Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 12

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Verrat

Auf dem Heimweg nahm Wolf sich vor, Lúpa alles zu erzählen, sobald er mit ihr und dem Mond alleine wäre. Doch jetzt musste er erst einmal zu Hause nach dem Rechten sehen. Er ging durch die Straßen von Axthill und fühlte sich fehl am Platze.

Streuner sah man hier selten, und obwohl man sie aus anderen Teilen Tanárs kannte, weckte ihr Anblick bei vielen Misstrauen und sogar Angst. Zwar hatten Wolfs Artgenossen viel mit den Menschen gemein. Sie diskutierten, arbeiteten, lachten, liebten oder frönten dem Bier und den Spielkarten. Aber ihr Äußeres zeugte von wilder Urtümlichkeit, von Stärke und unberechenbarer Kampfeslust. Dies war vor allem ihrem Fell zu verdanken, aber auch ihren Füßen, die starke Ähnlichkeit mit Bärentatzen hatten; ihren fellbewachsenen Händen mit krallenartigen Nägeln an den Fingern; dem buschigen Schwanz, dessen vermeintlich unkontrollierte Bewegungen die meisten Menschen nicht zu deuten wussten; und nicht zuletzt dem Kopf, der aussah wie der eines Wolfes oder wilden Hundes, mit aufgestellten Ohren, langgezogener Schnauze, spärlichen Schnurrhaaren und einem Maul, das vier spitze Reißzähne und dahinter lange Reihen weiterer scharfer Kauwerkzeuge beherbergte.

Die wenigsten Streuner trugen Stiefel oder Handschuhe.

Männliche Streuner hatten außer ihrem Fell meist nichts als schlichte, über den Knien endende Lederhosen am Leib.

Streunerinnen trugen gern lange Gewänder aus Leinen oder Seide. Bleckte ein Streuner die Zähne, ließ man ihn besser in Ruhe. Fing er an zu knurren, fürchteten sich die meisten bis ins Mark. War er außerdem bewaffnet und hatte Grund dazu, wütend zu sein, so brachten sie sich vorsichtshalber in Sicherheit.

Viele Streuner wurden Soldaten; man sagte ihnen nach, ohne Skrupel oder Reue zu kämpfen und zu töten. Ansonsten verrichteten sie meist grobe Arbeiten, waren Schlosser, Mechaniker, Schmiede, Kutscher, Stallknechte, Tischler, Schiffer, Heizer oder Bauarbeiter. Wolf hatte in seiner militärischen Ausbildung viel gelernt, was er nicht missen wollte, war jedoch erst durch seine Tätigkeit als Tischler mit seiner Berufung und ihren Auswirkungen auf sein Leben ins Reine gekommen.

Außerdem ging er ausgesprochen gern mit Holz um. Ins Sägen und Hobeln, Schleifen und Ausdübeln, Fügen und Verleimen konnte er sich stundenlang vertiefen, zumal ohne dabei viel reden zu müssen oder ständig angeherrscht zu werden. Wenn dann Stuhl, Tisch, Regal oder Truhe, bisweilen auch größere Dinge wie ein Satz Streben oder Dachbalken, fertig waren, erfüllte ihn stets ein Gefühl satter Zufriedenheit. Von seinem Fleiß zeugten die Schwielen an seinen Händen.

Er erreichte den alten Verteidigungswall. Je weiter man in Richtung des Herzens von Tanár – des königlichen Palastes mit seiner Messingkuppel – vorstieß, desto wuchtiger und prächtiger wurden die Bauwerke. Die wenigen Bäume, die es hier noch gab, wurzelten in durch Eisenketten abgezäunten Kiesbetten. Hier wohnten die wohlhabendsten und einflussreichsten Bürger Tanárs: Senatoren, Grundbesitzer, Bauherren, Skriptoren, Landvermesser, Parlamentarier und Gelehrte aller Disziplinen.

Wolf ging nördlich am Königspalast vorbei. Wie immer patrouillierten Dutzende von Wachen das Gelände. Ihre Zahl war seit dem Tod des Nordkönigs auf das Doppelte aufgestockt worden. Sie machten sich einen Spaß daraus, Passanten zu kontrollieren, was auf eine demütigende Befragung und Durchsuchung hinauslief. Streuner und Scherenschrecken ließen die Wachen zwar gewöhnlich in Ruhe, aber man gab ihnen besser keinen Grund, Verdacht zu schöpfen – wie der ältliche Mensch, der gerade halbnackt Liegestütze machen musste, umringt von einer Gruppe lachender Soldaten, die derweil mit ihren Waffen sein Gewand zerfetzten.

Wolf erreichte die Prachtstraße und folgte ihr nach Osten. Wie immer herrschte hier reges Treiben. In beiden Richtungen waren unzählige Pferdekutschen, Sänften und Fußgänger unterwegs.

Eselskarren transportierten Waren, manche auch, wie er an ihrem öden Geruch erkannte, abgedeckten Unrat. Lärm brandete auf ihn ein. Er legte die Ohren an, was die Geräusche nur bedingt dämpfte.

Wird Zeit, dass ich heimkomme, dachte er.

Ost-Tanár, das war seine Heimat. Hier hatte er bald eine neue Bleibe gefunden, nachdem er von zu Hause fortgegangen war.

Vierzehn Jahre war das her. Seither lebte er in der kleinen Holzhütte am Stadtrand, die er sich damals mit Hilfe einiger Freunde gezimmert und nach und nach wohnlich eingerichtet hatte.

Er liebte diese Hütte, obwohl sie ihm im Laufe der Jahre etwas zu klein geworden war. Er liebte ihre Lage, selbst wenn an heißen Sommerabenden Schwärme von Stechmücken aus dem östlichen Sumpfland blutsaugend über das ganze Viertel herfielen. Er liebte das Knarren der alten Balken, wenn der Nachtwind über Ost-Tanár hinwegfegte, den Duft des Holzes und den seines Lagers.

Zu schade, dass Lúpa all dem rein gar nichts abgewinnen konnte! Ihr waren die Hütte zu eng und das Lager zu stachelig, und sie hasste Mücken und knarrende Balken. Dabei stammte sie aus Ost-Tanár und kannte die meisten von Wolfs Nachbarn.

