Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 23

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Doppeltes Spiel

»Bist du des Wahnsinns, Albenhexe?«, herrschte Zilber Lacríma an. Sie stand mit dem Rücken zur Wand der Burgkammer, in der die beiden neuen Hauptleute Augenblicke zuvor vereidigt worden waren. Er stand unmittelbar vor ihr, rasend vor Zorn. Seine Lefzen bebten, seine Ohren waren kampfbereit abgeknickt und seine Hände zu Fäusten geballt.

»Verzeih mir«, sagte sie leise, ohne allerdings weiter zurückzuweichen oder den Blick von Zilbers furchterregendem Gesicht abzuwenden. »Ich musste bei Nachtschatten ein bisschen nachhelfen. Sonst hätte er euch niemals so schnell …«

»Woher weißt du, wer ich bin? Red schon!« Die letzten Worte brüllte Zilber, so dass Lacríma zusammen zuckte.

»Ich war zuletzt vor sechs Jahren in Orilac«, erwiderte sie mit gesenkter Stimme. »Es war unmöglich, nicht von dir zu hören. Die Leute erzählten sich an jeder Straßenecke Geschichten über dich, den Ersten, der auf Anhieb Meister der Kampfstreunergilde wurde … und den Ersten, der als Meister die Regeln verletzt hatte und deshalb für immer aus der Gilde verstoßen wurde.«

»Und alles danach?«, blaffte Zilber wütend. »Erfolgreich über mich ausspioniert, oder wie?«

»Ich habe mich bei Freunden in Orilac erkundigt. Wir Elben haben ausgezeichnete Kommunikationswege«, behauptete Lacríma mit einem schütteren Lächeln. »Aber die sind geheim. Natürlich hätte ich auch über eine Brieftaube erfahren können, was ich wissen musste.«

»Wir Elben«, knurrte Zilber. »Du bist ja gar keine Elbin. Du bist eine Unge…«

»Das reicht, Zilber!«, ging Wolf dazwischen. »Schließlich sind wir dank Lacríma gerade eben zu Hauptleuten ernannt worden. Darüber sollten wir froh sein!«

Zilber wandte den Kopf und warf ihm einen verächtlichen Blick zu. Dann drehte er sich um und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.

Einen Augenblick lang standen sich die beiden allein gegenüber und lauschten dem Atem des jeweils anderen. Dann, wie auf Kommando, umschlangen sie sich, als hätten sie sich jahrelang nicht gesehen.

»Danke, dass ihr gekommen seid, du und deine Freunde«, flüsterte Lacríma. »Ich kann ohne dich nicht mehr sein. Ich wäre zerbrochen, allein da draußen, ohne dich …«

Wolf löste sich von ihr, ließ die Hände auf ihren Schultern liegen und betrachtete sie lange. Ihre Worte kamen aus tiefstem Herzen, daran zweifelte er nicht. Doch war sie sich bewusst, was ihre Verbindung zu ihm bedeutete?

»Dein Volk«, begann er leise eine Frage, »werden sie dich dafür nicht …« Er brach ab, da vor der Tür Schritte zu hören waren. Lacríma schaute sich um.

Ein hochgewachsener bewaffneter Mensch betrat die Kammer. Sein Gesicht bedeckte ein dichter brauner Vollbart; der Blick aus seinen dunklen, fast schwarzen Augen wirkte neugierig und merkwürdig kühl zugleich. Als er die beiden bemerkte, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen, aber nicht unfreundlichen Grinsen. Er ging an einen der Rüstungsschränke, öffnete ihn und legte etwas hinein. Während er wieder zur Tür ging, nickte er Wolf kurz zu und verließ dann den Raum. Das hallende Geräusch seiner Schritte wurde leiser und verklang. »Hauptmann Namenlos«, flüsterte Lacríma erklärend. »Es heißt, er habe bereits im Fünfjährigen Krieg gekämpft und großen Ruhm erlangt. Niemand weiß, wie er heißt und wo er herkommt. Er kämpft gegen alles und jeden, wenn er nur gut genug dafür bezahlt wird. Was wolltest du mich gerade fragen?«

»Hab ich vergessen«, log Wolf. Tatsächlich beschäftigte ihn längst etwas anderes – die Erscheinung des Hauptmanns. Fast glaubte er bei dessen Anblick und bei der Duftnote, die seine Nase im Vorbeigehen aufgeschnappt hatte, eine alte Vertrautheit gespürt zu haben.

War er ihm womöglich schon einmal begegnet? So sehr er sein Gedächtnis anstrengte – Wolf konnte sich nicht erinnern. Bestimmt täuschte er sich.

Die neu formierte Truppe verließ Téan Hu drei Tage später zu Sonnenaufgang. Die Bevölkerung säumte die Straßen, klatschte und lachte und rief dem langen Heereszug, der sich dem westlichen Stadttor entgegenwälzte, ermutigende Parolen zu.

Manche der Frauen und Kinder warfen Blumen und gewundene Kränze auf das Pflaster. An der Spitze ritt General Nachtschatten, gefolgt von den beiden Elitestaffeln und einem Teil der Garde. Danach kam die Brigade der elbischen Bogenschützen, angeführt von Lacríma und einer Elbin namens Syrfil Silberdistel. Dann erst folgte der Hauptteil der Armee: die acht Staffeln der Berufssoldaten, danach vier Streuner – und zuletzt ein gutes Dutzend Menschenbrigaden – alles in allem ein über dreitausend Kämpfer umfassendes Heer, davon ein Zehntel berittene menschliche Krieger.

General Nachtschatten war nicht so dumm gewesen, mit der gesamten Streitmacht aus Téan Hu auszurücken. Ein Gutteil der angeworbenen Soldaten, zwei Drittel der Garde und die gesamte Palastwache hatten in der Stadt verbleiben müssen, um sie im Falle eines Überraschungsangriffs verteidigen zu können.

Als er das Stadttor erreichte, wandte sich der General im Sattel um und gab Hauptmann Shároŋhi mit der Hand das verabredete Zeichen. Sofort erklangen die Hörner der Gardisten, die den Heereszug auf der Reise mit ihrem tiefen, hohl klingenden Signal zusammenhalten würden. Zur Antwort erscholl vom Palastberg eine lange, prächtig anzuhörende Fanfare.

Für Wolf war dies der endgültige Abschied von Téan Hu, das wusste er. Der Ausgang dieses Krieges war ungewiss. Selbst wenn er ihn überlebte, gab es nichts, was ihn danach zurück in die Stadt des Westens ziehen würde. Denn Lacríma war bei ihm, kämpfte an seiner Seite in diesem Heer. Mit ihr würde er nach der Schlacht den Schnitter jagen. Und sobald alles vorbei war, würde er ganz allein mit ihr die Ewige Wanderung antreten. Mochten die Elben in ihren steinernen Villen leben; ihm und Lacríma stand ein Dasein als Nomaden besser zu Gesicht.

Als Hauptmann der Staffel Basalt Zwei hatte er jedoch zunächst gewisse Pflichten zu erfüllen. Nicht nur, dass er immerhin zehn Dutzend äußerst entschlossene, kampferprobte Streunersoldaten anführte, sondern seiner Staffel war auch eine der wichtigsten Aufgaben in der Schlachtordnung zugewiesen worden. General Nachtschatten hatte seine Taktik die »Zange« genannt, und Wolfs Staffel musste im entscheidenden Moment zupacken. Von seinen Befehlen hing vielleicht der Ausgang der Schlacht ab.

Bei diesem Gedanken konnte er sich eines Gefühls erhebenden Stolzes nicht erwehren. Endlich folgte er seiner wahren Berufung. Er war Soldat von hohem Rang, und die Verantwortung für eine ganze Truppeneinheit sowie das vorbehaltlose Vertrauen des Generals ruhten auf ihm.

