werdet.«

»Womöglich«, wiederholte Beatarisa. »Meldet Euch, wenn Ihr zurück seid. Vielleicht werde ich Euch verzeihen.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und ging.

Beatarisa war nicht hübscher als andere der anwesenden Frauen und auch nicht die einzige, der ein weißer Sarong gut stand, doch ihr Anblick, wie sie sich mit sinnlichen Bewegungen entfernte, versetzte Seffenaiu einen Stich.

Alles zu seiner Zeit, dachte er und ging zu den Stallungen.

Sorgsam verstaute er die Schatulle in den Satteltaschen seines Pferdes. Mehrmals überprüfte er, daß nichts herausfallen konnte. Der Inhalt war unersetzlich! Als er den Stallburschen sah, fiel ihm ein Versäumnis ein: Es war üblich, den Jungen für gute Arbeit einen Rac zu schenken. Das war nicht viel, doch sie lebten davon. Schon beim letzten Mal hatte Seffenaiu keine der kleinen Münzen in seiner Börse gehabt. Daran hatte sich seither nichts geändert. Ehrlich zerknirscht versprach er dem Stallburschen, ihn nicht zu vergessen. Er sollte diesen und jeden anderen ausstehenden Rae ganz sicher bekommen. Dem Jungen statt der Kupfermünze einen ganzen Schein zu überlassen erschien dem Ritter übertrieben.

Überdies dachte er längst an andere Dinge. Eine halbe Tagesreise gen Osten, zum Meer hin, lag vor ihm. Eilig ritt er die Straße mit den Tulpenbäumen hinunter.

Das Traumbeben

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