In zu vielen Dingen unterschied sie sich aber wohl von ihnen.

Nur deshalb konnte sie schon in jungen Jahren fortgegangen sein, um allein in Axthill zu wohnen und bei einem Heiler in die Lehre zu gehen, der sie zunächst verspottet hatte, als sie ihm ihr Anliegen vortrug. Eine Streunerin, die sich um Menschenfrauen kümmern wollte? Hatte man so etwas schon gehört! Doch als er sie voller Häme anwies, ihm versuchsweise einen Kräuterverband anzulegen, überzeugte ihn Lúpa, dass ihre geschickten, sanften Finger für den Heilberuf wie geschaffen waren. Sie wurde seine beste Schülerin. Kurz bevor er vor einigen Jahren gestorben war, hatte er sie zu seiner Nachfolgerin ernannt. Heute strömten die reichen Bürgerinnen Axthills in Scharen zu ihr – vielleicht, weil sie einer Streunerin gegenüber weniger Scham empfanden.

»Wie geht′s deinem Mädchen?«, wollte Graubart, Wolfs nächster Nachbar, wissen, kaum dass er ihn nasenreibend begrüßt hatte. Graubart war ein schmächtiger Streuner mit struppigem Fell, der vielleicht sechzig Jahre auf dem Buckel hatte. Er pflegte oft vor seiner Hütte zu sitzen, seit er nicht mehr in der Eisengießerei arbeitete. Sein Atem wies stets eine fischige Note auf, die Wolf mit den Jahren als Teil der Vertrautheit Ost-Tanárs zu schätzen gelernt hatte.

»Gut«, sagte er.

»Hat sie nach mir gefragt?«

»Ja«, log Wolf. »Sie wollte wissen, wie die Fische beißen, nachdem ich ihr erzählt habe, dass du neuerdings so gerne angelst.«

Graubarts Augen funkelten. »Du Schlingel. Ich kenne doch unsere kleine Lúpa von früher. Nichts interessiert sie weniger als Ackerbau, Viehzucht oder Fische!« Er lachte und räusperte sich zugleich.

»Hast Recht. Ich wollte dir eine Freude machen.«

»Dafür hast du dir dein Abendessen verdient. Ich hab dir geräucherte Saiblinge mitgebracht, sie hängen an deiner Tür.

Und auch einen Schluck Wein, den ich dir schon gestern geben wollte, aber du warst ja den ganzen Tag unterwegs. Lass es dir schmecken.«

Wolf freute sich mehr, als er zeigen konnte.

»Wenn es dich nicht gäbe …!«

»Dann gäbe es eben jemand anderen. Nun geh schon, du hast bestimmt Hunger. Und schlaf gut! Du musst ja morgen wieder arbeiten, während ich nur hier sitzen und die Stunden zählen kann.« Er klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter.

Nicht nur altersmäßig hätte Graubart sein Vater sein können, überlegte Wolf gedankenverloren, als er es sich in seiner eigenen Hütte bequem gemacht hatte. Seit jeher legte sein Nachbar eine geradezu rührende Fürsorge an den Tag. Graubarts Familie hatte sich in alle Winde zerstreut; bestimmt fühlte er sich einsam. Lúpa hatte irgendwann einmal erzählt, die Mutter seiner Kinder habe ihn schon vor Jahren verlassen.

Hoffentlich geht es mir nicht auch einmal so, dachte er und nahm sich vor, alles dafür zu tun, dass Lúpa niemals einen Grund hätte, ihn zu verstoßen. Was wohl die Zukunft bringen mag? Während er Sauerbrot und unzählige Fische von dem Bündel in sich hineinstopfte, das Graubart ihm überlassen hatte, hing er diesem Gedanken eine Weile nach – bis ihm das belauschte Gespräch der letzten Nacht wieder in den Sinn kam.

Wer wohl dieser Schnitter war – ob er womöglich aus Tanár stammte, in der Stadt wohnte und tagsüber, wie jeder andere auch, unauffällig einer normalen Arbeit nachging? Und wie viele Untergebene mochte er haben, die nur auf seinen Befehl warteten, loszuschlagen und das neue Zeitalter einzuläuten? Unwillkürlich malte sich Wolf das Unheil aus, das nach dem Tod des letzten Königs, König Durban des Achtzehnten, über Tanár hereinbrechen würde. Der Schnitter würde seine gesamte Streitmacht aufbieten, um die Stadt und das ganze Land zu unterjochen. Ihm verging der Appetit. Mit dem Tod des Königs der Mitte würde eine Epoche beginnen, in der es keine Regeln, kein Mitgefühl und keine Sicherheit mehr gab. Flüsse würden austrocknen, Felder verdorren und ganze Ernten ausbleiben. Einhellig warnten die Gelehrten vor solchen Szenarien, wobei sie sich auf einflussreiche Historiker beriefen, die behaupteten, die Verbindung von Wohlstand und Frieden in Lesh-Tanár mit dem Blühen und Gedeihen der Königsfamilien nachgewiesen zu haben.

Wer konnte wissen, was dran war an solchen Prophezeiungen der Gelehrten, kluger Männer, die ihr Leben der Wissenschaft verschrieben hatten? Selbst wenn sie nicht Recht behalten sollten, wäre bestimmt nirgends mehr ein friedliches Zusammenleben möglich, wenn der Schnitter erst sein Ziel erreichte.

Nein, so weit konnte, so weit durfte Wolf es nicht kommen lassen. Er war schließlich der unentdeckte Mitwisser, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Seine Pflicht war es, all das Grässliche, was seiner Stadt und dem ganzen Land bevorstand, zu verhindern. Ihm war eine Idee gekommen. Er würde darüber schlafen und sie am nächsten Tag in die Tat umsetzen. Alles andere konnte warten. Er musste den Plan des Schnitters vereiteln, die sechs verbliebenen Könige retten und Lesh-Tanár vor dem Chaos bewahren.