Nur eine Sache bereitete ihm Unbehagen – die Ahnung, dass der Schnitter und seine Untergebenen Teil dieses Heeres waren, ihn ständig beobachteten und womöglich nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, um ihn auszuschalten. Vermutlich würden sie es nicht wagen, ihn unter den Augen seiner Soldaten anzugreifen. Im Getümmel der Schlacht dagegen würde er sich nicht nur vor den eigentlichen Feinden in Acht nehmen müssen. »Keine Müdigkeit vorschützen!«, rief er seiner Staffel zu. Noch brauchten seine Soldaten kaum Ansporn dieser Art. Zilber als Anführer der Brigade Mond, der auch Falbe zugeteilt worden war, hatte es da bestimmt schwerer. Viele Mitglieder dieser Einheit hatten lange nicht mehr gekämpft, geschweige denn einen so langen Marsch auf sich genommen, wie er ihnen bis Hylándia bevorstand.

Dafür hatte Zilber leichter an sich zu tragen. Wolf musste grinsen, wenn er daran dachte, wie er sich unter Berufung auf seine Ehre als Kampfstreuner strikt geweigert hatte, eine Rüstung oder gar Stiefel anzulegen. Zilber hatte sich von den Waffenknechten lediglich zu einem Speer und einem Lederhelm überreden lassen.

Wolf dagegen verließ sich nicht bloß auf seine kämpferischen Fähigkeiten. Wie seine Soldaten trug er eine spezielle Streunerrüstung, die aus einem Brustpanzer, Arm- und Beinschienen sowie einem Eisenhelm und Lederschuhen bestand und ihn sowohl beim aufrechten Gang wie auch beim vierbeinigen Lauf nicht behinderte. Noch belastete ihn das zusätzliche Gewicht nicht – was vielleicht auch seinen Knappen zu verdanken war, die sich mit seinen Wasser- und Nahrungsrationen, dem Hauptmannszelt sowie einigen Ersatzwaffen abzuschleppen hatten.

Den ganzen Tag über folgten sie der Straße, die Téan Hu mit Hylándia verband. Eine Stunde vor Einbruch der Dämmerung wies General Nachtschatten das Heer an, sich auf einer flachen Heide in der Nähe eines kleinen Dorfes niederzulassen. Jeder Einzelne musste mit anpacken. Die gewöhnlichen Soldaten breiteten ihre Strohmatten und wollenen Decken unter freiem Himmel aus. Je fünf von ihnen teilten sich ein Lagerfeuer, wofür sie eigenhändig Reisig und trockenes Heidekraut sammeln mussten. Die Hauptleute hatten es bequemer, da ihre Knappen für sie mannshohe runde Stoffzelte aufspannten und sich auch um ein wärmendes Feuer kümmerten.

So entstand in Windeseile neben dem Dorf mit seinen schläfrig rauchenden Schornsteinen eine belebte Zeltstadt. Waffen und Zinngeschirre klapperten, Pferde wieherten, Soldaten fluchten. Ein paar Dorfkinder kamen neugierig angelaufen, um dem ungewohnten Treiben zuzuschauen.

Wolf war trotz des Einsatzes der beiden Knappen, die sich geschäftig um sein Wohlergehen bemühten, unzufrieden. Er dachte an Lacríma. Sie befand sich mit ihrer Elbenstaffel genau am anderen Ende des riesigen Lagers. So rasch würde er wohl nicht mit ihr zusammentreffen, zumal General Nachtschatten noch vor dem Abendessen einen Rapport erwartete. Neben Wolfs eigener Staffel lagerte der Rest der Brigade Basalt. Die gewöhnlichen Streunerbrigaden waren um einiges weiter entfernt, und erst jenseits davon befanden sich die Einheiten der Menschen und Elben.

Er beschloss, wenigstens nach seinen Freunden zu schauen, und entließ die beiden Knappen, die nach Beendigung ihrer Aufgaben leise tuschelnd in seiner Nähe herumstanden. Dann machte er sich auf den Weg durch die Reihen der Feldlager, grüßte seine Hauptmannskollegen Rappe und Fuchs auf dem Weg und fragte sich zur Streunerbrigade Mond durch.

Zilbers Knappen waren noch mit dem Aufbau seines Zeltes beschäftigt. Der Hauptmann sei ins Dorf gegangen, sagten sie, um dort etwas zu erledigen. Wolf dankte ihnen und ließ den Blick über die Brigade schweifen, soweit es ihm möglich war.

Er erhoffte sich, irgendwo Falbe zu entdecken, doch seine Suche blieb ohne Erfolg.

Dann eben ins Dorf, dachte er kurzentschlossen. Was konnte Zilber dort wollen? Wolf hielt es für das Wahrscheinlichste, dass er in irgendeiner Kneipe saß und seinen Lieblingstrunk in sich hineinschüttete. Oder es verlangte ihn nach etwas Deftigem zu essen. Vielleicht war ihr Proviant aus Pökelfleisch und Trockenfladen einem leidenschaftlichen Jäger wie ihm zuwider.

Im Dorf wurde Wolf neugierig beäugt. Er hielt sich nicht lange auf, sondern schritt auf den erstbesten Bewohner zu, einen alten Mann mit zerfurchtem Gesicht und hölzernen Krücken, der, in eine graue Wolldecke gehüllt, auf einer Bank vor seiner Hütte saß.

»Habt ihr einen wie mich gesehen? Mit weißem Fell?«, fragte er ihn.

»Krieg?«, fragte der Mann anstatt einer Antwort.

»Ja.«

»Wo?«

»Im Süden.«

»Wann?«

»Sobald wir dort sind.«

Der Mann seufzte tief.

Wolf wurde ungeduldig. »Also?«

»Er ist in die Nachrichtenstation, da drüben«, sagte der Mann und wies mit zittriger Hand auf ein Häuschen schräg gegenüber. »Nachrichtenstation?«

»Da gibt′s Brieftauben.«

Seit wann interessiert sich Zilber für so was?, dachte Wolf verwundert.

Er hatte die Hütte noch kaum erreicht, da flatterte von ihrem Giebel aus eine weiße Taube mit klatschenden Flügeln in den Himmel und verschwand nördlich des Dorfes.

Die Tür der Nachrichtenstation öffnete sich, und Zilber trat heraus.

»Der Osten wird es Euch danken!«, rief er über die Schulter in die Stube hinein, wandte den Kopf – und erblickte Wolf.

Eindeutig fühlte er sich ertappt. Ein Ausdruck der Wut huschte über seine Züge, der jedoch sofort einer kalten Gleichgültigkeit mit einem Anflug von Misstrauen wich. Diese Miene hatte Wolf zuletzt während ihres Kennenlernens in Tanár bei ihm gesehen.

»Was machst du denn hier?«, wollte Zilber ohne Umschweife wissen.

Wolf dachte nicht daran, jetzt noch freundlich zu ihm zu sein. »Hast du jemandem geschrieben?«

»Meine Sache«, entgegnete Zilber prompt.

»Mir kannst du′s doch sagen.« In erster Linie war Wolf

verwundert, doch seine Stimme hörte sich selbst in seinen eigenen Ohren vorwurfsvoll an.

»Ich will aber nicht. Und jetzt verzieh dich!«

»Du hast mir nichts zu befehlen«, sagte Wolf heiser. »Rück lieber endlich damit raus, wem du geschrieben hast!«

»Wem habe ich da wohl geschrieben?«, blaffte Zilber.

»Vielleicht dem König von Hylándia, um ihn vor unserer Ankunft zu warnen! Oder sogar dem Schnitter persönlich! Hältst du mich etwa für einen Verräter?«

»Hätte ich Grund dazu?«, konterte Wolf und spannte alle Muskeln an. »Getroffene Hunde bellen!«

Im nächsten Augenblick wälzten er und Zilber sich boxend und beißend im Straßenstaub. Wolf landete einen Treffer oberhalb von Zilbers rechtem Auge, dafür gelang es diesem, ihm das Knie in die ungeschützte Flanke zu rammen, den Arm schmerzhaft auf den Rücken zu drehen und nur Sekundenbruchteile später seine scharfen Reißzähne um die Kehle zu legen.

Er biss nicht zu, sondern hob den Kopf ein wenig, um Wolf ins Auge sehen zu können.

»Wie hast du mich genannt?«

»Du hast mich gut verstanden«, stieß Wolf hervor. »Und ich nehme nichts zurück.«

»Brauchst du auch nicht.« Zilber grinste. »Wer sich mir im Zweikampf unterwirft, hat vor mir nichts zu befürchten.« Er ließ Wolf los, und sie rappelten sich auf.