Er hatte einen bedrückenden Traum. Schwarze, leere Fensterhöhlen starrten ihn an, während er auf den Palast zuschritt. Das Tor stand offen, und Wolf konnte den Schnitter hineingehen sehen. Verzweifelt versuchte er zu rennen, ihn einzuholen, doch seine Füße schienen festzustecken wie in dem saugenden Schlick am Flussufer, in den er als Welpe einmal geraten war. Er würde zu spät kommen. Tanár würde untergehen. Mit aller Gewalt riss er seine Füße aus dem Schlamm, doch als er sie frei bekommen hatte, stand der Palast in Flammen. Im nächsten Augenblick war er selbst der Schnitter und schlich durch die brennenden Flure hinauf in den Thronsaal, den Griff des blutigen Messers fest umklammert, um seine letzte Mission zu erfüllen …

Er erwachte schweißgebadet. Es war noch dunkel. Keuchend stand er auf, öffnete die Tür und genoss einige Atemzüge lang die frische Nachtluft. Graubart und seine anderen Nachbarn schliefen noch, doch irgendwo in der Nähe krähte ein Hahn.

Wolf brauchte kein deutlicheres Signal. Er schnappte sich frische Beinkleider und ein Handtuch und ging zum Brunnen, um sich ausgiebig zu waschen. Das kalte Wasser, das aus der schnabelförmigen Öffnung schoss, war wunderbar erfrischend.

Zuletzt sperrte er den Rachen auf, spülte Zunge und Zähne und trank, so viel er konnte. Als er fertig war, rieb er sich das Fell trocken, schüttelte sich sorgfältig und schlüpfte in die Hose.

Noch bevor es dämmerte, hatte Wolf wieder seine Hütte erreicht. Die Lederstiefel, die er vor Jahren erstanden hatte, um sie in der Kaserne zu tragen, passten ihm noch wie angegossen. Er bürstete den Staub ab und bedauerte, dass er seine Soldatenuniform und sein Schwert damals nicht auch behalten hatte. Jetzt hätte er beides gut gebrauchen können.

Schließlich stellte er sich vor die halb blind gewordene Messingplatte, die auf Lúpas Drängen hin einmal angeschafft worden war.

Ja, so habe ich eine Chance, dachte er zufrieden, während er sein Spiegelbild kritisch musterte. Durch das Waschen hatte sich sein Fell gleichmäßig aufgeplustert. Seine braunen Augen blitzten wach und entschlossen. Er fletschte die Zähne. Auch sie blitzten, weiß und scharf. Er spannte die Armmuskeln und ballte die Fäuste. Ja, damit würde er die Wachen vor dem Palast überzeugen und Hauptmann Rówans Gedächtnis notfalls auf die Sprünge helfen können.

Wolf machte sich keine Illusionen hinsichtlich seiner Aussichten darauf, als Normalbürger Zutritt zum Palast zu erhalten oder gar zum König vorgelassen zu werden. Aber er wusste, wie die Palastwache normalerweise mit Randalierern verfuhr: Sie wurden festgenommen und Hauptmann Rówan vorgeführt, der sie für den Rest des Tages in den Kerker sperrte. Wolf hatte natürlich nicht vor, im Kerker zu landen, schließlich kannte Rówan ihn von früher. Sein alter Vorgesetzter war ein wichtiger Teil seines gewagten Plans. Ihn zu treffen war fast so aussichtslos, wie eine Audienz beim König zu erbitten. Wolf würde sich buchstäblich zu ihm durchschlagen müssen.

Noch vor Sonnenaufgang erreichte er die Triumphbrücke. Seine Schritte hallten auf dem Kopfsteinpflaster unnatürlich laut wider. So früh am Morgen waren die Straßen Tanárs wie leergefegt. Er begegnete kaum jemandem außer zwei menschlichen Bettlern, die ihm aus dem Weg gingen, einem Nachtwächter, der mit dem Löschen der Öllampen beschäftigt war, und einer Scherenschrecke, die unterhalb der Brücke ihre Angeln ausgeworfen hatte.

Die Marktstraße war ein wenig belebter: Hier bauten die Verkäufer bereits ihre Stände auf. Eine Querstraße weiter sah Wolf einen Mann, der einen Karren mit unförmigen und offenbar recht schweren Säcken belud, die er mit Kalk bedeckte. Er wandte den Blick von dem Totengräber ab und beeilte sich weiterzugehen.

Als er den östlichsten Verwaltungsturm erreicht hatte, schickte die Sonne ihr erstes trübes Morgenlicht über die Dächer. Es war diesig, Wolf konnte den herannahenden Regen riechen. Bald erreichte er den Großen Platz. Der Klang seiner Schritte wurde seltsam hohl, als er die Marmorplatten betrat, die das gesamte Areal im Herzen der Hauptstadt bedeckten. Wolf wandte sich nach links.

Vor dem südlich gelegenen, erhöhten Eingangsportal des Palasts befand sich ein riesiger Springbrunnen. Das Wasser der Fontäne ergoss sich über mehrere, nach unten größer werdende Schalen.

Über den Platz verteilt standen steinerne Kübel mit fremdartigen Nadelgewächsen, die das ganze Jahr über leuchtend rote Blüten trugen.

Der Palast war asymmetrisch angelegt. Von außen sprang die Kuppel des hinteren Teils ins Auge, auf deren Spitze eine rote Fahne mit dem Greif wehte. Davor befand sich das hufeisenförmige Hauptgebäude mit seiner prächtigen, mehrstöckigen Fassade und dem perlmuttbesetzten Eingangsportal in der Mitte. Rechts davon stand ein klobiger quadratischer Wachturm, auf der linken Seite zog sich die Mauer mit dem eisenbeschlagenen Rundbogentor entlang, hinter dem der Palastgarten lag.

Beherzt steuerte Wolf auf die erste Treppe zum Palastportal zu. Selbst zu so früher Stunde war der Große Platz voller Wachen. Sie trugen dunkle Hemden mit dem Wappen Tanárs auf der Brust; das schwarze Leder ihrer Hosen und Stiefel glänzte wie blankpoliert. Ihre Bewaffnung bestand aus Schlagstöcken, Kurzschwertern und Reitsporen. Diejenigen, die direkt vor den Toren oder an der Palastmauer postiert waren, trugen Helme und Lanzen.

Viel zu tun gab es anscheinend nicht; manche Wachen gähnten gelangweilt. Doch der gestiefelte Streuner, der hier nichts zu suchen hatte, war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Wolf war kaum um den Springbrunnen herumgegangen, da bauten sich vor ihm auch schon zwei der Wachhabenden auf.