»Schwätzer«, knurrte Wolf erbost, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf demselben Weg zurück, den er hergekommen war.

Als er nach dem Rapport bei General Nachtschatten zu seinem Zelt zurückkehrte, war es längst dunkel geworden. Wegen der unerfreulichen Begegnung mit Zilber, insbesondere aber weil ihm Lacríma den ganzen Abend über nicht begegnet war, hatte Wolf äußerst schlechte Lau ne.

»Káhi! Túhi!«, bellte er, noch bevor er seine Waffen abgelegt hatte. »Ich hab Hunger! Wo seid ihr, wenn man euch braucht?« Die beiden Jungen spielten in der Nähe des Zeltes mit Würfeln. Sie stoben auseinander, als sie ihn heranstiefeln sahen. Wolf baute sich vor Túhi auf und musterte ihn streng.

»Würfel?« Ehrgeiz flackerte in ihm auf. »Gib her.«

Der Knappe streckte die Hand aus und reichte sie Wolf schuldbewusst und ohne aufzusehen.

»Jetzt zeig ich euch mal, wie das geht«, sagte er und zwinkerte den beiden freundschaftlich zu.

Zehn Partien Sieben Könige später hatte Wolf noch keine einzige gewonnen, und eine weitere Stunde später musste er sich eingestehen, dass Túhi ihn vernichtend geschlagen hatte. Außerdem machte sich sein Magen mittlerweile mit lautem Knurren bemerkbar.

»Ich hab Hunger!«, blaffte er wütend und schleuderte die Würfel von sich. »Bringt mir endlich was zu essen!«

Káhi und Túhi entfernten sich hastig. Als er sich wenig später an rauchigem Fleisch und Trockenfladen gütlich tat, fragte er sich, ob seine Knappen ihre Arbeit wohl gern verrichteten, noch dazu für einen Streuner. Sie murrten nicht und behandelten ihn mit dem gebührenden Respekt. Vermutlich waren sie es gewohnt, herumgescheucht zu werden.

Die Nacht verlief ruhig, doch Wolf wälzte sich von einer Seite auf die andere, ohne für längere Zeit die Augen schließen zu können. In Tanár wäre er in einer solchen Nacht zu Lúpa gegangen.

Zu Lacríma gehen.

Jetzt gleich.

Warum eigentlich nicht!

Leise, um seine draußen schlafenden Knappen nicht zu wecken, kroch er aus dem Zelt und machte sich auf den Weg. Die Pfade zwischen den Lagern waren schmal; auf allen vieren konnte er das Gleichgewicht besser halten und kam schneller voran. Es war dunkel, da der Mond noch nicht aufgegangen war, doch er kannte die ungefähre Richtung. Wann immer er in der Nähe Stimmen hörte oder ein Feuer noch hell loderte, machte er einen Bogen um die Stelle. Es musste ja niemand wissen, dass es den Streunerhauptmann aus Tanár wie magisch zu einer der elbischen Anführerinnen zog.

Wie alle anderen Einheiten am Rand des Heerlagers hatten auch die Bogenschützen an der Lagergrenze Wachen auf gestellt. Da Wolf sich ihnen von innerhalb des Lagers näherte, konnten sie ihn nicht bemerken. Er atmete auf. Die Gerüche im Elbenviertel dieser regelrechten Stadt waren lauer als da, wo Menschen oder Streuner logierten. Seine feine Nase hatte es allerdings umso schwerer, Lacríma zu wittern. Eine Weile irrte er ziellos zwischen den Lagerstätten umher, bis ihm endlich, mehr durch Zufall, die vertraute Note in die Nase wehte. Er folgte ihrer Spur – und wäre beinahe direkt in die Seitenwand von Lacrímas Zelt gelaufen, das in der Dunkelheit so gut wie nicht zu sehen gewesen war. Lediglich am unteren Rand des leichten grauen Stoffes bemerkte er einen schwachen Lichtschein. Anscheinend war sie noch wach.

Ohne sich vorher bemerkbar zu machen, öffnete er den Eingang und schlüpfte hinein. Lacríma lag unter einer grünen Seidendecke, den Kopf auf einen Ellbogen gestützt. Sie schien eine Art Landkarte zu studieren.

»Hauptmann, ich …«, begann sie, kaum dass er eingetreten war.

»Wolf!«, entfuhr es ihr jedoch, als sie ihn erkannte. Sie errötete leicht, schob ihr Pergament beiseite und musterte ihn aus dem Augenwinkel. »Ich hab mich schon gefragt, ob du wohl genug von mir hast.«

»Und du von mir?«, sagte er ruhig und machte keine Anstalten, sich ihr weiter zu nähern. »Offensichtlich hast du jemand anderen erwartet.«

»Niemals«, erwiderte sie und zog mit einem gewinnenden Lächeln die Decke fort.

Ihr Anblick verschlug ihm den Atem. Und ließ den Funken des Zweifels verglühen.

»Wolf? … Wolf?«

Der Schlaf wollte endlich über ihn kommen, schwer und süß. Warum hinderte sie ihn daran, ihm nachzugeben?

»Wolf? Darf ich dich was fragen?« Sie zauste ihm liebevoll das Nackenfell.

»Hm?«

»Hast du Zilberpardel heute gesprochen?«

Es schien ihm die Mühe nicht wert zu antworten.

»Geht es ihm gut?«

»Er ist in seinem Element«, brummte Wolf verschlafen.

Lacríma lachte leise. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Außerdem war er im Dorf.« Wolf seufzte. Jetzt war er sowieso wieder wach. Er drehte sich auf den Rücken und ließ sich weiter von ihr kraulen.

»Ach?«, sagte sie sanft.

»Er hat eine Brieftaube los geschickt.«

Für einen Wimpernschlag schien Lacríma irritiert. Ihre Hand hielt in der Bewegung inne.

»Dein Fell ist weicher als noch vor ein paar Tagen«, bemerkte sie. »Der Winterpelz sprießt.« Sie fuhr fort, ihn mit den Fingern zu bearbeiten.

»Ist das nicht seltsam? Und ich dachte, er könnte gar nicht schreiben.«

»Dann kennst du ihn wohl doch nicht so gut …«, begann Lacríma, brach ab und verbesserte sich nach einem verhaltenen Seufzer: »Ich meine, ist es nicht schade, dass er dir immer noch so viel von sich verheimlicht?«

»Kann mir doch egal sein«, erwiderte Wolf. »Er weiß ja auch nicht alles über mich.«

»Meine Leute vermuten, dass er Verbindungen zur königlichen Familie von Orilac hat«, sagte Lacríma nach einer Pause ernst und sehr leise.

»Zilber?« Wolf schnaubte verächtlich. »Der doch nicht. Deine Leute kommen schon auf verrückte Gedanken. Was machen sie jetzt überhaupt?«

»Sie schlafen da draußen«, sagte Lacríma mit mildem Lächeln. Abrupt setzte Wolf sich aufrecht hin. »Das da draußen – das sind deine Leute? Die Elben?«

»Was dachtest du denn? Dass der Schnitter nach Süden geht und dort Unheil stiftet, ohne dass wir gewappnet sind? Du und deine Freunde, ihr seid tapfere Kerle. Aber glaubst du im Ernst, wir vier könnten dem Schnitter und seinen Dienern ganz allein die Stirn bieten?«

»Seine Diener …«

»… sind ebenfalls Teil dieses Heeres«, vollendete sie seinen Satz. »Einigen bin ich schon begegnet. Sie kennen mich natürlich nur vermummt, deshalb droht uns keine Gefahr. Aber Zilber, Falbe und du, ihr müsst euch vorsehen.«

»Tun wir ja«, meinte Wolf leichthin.

»Ich wünschte, Balderdachs wäre noch am Leben«, sagte Lacríma nach einer Pause traurig. »Dann hätte ich weniger Angst um euch.«

»Wieso das?«

»Na, weil er ein Zauberer war. Und er hatte doch bestimmt noch mehr verborgene Fähigkeiten, oder?« Lacrímas Tonfall hatte einen merkwürdig bittenden Klang.