»Nun, wohin so eilig, Herr Streuner?«, begann der eine und blickte ihn aus hellen, stechenden Augen unfreundlich an. Sein schwitzender Körper war selbst auf fünf Schritte Entfernung deutlich zu riechen. »Hast du den Weg verloren oder bist du nur so am … Herumstreunen?«

»Ich habe den Weg nicht verloren«, erwiderte Wolf und dehnte knackend seine Schultern. »Ich weiß genau, wo ich hin will.« »Dann hast du dir eine denkbar schlechte Route ausgesucht«, sagte der zweite Wachmann. »Das hier ist Sperrgebiet!«

»Sperrgebiet oder nicht, ich muss hier durch. Und du, Gefreitengroßmaul, wirst mich nicht aufhalten. Bring mich am besten gleich zu Hauptmann Rówan, es sei denn, du hast Lust auf eine blutige Nase.«

Die beiden Männer warfen sich einen warnenden Blick zu.

»Troll dich lieber, du verlauster Bettvorleger, wenn du nicht den restlichen Tag im Burgverlies verbringen willst!«, herrschte der erste ihn an. »Hau ab, worauf wartest du?« Ein paar andere Wachen waren auf die Auseinandersetzung aufmerksam geworden.

»Darauf, dass du dich entschuldigst, du Stinktier«, entgegnete Wolf. »Ich habe nämlich eine wichtige Botschaft für den König, die nicht warten kann.«

Hinter den beiden Wachleuten näherten sich ein paar ihrer Kameraden, die Hände locker auf die Griffe ihrer Schlagstöcke gelegt.

»Der König könnte jemanden wie dich höchstens als Vorkoster gebrauchen«, erwiderte der erste Wachmann. »Das ist es doch, was ihr Streuner am besten könnt: Fressen und Saufen!« Gelächter.

»Ruhig, Männer«, rief der zweite Wachmann, der sich breitbeinig hingestellt hatte. »Wir wollen doch niemanden grundlos zornig machen.« An Wolf gewandt, fuhr er mit einer höhnischen Verbeugung fort: »Du hast also eine Botschaft für den König, edler Fremder? Wie lautet sie?«

»Sie lautet: In jedem Schweinestall herrscht süßer Wohlgeruch im Vergleich zum Schlafsaal der Palastwache!«

»Was bildest du dir eigentlich ein, Freundchen?«, rief der erste Wachmann wütend und drückte Wolf die flache Hand vor die Brust.

Er reagierte blitzschnell, packte das Handgelenk und drehte es mit einem Ruck nach außen. Der Wachmann krümmte sich vor Schmerz und rief seine Kameraden zu Hilfe. Gleichzeitig stürmte der zweite auf Wolf zu, ohne auf den Kinnhaken vorbereitet zu sein, der ihn auf halbem Wege niederstreckte. »Schwächlinge!«, rief Wolf grimmig, während drei andere Wachleute sich ihm näherten.

Behende kletterte er auf den Rand der untersten Springbrunnenschale und tauchte beide Hände in das kalte Wasser. Der erste Angreifer bekam den Schwall ins Gesicht, der zweite hatte weniger Glück: Wolfs Stiefelkappe traf ihn hart am Schlüsselbein. Er kippte zur Seite weg und krachte der Länge nach auf den Marmorboden.

Wolf lachte bellend und balancierte auf dem Rand der Schale außer Reichweite von fünf weiteren Wachleuten. Aber dann sah er, dass zwei von der anderen Seite direkt auf ihn zuliefen und sich rechts und links fast ein Dutzend mit gezogenen Schlagstöcken im Laufschritt dem Brunnen näherten. Er war umzingelt.

Wolf duckte sich, klappte den Rachen auf – und sprang den beiden Wachen vor ihm wie ein Raubtier entgegen. Sie knickten um wie Bäume im Sturm, und er war über ihnen …

Da traf ihn ein harter Gegenstand im Rücken. Fauchend vor Schmerz bäumte er sich auf. Der nächste Schlag war auf seinen Hinterkopf gerichtet. Für Sekundenbruchteile erhaschte sein Blick hinter den Köpfen unzähliger Wachen die Mauer des Palastgartens. Im Schatten des Torbogens stand eine Gestalt – in eine schwarze Kutte mit Kapuze gehüllt, schien sie das Geschehen auf dem Platz aufmerksam zu verfolgen.

Ihm blieb keine Zeit, sich über die Erscheinung Gedanken zu machen. Ein dumpfer Schmerz, sein Blickfeld verschwamm, und er fiel in allumfassende Dunkelheit.

»… auf dem Großen Platz randaliert … nicht bekannt … fünf Verletzte … nein, Herr Hauptmann … Kerker …«

Das Gespräch nahm in seinem Geist keine klare Form an, obwohl er das Gefühl hatte, jedes Wort würde ihm einzeln in den Schädel gehämmert. Er lag auf dem Bauch. Der Geruch von kaltem poliertem Stein drang ihm in die Nase. Sein Kopf pulsierte vor Schmerz.

Er stöhnte und versuchte sich aufzurappeln. Gleißendes Sonnenlicht fiel durch ein hohes Glasfenster und lastete gnadenlos auf seinen überreizten Sinnen.

»Er kommt zu sich«, sagte jemand.

Zwei Streunersoldaten kamen anmarschiert, packten ihn bei den Armen und rissen ihn unsanft auf die Füße. Jetzt erst sah Wolf, wo er sich befand. Man hatte ihn in den Palast gebracht. Zum Hauptmann. Dieser stand mit dem Rücken zu ihm vor dem großen Fenster. Sein Plan war aufgegangen!

»Aupmann Ówan«, sagte Wolf. Seine Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen.

»Schweigen Sie.«

»Aupmann …«

Der Hauptmann wandte sich um.

Wolf erstarrte. Der Mensch, der da vor ihm stand, war zweifellos ein Hauptmann, aber er hieß nicht Rówan. Schlimmer noch, Wolf hatte ihn nie zuvor gesehen! Wie konnte das sein? »Wo ist Hauptmann Rówan?«, fragte er. Zum Glück ließen sich die Worte endlich wieder leichter formen.