»Weiß ich nicht«, versuchte Wolf abzuwiegeln.

»Kann Zilber es dir nicht sagen?«, flehte sie. »Er weiß es doch bestimmt. Er kannte ihn.«

»Zilber, Zilber, immer nur Zilber!« Wolf ging das Gespräch allmählich auf die Nerven. »Was interessierst du dich so sehr für die beiden? Balder ist tot, Schluss, aus. Von Zilber habe ich die Schnauze fürs Erste voll.«

Lacríma streckte sich. Ein zorniger Funke glomm in ihren Augen.

»Von mir auch?«

Er brauchte ihr nicht mit Worten Antwort zu geben.

Nacht für Nacht verbrachte er bei ihr, während der Heereszug wie ein riesiger vielgliedriger Wurm langsam, aber unaufhaltsam in Richtung Hylándia dahinkroch. Stets machte Wolf sich rechtzeitig auf den Rückweg zu seinem eigenen Zelt, um vor dem Weckruf der Hörner noch ein wenig dösen zu können. Lacríma sprach ihn noch ein paarmal auf Balderdachs an – oder besser, sie ließ keine Gelegenheit aus, das Thema auf ihn, Zilber und dessen unergründliche Vergangenheit zu lenken. Bis es Wolf irgendwann zu bunt wurde. Als sie wieder einmal davon anfing, riss er sich von ihr los und verließ das Zelt, ohne ein Wort zu sagen oder sie noch einmal anzusehen. Während er sich entfernte, konnte er sie leise schluchzen hören.

In den folgenden beiden Nächten blieb Wolf in seinem eigenen Zelt. Mochte Lacríma eine Weile schmoren; irgendwann würde sie ihn bestimmt vermissen. Andererseits … wer konnte ahnen, wen sie außer ihm sonst noch zu nächtlichen Besuchen empfing? Schließlich hatte sie ihn bei seinem ersten unerwarteten Auftauchen mit jemand anderem verwechselt.

Die Ungewissheit ließ ihm keine Ruhe. In der dritten Nacht machte er sich wieder auf den Weg. Ihn hungerte nach Lacrímas Körper, nach dem Duft ihres Atems und der Wärme ihrer Haut. Als er sich ihrem Zelt bis auf wenige Schritte genähert hatte, stutzte er. Leise, aber für ihn deutlich vernehmbare Stimmen drangen durch die dünnen Stoffwände nach außen.

»… bald so weit«, sagte Lacríma. »Wir … nicht …«

So lautlos er konnte, pirschte sich Wolf noch näher an das Zelt heran, kauerte sich hin und lauschte.

»Curúcor erwartet uns in Hylándia«, hörte er die Stimme eines Mannes sagen. »Wenn dir bis dahin nichts Besseres eingefallen ist – und mir auch nicht –, wird er sich der Sache annehmen.« Natürlich kannte Wolf die Stimme von den Rapports im Zelt des Generals. Zorn wallte in ihm auf. Es wunderte ihn nicht, dass Lacríma ab und zu einen Menschen oder Elben brauchte, der mit ihr das Lager teilte – einen von ihrer Art jedenfalls, ohne Reißzähne und ohne Fell. Aber musste dieser eine ausgerechnet Namenlos sein?

»Du kennst seine Methoden«, fuhr der Hauptmann fort. »Er wird das Problem schnell und gründlich lösen.«

»Weiß ich!«, entgegnete Lacríma. Ihr Tonfall war scharf, fast schneidend.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte Namenlos leise. »Du verliebst dich – noch dazu in einen Streuner. Hast du vergessen, was auf dem Spiel steht? Ist dir klar, dass jede Art solcher Empfindung unseren Sieg verhindern und uns alle ins Verderben stürzen kann?«

Lacríma antwortete nicht.

»Wir werden deinen Fehltritt teuer bezahlen müssen, falls deinetwegen etwas schiefgeht. Du und Hauptmann Wolf, ihr würdet am bittersten büßen müssen. Willst du das?«

Wolf wunderte sich. Konnte der Grund für den Besuch des Namenlosen doch ein anderer sein, als er vermutet hatte?

Befürchteten die beiden etwa, dass ihre vertraulichen Gespräche tagsüber eher belauscht wurden?

»Ich weiß meine Gefühle von meinen Aufgaben zu trennen«, sagte Lacríma kühl. »Du selbst hast nach den grauenvollen Fehlern, die uns in Téan Hu unterlaufen sind, eine Änderung der Pläne vorgeschlagen. Jetzt lass mich den neuen Plan auch durchziehen!«

» Deine Fehler«, wies Namenlos sie zurecht, ohne die Stimme zu erheben. »Nicht unsere. Allein deinetwegen ist in Téan Hu alles schiefgegangen. Du hast versagt, als du …«

»Was bedeutet das jetzt schon noch!«, rief Lacríma leise. Nun zitterte ihre Stimme ein wenig. »Dafür habe ich Wolf für uns gewinnen können, vergiss das nicht!«

»Für uns«, wiederholte Namenlos, und Wolf vermochte anhand seines Tonfalls nicht zu bestimmen, ob der Hauptmann darüber froh war oder womöglich Eifersucht empfand.

»Jetzt lass mich allein«, verlangte Lacríma. »Ich erwarte ihn. Er kann jeden Moment hier sein.«

Wolf hörte Namenlos zum Ausgang treten. Der Stoff wurde zurückgeschlagen, und der Hauptmann, bewaffnet und in voller Rüstung, kam aus dem Zelt. Raschen Schrittes ging er in Richtung seiner Einheit davon.

Eine Weile verharrte Wolf reglos hingekauert und versuchte zu begreifen, was er eben gehört hatte. Wer war Curúcor? Und was hatte der Namenlose mit Lacríma und ihren elbischen Kriegern zu schaffen? Ihm wollte keine vernünftige Erklärung für die nächtliche Auseinandersetzung einfallen. Schließlich erhob er sich auf alle viere und schlich sich zu seinem eigenen Zelt zurück.

»Ich hab′s satt!«, Zilber rümpfte angeekelt die Nase.

»So übel ist es doch gar nicht«, meinte Falbe.

»Man gewöhnt sich an alles«, brummte Wolf und kaute weiter.

»Die Soldaten von Tanár bekommen auch nichts Besseres zu essen. Kann mich noch genau erinnern.«

»Stimmt, du warst ja mal beim Militär, genau wie ich.«

»Sei nicht so vorlaut, Falbe. Im Gegensatz zu dir wurde ich immerhin Obergefreiter.«

»Warum bist du nicht dabei geblieben?«, fragte Zilber und schleuderte seinen angebissenen Trockenfladen auf die Erde.

Wolf spürte, wie sich seine Kehle zuzog. Das war ein Thema, an das er gar nicht gerne erinnert wurde.

»Ich … hab mich eben umentschieden«, erwiderte er, verschluckte sich an seinem Bissen und hustete lautstark.

»Einfach so?«

»Es gab schon triftige Gründe.«

»Ich weiß. Die wollen wir ja hören.« Zilber grinste. »Als Soldat hättest du viel erreichen können. Du hättest eine sichere Unterkunft, regelmäßige Rationen, immer Geld für Bier in den Taschen und außerdem die Gewissheit gehabt, etwas zum Wohl deines Landes beizutragen. Wieso wurde also plötzlich ein Tischler aus dir?«

Wolf räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. Er hasste es, diese alte Geschichte aufzuwärmen. Er hasste die Erinnerung an den Tag, als er der sanften, aber beharrlichen Stimme endlich Folge geleistet und seine Waffen im Burghof zurückgegeben hatte.

Lúpas Stimme.

Sie hatte seit jeher Angst um ihn gehabt, immer gefürchtet, er könnte bei den Übungen verletzt oder getötet oder irgendwann in den Dienst fern der Heimat abberufen werden. Unzählige Male hatte sie ihn beschworen, er möge das Schwert niederlegen und etwas weniger Gefährliches mit seinem Leben anfangen, ihr zuliebe. Deshalb hatte er eines Tages nachgegeben: aus Liebe.