»Schweigen Sie«, sagte der Fremde erneut. »Die Wachen berichten mir, dass Sie sie vor dem Palast grundlos …«

»Ich muss sofort Hauptmann Rówan sprechen«, fiel Wolf ihm ins Wort. »Er kennt mich. Ich bin Obergefreiter Wolf von Tanár.

Ich habe lange unter ihm gedient. Wo ist er?«

»Noch ein Wort, und Sie landen ohne Anhörung im Kerker«, sagte Rówans Amtskollege kühl.

»Sagt Hauptmann Rówan, dass ich …«

»Bringt ihn weg.«

»Lasst mich los!«, protestierte Wolf.

Die Tür öffnete sich.

»Was ist hier los?«

Wolf atmete auf. Die Stimme war ihm vertraut.

»Ein Randalierer«, sagte der Mann am Fenster. »Wir bringen ihn in den Palasthof zur Exekution.«

»Lasst die dummen Scherze«, fuhr Rówan seinen Kollegen an.

Sein Blick fiel auf den Gefangenen. »Obergefreiter Wolf! Zum Gruße. Lange nicht gesehen.«

»Zum Gruße, Hauptmann«, erwiderte Wolf und zwang sich zu einem verschmitzten Lächeln.

»Lasst ihn los.«

Die beiden Soldaten zogen sich in den Hintergrund zurück.

»Obergefreiter Wolf, eine grundlegende Tatsache ist an Euch vorbeigegangen.«

»Der Tod des Nordkönigs ist nicht an mir vorbeigegangen.«

»Ich spreche nicht vom Nordkönig. Sondern davon, dass ich kein Hauptmann mehr bin.«

Wolf sah ihn verdutzt an.

»Gestatten: General Rówan.« Er beugte sich ein wenig vor.

Nach Wolfs Erfahrung war Rówan einer der wenigen Menschen, die gewohnt waren, Streuner nach deren Sitte zu begrüßen. Den Lebensatem seines alten Vorgesetzten zu teilen weckte Erinnerungen in Wolf, die ihn wehmütig stimmten. Unangenehm und peinlich war ihm dagegen, dass der General gleich darauf entschlossen Wolfs Handgelenk packte und nach Menschenart schüttelte.

»So viel zum offiziellen Teil«, sagte Rówan dann zufrieden.

»Und jetzt sag mir endlich, was du von mir willst und warum du da draußen so einen verfluchten Aufstand gemacht hast.«

Im Palast war alles wie zu Wolfs Soldatenzeit geblieben. Noch immer zierten dieselben Banner und Wandteppiche, kunstvolle Statuen und blattgoldverzierter Stuck die Korridore der königlichen Residenz. Derselbe merkwürdig leblose Geruch wie einst hing in den kühlen Gängen. Vielleicht lag auf allem mittlerweile ein wenig mehr Staub. Doch eines hatte sich ganz unübersehbar verändert: An Treppen und Eingangsportalen standen mehr Wachen als damals. Nur ihr Tuscheln, wie auch die Schritte von Wolf und seiner Eskorte, störten eine ansonsten allgegenwärtige, künstlich wirkende Stille.

Vier schwerbewaffnete Soldaten führten Wolf auf Rówans Befehl hin in den Ostflügel des Palasts. Im hinteren Teil ging es eine breite Steintreppe hinauf und einen weiteren Korridor entlang, der in einen lichtdurchfluteten Saal mündete. Die Stirnseite beschloss eine hohe zweiflügelige Tür, die zwei Ritterrüstungen mit echten Schwertern flankierten; vor den Fenstern stand ein Schreibtisch, dessen wurmstichiger Holzduft Wolf in die Nase stieg.

Eiche, massiv, sollte aufpoliert werden, dachte er ungewollt. Auf dem schweren Möbel stapelten sich Bücher, Schriftrollen und Pergamente, mit deren Bearbeitung ein korpulenter Mensch beschäftigt war. Gleichzeitig vertilgte er auf widerlich anzusehende Weise sein Frühstück. Wolf und die Wachen blieben vor ihm stehen.

»Wen darf ich melden?«, fragte der Mann mit ausdrucksloser Stimme und ohne aufzusehen. Beim Reden fiel ihm ein halbzerkautes Stück Brathuhn aus dem Mund und auf das vor ihm liegende Dokument.

»Wolf von Tanár.«

Der Mann blickte auf und musterte ihn aus leeren, wässrigen Augen.

»Wolf? … Hm. Wolf also.« Er griff nach der Feder, die in einem Tintenfass steckte, und fing an zu notieren.

»Wolf … Streuner … von Tanár. Wohnhaft?«

»Sumpfweg, das vorletzte Haus.«

»Moorhausen?«

»Nein, Ost-Tanár.«

»Gildenzugehörigkeit?«

»Keine. Ich bin schließlich nicht von vorgestern.«

»Aber einen Beruf werden Sie ja wohl haben?«

»Tischlergeselle.«

Die Feder kratzte behäbig über das Pergament.

»Sie hätten sich auch gut beim Militär gemacht. Was ist Ihr Begehr?«

»Das sage ich König Durban persönlich.«

Der Mann starrte Wolf sekundenlang an, dann runzelte er die Stirn.

»Der König ist beschäftigt.«

»Er wird sich Zeit für mich nehmen müssen. Es geht um Leben und Tod.«

»Der König muss gar nichts. Sie dagegen schon. Nämlich warten.« Der Skriptor legte das Pergament zur Seite, gab den Wachen einen Wink und widmete sich wieder seinem Essen.

»Aber General Rówan hat mir versprochen …«

Sein Einwand verhallte ungehört. Die Eskorte brachte Wolf in einen Nebenraum mit zwei unbequem aussehenden hölzernen Lehnstühlen. Die Tür schloss sich, und er blieb mit zwei der Wachen allein.

Nach einer Stunde brach er seinen Vorsatz, sich nicht zu setzen. Die Wachen hielten die Klingen ihrer Lanzen vor dem Durchgang gekreuzt und ließen ihn nicht aus den Augen. Gegen Mittag fragte Wolf, wann er denn an der Reihe wäre, und erhielt keine Antwort. Auch dass er Durst hatte, interessierte niemanden.