Und war bei einem Schreiner und Zimmerer in die Lehre gegangen. All die Jahre hätte er niemals guten Gewissens leugnen können, dass ihn die Arbeit mit Holz mindestens ebenso erfüllte wie der stramme Dienst in der Armee.

»Mein Mädchen fand, dass es besser wäre«, gab er zur Antwort. »Und sie hatte Recht«, fügte er hinzu, da Zilber ihn mit offenem Rachen anstarrte.

»Wie bitte?«

»Lúpa wollte, dass ich den Dienst quittiere. Sie wollte mich nicht verlieren.«

»Du hast das Aufregendste, was unsereiner arbeiten kann, einfach aufgegeben – wegen eines Mädchens?«

»Nicht wegen irgendeines«, knurrte Wolf, der langsam die Wut in sich aufsteigen fühlte. »Außerdem habe ich es mir lange genug überlegt.«

»Ich hätte es genauso gemacht!«, pflichtete ihm Falbe bei.

»Auf deine Solidarität kann ich verzichten«, brummte Wolf.

»Wenn ich schon eine gehabt hätte«, fuhr der Jungstreuner eifrig fort, »dann wäre ich bestimmt nicht in die Armee eingetreten.«

Verständnislos blickte Zilber vom einen zum anderen.

»Da sieht man es mal wieder«, stieß er hervor, »die Weiber bringen nichts als Ärger! Entweder sie versuchen, dir den Kopf zu verdrehen, oder sie wollen dir vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast. Aber nicht mit mir!«

»Tatsächlich?« Falbe musterte ihn neugierig. »Hat dir überhaupt schon mal eine den Kopf verdreht?«

»Sie hat es versucht. Ich war schneller und hab ihr vorher den Arm ausgerenkt.«

»Ich meinte doch …«

»Achtung, Kleiner.« Zilber deutete mit beiden Daumen auf sich selbst. »Gildenmitglied. Bei mir solltest du erst denken und dann reden. Oder lieber gleich die Klappe halten. Hab ich dir doch erst kürzlich empfohlen.«

Falbe setzte erneut zu einer Frage an, zog es dann aber vor zu schweigen.

Mit sichtlicher Befriedigung zertrat Zilber seinen Trockenfladen.

»Jetzt wirst du hungern müssen«, kommentierte Wolf unbeeindruckt.

»Wie sollte ich davon satt werden? Selbst Baumrinde ist saftiger als dieser Soldatenfraß. Nur was geatmet und Angst gehabt hat, schmeckt!« Zilber wandte sich ab.

»Wohin gehst du?«, rief ihm Falbe nach.

»Meinen Speer holen. Und dann in diesen Wald da. Wenn ich heute Abend kein ordentliches Stück Fleisch zwischen die Zähne kriege, fall ich während der nächsten Schlacht vom Stängel!« »So viel zum Thema Warum-essen-wir-nicht-mal-wieder-gemütlichzusammen«, sagte Falbe ironisch zu Wolf.

»Ein Versuch war′s wert«, antwortete dieser und zupfte sich ein paar Krümel aus dem Fell. »Kommst du noch mit zum General? Ich habe den Morgenrapport vergessen.«

Das Heer lagerte in der Nähe eines Waldrands. Seit Tagen war das Land flach wie ein Brett und nur selten von zusammenhängenden Baumgruppen bewachsen. Immerhin kam die Truppe rasch voran; laut General Nachtschatten hatten sie fast die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Über Hindernisse oder zu strammes Marschtempo konnten sich die Soldaten nicht beklagen. Allerdings würden sie bald das Herrschaftsgebiet des Südkönigs betreten – und spätestens ab diesem Zeitpunkt mussten sie mit einem Angriff rechnen. Niemand konnte wissen, ob man in der Hauptstadt Hylándia nicht schon längst über das anrückende Westheer Bescheid wusste und entlegene militärische Außenposten alarmiert hatte.

Drei Stunden nachdem Wolf von General Nachtschatten wegen seines Versäumnisses harsch gerügt worden war, kehrte Zilber ins Lager zurück. Eine ausgeweidete Hirschkuh hing ihm über den Schultern, und auch sein blutbeflecktes Fell zeugte von der erfolgreichen Jagd. Er warf den Kadaver vor Nachtschattens Zelt auf die Erde und befahl ein paar herumstehenden Hauptleuten, darunter Fleck, Mótuhi und Läufer, darauf aufzupassen.

»Holt diese Blechbüchse von einem General her«, verlangte er grinsend, »und zeigt ihm, was der Hauptmann der Brigade Mond Schönes für ihn hat. Heute Abend wird gefeiert!« An Wolf gewandt, fügte er hinzu: »Es gibt noch ein bisschen was zu tun. Hilf mir!«

»Wobei?«

»Eine Axt beschaffen und Holz holen. Schließlich brauchen wir einen Bratspieß. Sollte für dich als Zimmermann ja keine Sache sein, den zu bauen.«

Weitere zwei Stunden später – es dämmerte bereits – hatten sich rund um das Generalszelt fast sämtliche Hauptleute eingefunden und erfüllten beflissen ihre jeweiligen Aufgaben. Selbst General Nachtschatten trieb die Aussicht auf ein gebratenes Stück Wild zu reger Tätigkeit an. Fleck, Zilber, Wolf und er hievten die abgebalgte und auf eine lange Metallstange aufgespießte Hirschkuh auf das Gestell, das Wolf mit Hilfe von Mótuhi und Falbe errichtet hatte. Darunter prasselte ein riesiges Feuer. Schon bald stieg den Anwesenden ein verlockender Duft in die Nase.

Die Vorbereitungen für das Festmahl waren fast abgeschlossen. Der Abfall wurde weggekehrt. Zwei Hauptleute schleppten Matten zum Sitzen heran, andere wischten Teller und Becher sauber. Es herrschte beste Stimmung.

»Wie viele sind wir?«, fragte Hauptmann Fuchs.

»Ein Dutzend und zwei«, entgegnete Wolf.

»Nein, siebzehn.« Nachtschatten deutete auf drei Neuankömmlinge hinter ihm. »Wir wollen doch weder unseren namenlosen noch unsere beiden anmutigsten Kämpfer ausladen.« Irritiert wandte Wolf den Kopf. Hauptmann Namenlos näherte sich dem Feuer, flankiert von Lacríma auf der einen und der Elbin Syrfil Silberdistel auf der anderen Seite. Mit Letzterer hatte Wolf bislang noch kein einziges Wort gewechselt.

Er zählte nach: General Nachtschatten, je fünf Hauptleute der Staffeln Basalt und Ábanas, Hauptmann Shároŋhi von der Garde, die beiden Anführerinnen der elbischen Bogenschützen, Hauptmann Namenlos von der Menschenbrigade Syól, Zilber sowie – als einziger einfacher Soldat – Falbe; ja, das waren ein Dutzend und fünf.

Wolf würdigte Lacríma keines Blickes und begrüßte stattdessen Syrfil Silberdistel mit einem Nicken, vor der Brust verschränkten Armen und elegant aufgerichtetem Schwanz, dessen Spitze sich vorwitzig in Richtung der Elbin neigte. Diese bedachte seine Gesten mit wortlosem Lächeln, während Lacríma die Nase rümpfte.

»Ihr kommt spät«, wandte sich Nachtschatten an den Namenlosen. »Wir hätten Eure Hilfe gebrauchen können.«

»Ich fühle mich geehrt, dennoch in die Reihen der Feiernden aufgenommen zu sein«, erwiderte dieser mit einem kühlen Lächeln. »Und ebenso natürlich die beiden Elbentöchter, deren zarten Händen niemand in diesem Kreis harte Arbeit wird zumuten wollen.«

»Und auch keinen fetttriefenden Braten!«, brauste Zilber auf, während jeder außer ihm den Damen seine Aufwartung machte.

Der Namenlose musterte ihn schweigend. Das Lächeln lag wie gefroren auf seinen Lippen.