Eine Stunde nach Mittag wurden die Wachen abgelöst. Durch die offenstehende Tür konnte Wolf den Skriptor sehen, der sich mittlerweile an Äpfeln und Trauben gütlich tat, ohne den Saft wegzuwischen, der ihm beim Kauen aus den Mundwinkeln floss und auf den Schreibtisch tropfte.

Wolf verlor jedes Zeitgefühl. Stunden schienen vergangen zu sein, als die Tür endlich wieder geöffnet wurde. Der Skriptor schickte die Wachen fort, wischte sich mit der einen Hand über den Mund und bedeutete Wolf mit der anderen, ihm zu folgen.

Die große Flügeltür stand offen. Der Skriptor bugsierte ihn hindurch und schloss sie hinter ihm von außen. Wolf stand in einem Saal, der mit schwerem rotem Samt ausgekleidet war – von den Vorhängen an allen vier Wänden über die Draperien an der Decke bis hin zu den Polstern der Möbel. Lediglich der Boden bestand aus Marmor. Ein Kronleuchter mit goldenen Spitzen und Kristallen wie Eiszapfen hing von der Decke herab. Die Flammen seiner rußenden Kerzen tauchten den Raum in schummeriges Licht. Gegenüber dem Eingang stand ein ähnlicher Schreibtisch wie draußen, außerdem zwei Sessel. Dahinter saß ein vergleichsweise dünner Mann, dessen Frisur und Bart ihm entfernt das Aussehen einer Ziege verliehen. Auch er war in roten Samt gewandet und trug außerdem ein goldenes, schlicht gearbeitetes Diadem auf dem Kopf.

»Willkommen, Wolf von Tanár«, sagte der Mann mit seltsam gepresster Stimme. »Nehmen Sie Platz.«

Er gehorchte wortlos. Das Bedürfnis, sein Gegenüber mit der Nase wahrzunehmen und kennenzulernen, war stark; dieser Mensch war wichtig, jedenfalls wichtiger als der Skriptor oder die Wachen. Doch die Luft war zu stickig und verrußt, als dass er ihn auf die Distanz erriechen konnte.

»Verzeihen Sie, dass Sie ein wenig warten mussten. Ich bin sehr beschäftigt, wie Sie sich denken können.« Der Mann lächelte spitz. »Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ihr seid nicht der König«, bemerkte Wolf und wandte schnüffelnd den Kopf. Die tote Luft in diesem Raum machte ihn nervös.

»Hören Sie«, erwiderte sein Gegenüber mit gefrorenem Lächeln, »König Durban der Achtzehnte gibt keine Privataudienzen, und das wissen Sie, wenn Sie Bürgeraushang Nummer dreiundsiebzig gelesen oder in letzter Zeit den Ausrufern zugehört haben.« Wolf nickte. Er wusste nicht, dass es Bürgeraushänge gab, und die Ausrufer hatten das Wort »Audienz« seines Wissens nie erwähnt.

»Ich muss ihn aber trotzdem sprechen. Es geht um sein Leben und um das der anderen Könige. Der Frieden in Lesh-Tanár steht auf dem Spiel. Alles Weitere sage ich dem König persönlich.« Spitzbart schob die samtenen Ärmel zurück. Sein Lächeln hatte sich nicht verändert, doch seine bedrohlich leise gewordene Stimme verriet keimenden Ärger.

»Seine Majestät empfängt keine Bürger zu privatem Geplauder.

Wenn das aber nicht in Ihren bemerkenswerten Dickschädel hineingeht, so kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen. Sie dürfen gerne hier und jetzt Ihr Anliegen vorbringen und den Palast als freier Streuner verlassen. Ansonsten gedenke ich Sie wegen Störung der Palastordnung in den Kerker werfen zu lassen. Nur damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin General Várun, Oberbefehlshaber der Palastwache, Chefskriptor und Berater des Königs. Jemand von höherem Rang als mich werden Sie nicht erreichen. Also, schwafeln Sie nicht länger herum, sondern kommen Sie endlich zur Sache.«

»König Durban soll ermordet werden«, sagte Wolf prompt, »und vorher werden die Könige aller anderen sechs Reiche ebenfalls sterben.«

General Váruns Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

»Ich bin Zeuge eines entsprechenden Komplotts geworden«, fuhr Wolf fort. »Die Verschwörer haben den Nordkönig umgebracht.

Der Westkönig soll als Nächster ermordet werden, und es soll danach aussehen, als ob der Süden dahintersteckt.«

Der General hatte ihm aufmerksam zugehört. Er zeigte sich jedoch weitaus weniger erschüttert, als Wolf gehofft hatte.

»Wann und wo wollen Sie das erfahren haben?«

»Vorgestern Nacht«, erwiderte er. »Zwischen Kehrdorf und Viertürme, an der Ruine der alten Stadtmauer.«

»Was haben Sie da gemacht?«, wollte General Várun wissen.

»Ich … war den Abend über … nicht zu Hause gewesen …«

»Wo waren Sie vorher?«

»In einer Wirtsstube.«

»Schön.« Der General nickte ihm wohlwollend zu. »Da haben Sie sich hoffentlich ein wenig amüsiert? Man muss sich doch was gönnen nach Feierabend.«

»Allerdings«, erwiderte Wolf erleichtert. Endlich schien Várun lockerer zu werden. Ob er ihm ein kurzes Nasenreiben zumuten konnte? Nein, lieber noch nicht. »Ich war ziemlich lange dort, wurde zum Spielen aufgefordert und habe einiges getrunken …« Er biss sich auf die Zunge.

Várun zeigte wieder sein spitzes Lächeln. Seine Lockerheit war dahin, und seine Stimme klang noch gepresster. »Ein bisschen zu viel getrunken, meinen Sie wohl?«

Wolf nickte beschämt.

»Und danach haben Sie Stimmen gehört. Die es vielleicht gar nicht gegeben hat?«

»Es gab sie. Ich habe sie ja gehört.«

»Sie haben zugegeben, betrunken gewesen zu sein.«

»Ich …«

»Lassen Sie mich rekapitulieren«, fiel ihm der General ins Wort. »Sie waren vorgestern Nacht betrunken in Tanár unterwegs, ließen sich zum Schlafen an der alten Stadtmauer nieder und träumten von einem ominösen Komplott, das die Ermordung aller sieben Herrscher Lesh-Tanárs vorsah, Seiner Majestät König Durbans zuletzt?« Das Lächeln des Generals war verschwunden.