»Willkommen, alle miteinander«, erhob General Nachtschatten die Stimme, richtete seine Ohren zu voller Größe auf und verkündete: »Das Mahl ist eröffnet. Setzt Euch und lasst es Euch schmecken!«

Er wartete, bis alle außer ihm Platz genommen hatten, blickte dann in die Runde und ließ seinen zufriedenen Blick schließlich auf Zilber ruhen.

»Ihr seid nicht nur ein ungewöhnlich mutiger Kampfstreuner«, sagte er, »sondern auch ein tüchtiger Jäger. Ihr habt zum rechten Zeitpunkt die rechten Einfälle, und Ihr wisst meine Untergebenen, die Hauptleute der Eliteeinheiten von Téan Hu, in einem eigenen, privaten Feldzug, dessen Opfer hier vor uns über den Flammen brutzelt, hinter meinem Rücken zu befehligen.«

Zilber grinste. Vor Vergnügen peitschte sein Schwanz die Luft und diejenigen, die rechts und links von ihm saßen.

»Dafür sollte ich Euch vierteilen lassen und einen Speer mit Eurem Kopf darauf vor meinem Zelt in die Erde rammen«, fuhr Nachtschatten fort.

»Den Versuch könntest du schwer bereuen, Blechbüchse!« sagte Zilber, noch immer grinsend und schwanzwedelnd.

»Beim Großen Fang, von Versuchen kann keine Rede sein. Ihr seid ein verflucht trefflicher Kerl, Zilberpardel von Orilac, und bestimmt ein noch trefflicherer Hauptmann. Ich bin froh, dass Ihr in dieser Schlacht an meiner Seite kämpfen werdet.« Er griff nach seinem Becher.

Wolf bemerkte erst jetzt, dass jemand Bier in die Trinkgefäße gefüllt hatte.

»Auf Euch, Zilberpardel, und darauf, dass wir in Hylándia siegen werden!« General Nachtschatten hob den Becher, leerte ihn in einem Zug, und die versammelten Hauptleute taten es ihm gleich.

Der Abend verging wie im Flug. Wolf genoss den Braten, das Bier und die Gesellschaft der anderen, obwohl er sich mit Worten zurückhielt. Trotz aller unerwarteter Annehmlichkeiten musste er ständig daran denken, dass einer in dieser Runde vielleicht der Schnitter war, sich vorerst zu einer Art Waffenstillstand entschlossen hatte, Wolf jedoch nicht aus den Augen ließ. Der Gedanke bereitete ihm Unbehagen. Er widmete sich seinem Essen, lauschte den mitunter derben Gesprächen und nutzte seinerseits die Zeit, um unauffällig jeden einzelnen der ums Feuer Sitzenden zu beobachten.

General Nachtschatten – der Schnitter? Er wirkte stets kühl und beherrscht und hatte anscheinend nichts anderes im Kopf als diesen Feldzug und seine Ehre als Soldat. Ein Plan, wie ihn der Schnitter hegte, war ihm durchaus zuzutrauen.

Andererseits konnte er unmöglich den Westkönig ermordet haben. Ohne gesehen oder gar erkannt zu werden, hätte er niemals so schnell in den Palasthof gelangen können, ebenso wenig wie fast alle Hauptleute – von einem einzigen ihrer Kameraden abgesehen.

Wolf vertrat den Anführer der Staffel Basalt Zwei. Von den Soldaten hatte er nur erfahren, dass der Name seines Vorgängers Rabe lautete. Er war kurz nach Nachtschattens Aufruf verschwunden. Wo mochte er stecken?

Dann gab es da natürlich diesen Namenlosen, über den Wolf so gut wie nichts wusste, bis auf sein Alter: Der Fünfjährige Krieg, in dem er laut Lacríma gekämpft haben sollte, lag rund dreißig Jahre zurück, also musste er um die fünfzig sein. Der anfängliche Eindruck, ihn zu kennen, schien Wolf mittlerweile abwegig. Wahrscheinlich hatte ihn die Kühle, die Namenlos ausstrahlte, an Zilber erinnert. Außerdem konnten sich seiner Erfahrung nach die Duftnoten mancher Menschen, ja sogar die von seinesgleichen, mitunter ähneln. Der Bart tat ein Übriges. Für Wolf sahen alle Menschen mit Bart irgendwie gleich aus. Wenn der Namenlose nur ein Söldner war, warum verschwieg er dann seine Herkunft und seinen Namen?

Die beiden Frauen kamen als Verdächtige nicht in Frage.

Lacríma war mit ihm auf der Terrasse gewesen, als der Westkönig oben auf der Turmzinne erschlagen worden war.

Außerdem hatte sie sich mit ihm als Spionin in die Katakomben der Yoláner geschlichen. Sie arbeitete eindeutig gegen den Schnitter. Und Syrfil Silberdistel war eine Elbin.

Wolf überlegte. Konnte er Syrfil wirklich ausschließen? Sie war größer und mit Sicherheit auch kräftiger als Lacríma. Ihre Bewegungen waren von katzenhafter Geschmeidigkeit. Wenn sie sprach, ruhte ihr Blick unverwandt auf ihren Zuhörern, und ihre Stimme war aus der Ferne selbst für Streunerohren kaum zu vernehmen. Er ertappte sich bei dem Gedanken, wie sie wohl unter einem Kapuzenmantel aussehen mochte – und ganz ohne diesen.

Es blieben nur noch Falbe und Zilber übrig. Natürlich konnte Wolf keinen von beiden ernsthaft verdächtigen, schließlich hatten sie bislang ohne Rücksicht auf Verluste an seiner Seite gegen die Schergen des Schnitters gekämpft. Dass Zilber ihm den Empfänger der Brieftaubenbotschaft nicht hatte nennen wollen, gab allerdings zu denken. Was man per Brieftaube verschickte, eilte und war vertraulich. Doch Wolf war sicher, dass Zilber kein Verräter war. Bestimmt hatte er nur einen Liebesbrief aufgegeben.

»Eine Geschichte«, sagte Panther, der neben ihm saß. »Was?« Wolf wurde sich bewusst, dass er vor lauter Grübeln die Gespräche der anderen nicht mehr verfolgt hatte.

»Eine Geschichte«, wiederholte Panther. »Kennst du eine?«

Die meisten der Umsitzenden nippten an ihren Bierkrügen und starrten satt und schweigend in die Flammen des Feuers.

»Wer kann eine Geschichte erzählen?«, griff Nachtschatten die Frage auf. »Tut uns den Gefallen, Mótuhi!«

»Hier sitzen ein Dutzend Streuner«, sagte dieser, »und nicht halb so viele Menschen. Deshalb mögen die Streuner mit einer Geschichte beginnen. Das, was wir Menschen uns zu erzählen wissen, kommt sowieso nicht in tausend Jahren an den Reichtum Eurer Märchenschätze heran!«

»Dumm nur, dass auch von uns keiner da rankommt, weil wir sie nicht zu heben gelernt haben«, brummte Hauptmann Fleck.

»Ich weiß eine Geschichte«, sagte Falbe leise.

»Dann müssen eben doch die Menschen beginnen«, befahl Nachtschatten.

»Ich weiß eine Geschichte!«, wiederholte Falbe.

»Vorsicht, Kleiner«, knurrte Zilber. »Wag dich nicht zu weit vor.«

»Lasst ihn doch erzählen«, rief Mótuhi dankbar. »Rekrut Brauner weiß eine Geschichte, also raus damit!«

Alles lachte grölend. Falbe legte beschämt die Ohren an. »Na gut, soll er erzählen«, entschied der General schließlich. »Wenn uns die Geschichte nicht zusagt, können wir ihn immer noch verprügeln.«

Falbe stand auf. Seine Knie zitterten. Das Gelächter verebbte, und es wurde still bis auf das Knacken der Äste im Feuer.

»Meine Geschichte beginnt in unvordenklicher Zeit«, begann der Jungstreuner, »als das Land noch ein Meer und die Bergspitzen Inseln waren; sie beginnt, bevor die Menschen Erwachten, bevor die Elben Wussten und sogar bevor wir Streuner den Tod kennenlernten.«

Mit dieser Formel begann jede unter Streunern überlieferte Geschichte. Falbe schien sich von seiner Furcht freigeredet zu haben. Als er fortfuhr, waren seine Zuhörer wie gebannt. Nicht nur die Streuner, auch die Menschen hingen förmlich an seinen Lippen.

Damals lebte in Schloss Haivall, dem prächtigen Sitz des Königs der Streuner, ein Sänger und Liedermacher namens Soŋurd. Sein Fell war strahlend weiß, wie es die Welt noch nicht gesehen hatte. Wann immer er zur Leier griff und seine Stimme erhob, verzauberte er diejenigen, die ihm zuhören durften. Wenn er allein durch die Gärten von Haivall streifte oder am Ufer des Flusses Gardéthel entlangging und sich neue Lieder ausdachte, kamen die Vögel herbei, um dem lieblichen Klang seiner Melodien und der verzaubernden Kraft seiner Worte zu lauschen.

Alle Welt liebte Soŋurd, weil er zu allem, was lebte unter der noch jungen Sonne, freundlich war. Die Blumen blühten auf unter der sanften Berührung seiner Finger, denn er kannte das Böse nicht und ließ überall, wo er hinging, Friede und Fröhlichkeit walten.

Die Damen am Hof verehrten ihn, wenn er sie zum Lachen und zum Weinen brachte mit seinen Liedern. Die Männer bewunderten ihn, wenn er mit ihnen in den Gewölben von Haivall nächtelang um die Wette trank und sie jeden Streit, der unter ihnen zu entflammen drohte, mit dem Spiel seiner Leier schnell vergessen ließ. Selbst der König liebte ihn wie seinen eigenen Sohn und verzichtete niemals auf seine Gesellschaft am Hof.

Eine Bewohnerin des Schlosses aber war Soŋurd besonders zärtlich zugetan. Sie liebte seine Stimme, sie liebte seine Lieder, am meisten aber liebte sie sein weißes Fell. Ihr Name war Phrosídia. Wann immer er ihr nahe war, glühte sie vor innerem Verlangen; wenn er ihr fern war, verzehrte sie sich in peinigender Sehnsucht nach ihm. Oft stand sie auf dem Söller ihrer Kemenate, blickte hinunter in den Garten und ergötzte sich an Soŋurds leuchtender Gestalt, wenn sie ihn lustwandelnd erspähte. Spielte er in der Sonnenhalle oder am Springbrunnen zum Tanz auf, so kämmte sie vorher sorgfältig ihr Fell, legte sich den schönsten und kostbarsten Seidenschleier um und begab sich unter die Feiernden. Stets war sie voller Hoffnung, der Sänger möge sie bemerken, sie ansehen, sie grüßen – und ihre Liebe erwidern, indem er ihr die seine schenkte.

Doch vergeblich. Wenn Soŋurd ihre Erscheinung überhaupt mit einem Zeichen seiner Anerkennung bedachte, dann höchstens durch ein Nicken, einen freundlichen Blick, einmal sogar mit einem Lied, das er auf ihren Wunsch hin anstimmte.

In ihrer verzehrenden Anbetung des Sängers entging Phrosídia, dass es einen anderen gab, der ihr sehr wohl Beachtung schenkte, ihr aufwartete, sie verehrte und heimlich längst sein Eigen nannte – Gurlóki, der Königssohn. Er begehrte Phrosídia seit dem Tag, als sie nach Schloss Haivall gekommen war. Für ihn gab es keine anderen Streunerinnen außer ihr, die mit der Anmut ihrer Gestalt nicht nur ihn, sondern viele Männer am Hof verzaubert, sich jedoch keinem von ihnen bisher versprochen hatte.

Er schwor sich: »Sie soll eines Tages meine Königin sein.« Gurlóki bemerkte jedoch, dass Phrosídia nur für einen Augen hatte. Er wusste, dass sie heimlich Soŋurd liebte und dass dieser zu einfältig war, um dessen gewahr zu werden. So beobachtete er sie stets in der Hoffnung, doch nur ein einziges Mal ihre Aufmerksamkeit und Achtung zu erlangen. Doch je länger er erfolglos blieb und je öfter er sah, wie sie bei Soŋurds Anblick dahinschmolz, desto schmerzhafter nagte an Gurlóki die Ahnung, dass er sie wohl niemals für sich gewinnen konnte – und desto größer wurde sein Hass auf den Sänger, der ihre Gunst so unverdient genoss, ohne sie angemessen zu würdigen.

»Ich muss mich seiner entledigen«, sagte er sich und begann, einen finsteren Plan zu schmieden, mit dessen Hilfe er den übermächtigen Rivalen aus dem Weg zu räumen und gleichzeitig Phrosídias Herz zu erobern gedachte.

Der Winter kam, und mit ihm die abendlichen Trinkgelage in den Schlossgewölben. Eines Abends – es war bitterkalt, und ein Sturm tobte draußen um die Mauern – fand sich der Prinz mit seinen Dienern und Höflingen dort ein, und auch Soŋurd fehlte nicht. Man sang und trank und lachte miteinander. Gurlóki prostete dem Sänger zu und bat ihn um immer weitere Lieder. Und einmal, als niemand hinsah, schüttete er ihm Schlafpulver, das er in einem falschen Siegelring aufbewahrt hatte, in den Weinbecher.

»Trinkt aus!«, rief er, als das Lied zu Ende war, und klopfte Soŋurd fröhlich auf die Schulter. Dieser tat, wie ihm geheißen, und fiel alsbald in tiefen Schlummer. Die anderen lachten ihn aus und kümmerten sich nicht um ihn, der Prinz aber sagte zu einem seiner Diener:

»Ich bringe ihn in sein Gemach. Pass auf, dass ihnen der Wein nicht ausgeht.«

Er packte Soŋurd samt seiner Leier, schleppte ihn aus dem Gewölbesaal und brachte ihn in ein abgelegenes dunkles Verlies. Dort angekommen, holte er ein scharfes Messer hervor, schnitt ihm die Kehle durch und zog ihm das Fell ab. Als er fertig war, nahm er den weißen Pelz und hüllte sich darin ein. Auch die Leier des Sängers hängte er sich über die Schulter.

So trat er vor Phrosídia, die ihm ihre Kemenate in der freudigen Annahme öffnete, der Erwählte habe ihre stummen Gebete endlich erhört.

Gurlóki, der den Rest der Nacht bei ihr verbrachte, wähnte sich am Ziel seines Strebens. Als die beiden Liebenden am nächsten Morgen gemeinsam durch den Garten von Haivall spazierten, lachte er und winkte all jenen zu, die ihn und Phrosídia sahen und dachten, nun hätte die junge Hofdame sich endlich vermählt.

Als sie ihn aber bat, ihr ein Lied zu singen, wollte aus seiner Kehle keine wohlklingende Melodie kommen, und die Saiten der Leier, von seinen ungeschickten Fingern geschlagen, ließen nichts als schauerliche Misstöne hören. Phrosídia ahnte in schwindelnder Furcht, dass sie betrogen und ihrem wahren Geliebten Schreckliches angetan worden war.

Es dauerte nicht lang, bis das Verbrechen entdeckt war und der König davon erfuhr. Er bestrafte Gurlóki, seinen eigenen Sohn, indem er ihn vor den Mauern Haivalls an ein Kreuz nageln ließ. Seither hacken ihm Tag für Tag die Krähen unter größten Qualen die Augen aus, denn König Rósgurd verzauberte ihn so, dass sie ihm jede Nacht nachwachsen.

Soŋurd aber, dessen Stimme für immer verstummt und dessen einst prächtige Gestalt für aller Augen grässlich anzusehen war, wurde von Haivalls Hofstaat aus dem Schloss gejagt.

Allein der König, der die Dienste seines geliebten Sängers nicht vergessen mochte, erwies ihm die Gnade, auf dem Fluss Gardéthel als Schiffer zu arbeiten.