Verwirrt starrte Wolf ihn an.

»Und damit vergeuden Sie meine Zeit?«, schrie Várun erbost.

»Glauben Sie denn, ich hätte nichts Besseres zu tun, als den Schauermärchen eines versoffenen Streuners zu lauschen? Wissen Sie eigentlich um den Verwaltungsaufwand in diesem Palast und welche Verantwortung mir als Berater König Durbans auferlegt ist? Zur Hölle nochmal, da ist kein Platz für die Fantasien eines Subjekts wie Ihnen, das den Alkohol wichtiger nimmt als das Wohl unseres Landes und Weltpolitik für eine exotische Delikatesse zu halten scheint!«

»Ich weiß, was ich gehört habe«, sagte Wolf, nachdem der königliche Berater sich etwas beruhigt hatte.

General Várun wandte sich abrupt um und zog an einer Kordel, die zwischen den Vorhängen herabhing.

»Verlassen Sie mein Amtszimmer«, befahl er heiser. »Die Wachen werden Sie nach draußen geleiten. Wir nehmen Meldungen wie die Ihre seit den Geschehnissen in Hauraro durchaus ernst, aber«, der General hob drohend den Zeigefinger, »wenn Sie glauben, dass Sie uns mit Ihrem Auftritt einen Dienst erwiesen haben, irren Sie. Tanár kann nicht auf seine Trunkenbolde, sondern höchstens auf seine Soldaten stolz sein. Merken Sie sich das.« Wolf fühlte, wie ihn eine Welle heißer Wut überkam. Konnte es tatsächlich sein, dass er nach dem Ärger mit den Palastwachen und der langen Warterei als vermeintlicher Säufer abgespeist wurde? Doch bevor ihm einfiel, wie er hätte kontern können, öffnete sich die Flügeltür, und vier Wachen nahmen ihn in Empfang. Der gefräßige Skriptor ließ das Portal ins Schloss fallen und würdigte ihn keines Blickes mehr. Seine Eskorte schlug den Weg in Richtung Ausgang ein. Am Ende des Korridors stand General Rówan und nickte ihm entschuldigend zu, ehe er sich umwandte und eine Treppe höher verschwand.

»Im Palast? Du warst im Palast? Wie hast du das angestellt?«

»Ich konnte die Wachen überzeugen. Und mit dem Berater des Königs sprechen.«

»Und? Willst du mir nicht sagen, was dabei herausgekommen ist?«

Wolf musste grinsen. Er genoss es, Lúpas Neugier anzustacheln. »Der königliche Berater bekam einen Wutanfall.«

»Er hat dir nicht geglaubt, stimmt′s?«

Einen Moment lang lauschte Wolf dem Regen, der unablässig auf das Schindeldach trommelte. Dann richtete er sich auf und griff nach dem Becher, der neben dem Lager stand. Lúpa hatte an diesem Abend extra für ihn einen ihrer besten Weine geöffnet.

»Ich hätte doch Soldat bleiben sollen«, murmelte er und versuchte vergeblich, alles, was General Várun zuletzt gesagt hatte, aus seinem Bewusstsein zu verbannen.

»Ich finde, du schlägst dich auch als Zimmermann ganz gut. Und solange du tischlerst, kann ich wenigstens sicher sein, dass dir nichts … fehlt, wenn du mich das nächste Mal besuchst.

Jede Heilerin freut sich besonders, wenn zur Abwechslung mal ein Gesunder zu ihr kommt.« Sie zwinkerte ihm schelmisch zu und zog sich durch eine wohlige Streckung die seidene Decke ein wenig straffer um den Körper.

Wolf spürte, wie die Hitze des Weins in sein Blut überging.

Lúpa nahm ihm den Becher aus der Hand und fing mit der Zunge den Tropfen auf, der am Rand herunterlaufen wollte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken und streckte den Arm aus, um den Wein hinter sich abzustellen. Gebannt verfolgte er jede ihrer Bewegungen.

Noch bevor sie den Becher losgelassen hatte, war er über ihr, drückte seine Schnauze an ihre Kehle, spürte erschauernd das sanfte Vibrieren ihres Halses, als sie erschrocken kicherte.

Mit Händen und Zähnen zog er die Decke fort, schälte sie aus der nach Rosen und Nelken duftenden Seide, um ihren ureigenen Duft zu kosten. Rosenharz, diesmal nur ganz dezent, und alles, was er an ihrem Aroma sonst schätzte, und, immer stärker werdend, eine Lockung, die reine Gier in ihm freisetzte.

Er spürte, wie ihre Finger über seinen Rücken glitten und an seine Hüften, grollte zärtlich, als sie ihn jäh umfasste, um ihm den Weg zu weisen, und er genoss ihren Duft, als sie endlich beisammen waren, Fell an schwitzendem Fell, und sie ihm, wie sie es immer tat, leise ins Ohr fauchte, bis er sich keuchend in sie entladen hatte und von ihr löste, um die Seidendecke über sie beide zu breiten und für eine Weile auszuruhen …

… bloß nicht schnarchen, dachte Wolf, ehe ihm die Augen zufielen, und wieder wach sein, noch bevor der Mond aufgeht. Seine Lúpa sollte schließlich nicht zum letzten Mal gefaucht haben in dieser Nacht.

Sie schlief noch, als er sich erhob und das Lager verließ. Er hatte pünktlich in der Tischlerei zu sein und musste einen Abstecher nach Hause machen, bevor er nach Zweieich ging.

Draußen dämmerte es noch nicht einmal. Schon oft hatte er sich auf diese Weise lautlos davongestohlen. Doch als er den Gürtel festgezogen hatte und sich gerade zu ihr herabbeugte, um sich mit einem flüchtigen Nasenreiben zu verabschieden, öffnete Lúpa die Augen.

»Versprich mir, dass du wiederkommst …«

»Sobald ich kann.«

Sie seufzte und wälzte sich herum, um weiterzuschlafen. Seinen Ohren entging nicht, was sie in das Kissen murmelte.

»Mein Stuhl wackelt …«

Als er die Treppe hinunterstieg, verspürte er ein merkwürdiges Gefühl der Leere. Warum hatte Lúpa wach werden müssen? Er musste daran denken, wie sie einmal ergeben, aber nicht ohne Vorwurf die Ohren angelegt hatte, als er auf ihre Bitte, nach Axthill umzuziehen, nur geschwiegen hatte. Sie war nie wieder auf das Thema zu sprechen gekommen, doch er glaubte, Lúpa wünschte nach wie vor, ihn ständig in ihrer Nähe zu haben. Wie sollte er ihr erklären, dass er seine Freiheit schätzte und seine Hütte in Ost-Tanár nicht aufgeben wollte?

Draußen goss es in Strömen. Der Regen hatte die Schwüle endlich vertrieben. Wolf beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Heute durfte er auf keinen Fall zu spät in Zweieich erscheinen. Der Meister, ein alter Streuner, der früher mit seinem Vater befreundet gewesen war, hatte nach dem gestrigen Tag ohnehin allen Grund, wütend zu sein.

Dichter Nebel hing über der Altstadt und dem Fluss. Träge und fahl zog der Morgen herauf. Dafür ließ der Regen endlich nach, und Wolf verlangsamte seine Schritte. Die Prachtstraße erschien ihm verlassener, je weiter er in den vertrauten Stadtteil vordrang, obwohl sich wie immer das allmorgendliche Leben in Ost-Tanár zu regen begann. Wolf schob den merkwürdigen Eindruck auf das Wetter und die sich im Nebel rascher verlierenden Gerüche.

Als er in den Sumpfweg einbog, schienen die meisten Bewohner bereits zur Arbeit unterwegs zu sein. Der dumpfe Ruf einer Unke drang an seine Ohren, und wieder beschlich ihn das bedrückende Gefühl der Verlassenheit. Sein Nackenfell stellte sich auf. Dass etwas nicht stimmte, wusste er nicht erst, als seine Hütte in Sicht kam.

Die Tür war eingetreten worden und lag im Eingangsbereich auf der Erde. Dabei hatte er noch nicht einmal abgeschlossen. Den Rest des Weges legte er im Laufschritt zurück. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden übertroffen, als er die Verwüstung im Inneren der Hütte erblickte.

Sein Geschirr – hölzerne Becher und Teller, Tonkrüge und sogar die bemalte Karaffe aus Porzellan, die Lúpa ihm vor Jahren geschenkt hatte – lag in Scherben über den ganzen Boden verstreut. Wasserschläuche waren aufgeschlitzt worden, ihr Inhalt in den Ritzen der Bohlen versickert. Selbst Graubarts Wein und seine übrigen Nahrungsvorräte hatte man nicht verschont. Das Lager war schlicht nicht mehr da; stattdessen lagen Stroh und die Fetzen der zerschnittenen Säcke, wie auch seiner Kleider, in der ganzen Hütte herum. Die Feuerstelle war zerstört, den Kessel und seine Aufhängung fand Wolf verbeult in einer Ecke.

Doch am schrecklichsten traf ihn der Anblick des Spiegels. Er stand unversehrt in der Mitte des Raums, zwischen all den Trümmern. Mit dunkelroter Farbe, die an der Messingfläche teilweise heruntergelaufen war, hatten die Eindringlinge Worte darauf geschmiert.

Tod dem Streunerverräter. S.

Die Farbe, die seltsam metallisch und irgendwie vertraut roch, war auch zu Boden getropft. Auf allen vieren folgte Wolf schnüffelnd der Fleckenspur. Von der Türschwelle aus führte sie über den Holzsteg bis zur letzten Hütte Ost-Tanárs.

Von Graubarts Behausung wehte ein durch und durch falscher Geruch herüber. Ein leichter Wind ließ seine angelehnte Tür unheimlich in den Angeln quietschen. Die Spur führte darauf zu. Langsam wurde Wolf klar, was da auf dem Boden und an seinem Spiegel klebte.

Graubarts Blut.

Er hob einen Arm und drückte gegen die Tür, bis das morgendliche Zwielicht in die Hütte fiel. Graubart lag in einer Lache halb angetrockneten Blutes. Mit einem Speer war er an den Holzboden seiner Hütte genagelt worden. Seine Augen waren weit aufgerissen, die Beine seltsam verkrümmt. Im Todeskampf hatten seine Finger den Schaft des Speers, der ihm aus der Brust ragte, hilflos umklammert. Wie zum Hohn baumelte vom oberen Ende der Waffe eine weiße Feder.

Der betäubende Gestank des Todes raubte Wolf schier den Atem. Mühsam unterdrückte er einen wütenden Schrei, riss die Feder von dem Speerschaft und stürzte aus der Hütte. Gegen die aufsteigende Übelkeit ankämpfend, taumelte er den Sumpfweg entlang und zurück in Richtung Prachtstraße.

Es gab keinen Zweifel. Die Verschwörer wussten von ihm. Der Schnitter wusste, dass Wolf seine Pläne kannte, und trachtete ihm nach dem Leben. Aber wie war das möglich? Wolf hatte außer General Várun niemandem etwas davon erzählt!

Doch halt …

Ein Bild kam ihm wieder in den Sinn … eine schwarzvermummte Gestalt an der Palastmauer. Was wusste er sonst noch? Hastig verfolgte Wolf die Ereignisse in seinem Gedächtnis bis zu dem Punkt zurück, als er bei Lúpa aufgewacht war, und noch weiter. Er blieb stehen.

Da gab es einen, der ihn beschwatzt und ihm Branntwein aufgenötigt hatte. Irgendwann war Wolf aufgestanden, hatte selbst den Mund geöffnet … und etwas gesagt. Was, wusste er nicht mehr.

Wolf fühlte, wie sich seine Lefzen hoben und das Fell entlang seiner Wirbelsäule sich zu einem stracken Kamm aufstellte, während ein Gefühl kalten Abscheus und flammender Wut zugleich in ihm auf wallte.

Ja, es gab einen, der ihn ausgehorcht und sein Wissen weitergegeben haben musste, einen, der die Schuld trug an der Zerstörung seines Zuhauses und an dem Mord an Graubart, weil er für den Schnitter arbeitete … und sein Name lautete Rikkulin!

Fantasy Collection III

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