»Und seitdem wir Streuner den Tod kennen«, schloss Falbe, »seither bringt Soŋurd als faulendes Knochengerippe die Stummen über den Fluss, während sie am anderen Ufer Gurlóki an seinem Kreuz hängend schreien hören. Es heißt, wenn ein Stummer dem Schiffer sein eigenes Fell aus freien Stücken überlässt und seine Aufgabe auf dem Kahn übernimmt, kann er erlöst werden und triumphreich nach Haivall zurückkehren. Erst dann wird er Rósgurd, Phrosídia und all den Stummen, die seither dorthin gelangt sind, mit seiner Leier wieder zum Tanz aufspielen dürfen bis ans Ende aller Zeiten.«

Für ein paar Augenblicke war es still, dann begannen die Streuner mit ausladendem Schwanzwedeln und die Menschen mit lautem Klatschen ihren Beifall zu bekunden. Falbe neigte schüchtern den Kopf und setzte sich.

»Ich fand diese Geschichte schon immer dämlich«, ergriff Zilber, der sich des Beifalls als Einziger enthalten hatte, das Wort. »Hättest du heute Abend nicht was Lustiges erzählen können?«

»Kein Wunder, dass Ihr die Geschichte nicht mögt«, sagte der Namenlose, und alle Köpfe wandten sich ihm zu. »Leute wie Ihr kommen darin ja nicht allzu gut weg.« Er drehte seine Faust im Licht der Flammen, um sich am Glanz eines Siegelrings zu erfreuen, den er am Finger trug.

»Und Leute wie Ihr kommen darin gar nicht erst vor«, erwiderte Zilber. »Ihr wart zu der Zeit nämlich noch mit Schnarchen beschäftigt. Möchte wissen, wer der Schafskopf war, der Euch und Euresgleichen geweckt hat!«

Wolf schüttelte unmerklich den Kopf. Zilber würde wohl niemals die Klappe halten können.

Der Namenlose schwieg und fingerte gedankenverloren an seinem Siegelring herum.

Lediglich Hauptmann Mótuhi begegnete Zilbers Beleidigung des Menschenvolks mit entspanntem Schmunzeln.

»Das werde ich jetzt erzählen, wenn niemand etwas dagegen hat«, schlug er vor. »Danach könnt Ihr, Zilberpardel, Euer Urteil über diesen sogenannten Schafskopf ja noch einmal überdenken.«

»Legt nur schon ohne mich los«, meinte Zilber und erhob sich.

»Ich höre lieber von Jägern als von Schafsköpfen. Außerdem plagt mich ein Bedürfnis, das in keiner Streuner- und auch keiner Menschengeschichte vorkommt und das unsere Völker doch aufs Engste verbindet.«

Grölendes Gelächter. Auch Wolf hatte Druck auf der Blase. Er stand ebenfalls auf und schaute wie zufällig zu Lacríma hinüber.

Sie war fort!

Der Platz neben dem Namenlosen, wo sie die ganze Zeit über gesessen hatte, war leer. Sie musste sich entfernt haben, als Zilber gesprochen und alle in seine Richtung geblickt hatten. Wolf hütete sich, Zilber unmittelbar zu folgen. Dieser konnte nur eines vorhaben – sich allein mit ihr zu treffen. Sie vielleicht sogar in seine Arme zu schließen. Mit ihr womöglich ein ganz anderes Bedürfnis zu stillen, als er die Gesellschaft am Feuer hatte glauben machen wollen.

Zilber näherte sich dem Waldrand. Wolf konnte ihn in der Dunkelheit ohne Schwierigkeiten ausmachen. Da Zilber ihn dank seiner Nachtaugen mindestens ebenso gut sehen konnte, duckte er sich zunächst hinter die hüfthohen Planen, die manche Soldaten einseitig über ihre Lager gespannt hatten. Am Waldrand ging er dazu über, in Zilbers Windschatten von einem Baumstamm zum nächsten zu huschen, was ihm einigermaßen lautlos gelang.

Zilber stapfte durch den Wald, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Irgendwann blieb er unvermittelt stehen. Eine Weile geschah nichts.

»Hier bin ich«, sagte er endlich. Der plötzliche Klang seiner Stimme in der nächtlichen Stille ließ Wolf zusammenzucken.

»Danke, dass du meiner Bitte Folge leistest«, antwortete jemand mit tiefer, sanfter Stimme.

Lacríma trat aus dem Schatten eines dichteren Gehölzes.

»Kein langes Gerede«, sagte Zilber kurz. »Was willst du von mir?«

»Dir danken«, wiederholte sie. »Dafür, dass mit dir ein Lichtwesen wie Soŋurd in diese Welt zurückgekehrt ist.«

Zilber schnaubte empört. »Mit deinem Soŋurd-Schwächling habe ich nur eine einzige Sache gemein.«

»Und die wäre?«

Er gab keine Antwort.

»Ich weiß so wenig über dich«, fuhr Lacríma fort. »Wir kämpfen im selben Heer, für dieselbe Sache … Willst du mir nicht endlich die Wahrheit sagen?«

»War das jetzt alles?«, knurrte Zilber. »Wenn du mir nichts weiter mitzuteilen hast, gehe ich wieder feiern.«

»W…warte!«, rief Lacríma leise. Sie schien all ihren Mut zusammenzunehmen. »Du … du gehst im Palast von Orilac ein und aus, nicht?«

»Verdammtes Albenweib«, zischte Zilber. »Du wagst dich weiter vor, als gut für dich ist, weißt du das? Pass auf, wie du mit mir redest. Und vor allem, wie du über mich redest. Du könntest sonst allzu bald wünschen, es unterlassen zu haben!« Mit der Sicherheit, einen wunden Punkt getroffen zu haben, bewegte sich Lacríma einen Schritt auf ihn zu.

»Sag mir die Wahrheit, Zilber«, forderte sie sanft. »Hab keine Angst! Wir sind allein.« Dicht vor ihm blieb sie stehen.

Plötzlich winkelte sie ein Knie an, schmiegte es ihm in die Leiste und legte gleichzeitig beide Hände an seine Brust. Dann hauchte sie ihm entgegen: »Oder soll ich sie aus dir herauskitzeln?«

Wolf hielt den Atem an. Eine Ewigkeit, so schien es ihm, geschah nichts.

»Es gibt nur ein einziges Wesen auf dieser Welt, das sich meiner Achtung würdig erwiesen hat«, sagte Zilber schließlich in sprödem und so bedrohlichem Tonfall, dass es Wolf durch Mark und Bein ging. »Dieses Wesen bist nicht du, Lacríma Ungeratene von Táegaran. Deshalb nimm deine vermessenen Gliedmaßen von mir, wenn du nicht willst, dass ich sie dir eine nach der anderen abbeiße.«

Lacrímas Miene versteinerte. Mit einer ruckartigen Bewegung tat sie, was er verlangte, und entfernte sich eine gute Elle von ihm.

»Wie du wünschst«, sagte sie tonlos, wandte sich ab und verschwand in den Schatten der Nacht. Zilber blieb reglos stehen, bis das Geräusch ihrer Schritte verklungen war. »Du kannst jetzt rauskommen, Wolf.«

Er schrak zusammen. Zilber hatte sich nicht einmal zu ihm umgedreht, geschweige denn die Ohren in seine Richtung zurückgestellt. Betreten verließ er sein Versteck.

»Komm her.« Zilber grinste, nachdem er Wolf nasenreibend begrüßt hatte. »Hast du eine Ahnung, wie lange es her ist, dass ich um Mitternacht mit einem guten Freund im Wald den Lebensatem geteilt habe?«

»Was war das eben?«, fragte Wolf statt einer Antwort.

»Lacrímas eigener Beweis dafür, dass sie unser Vertrauen nicht verdient.«

»Sieht so aus«, musste er zugeben. Er kam sich unendlich schäbig vor. »Ich frage mich, wem ich überhaupt noch trauen kann.«

»Bist du mir deswegen nachgegangen?«

»Ich dachte, du und Lacríma …«, begann Wolf hilflos.

»Falsch gedacht!«

»Schon gut …« Missgelaunt schlug Wolf an einem Baum sein Wasser ab. »Jedenfalls hatte ich allen Grund zu der Annahme.

Übrigens scheinen sie und Hauptmann Namenlos sich schon länger zu kennen. Er will ihr vorschreiben, mit wem sie sich

einzulassen hat, und versorgt sie dafür mit Informationen.« »Was hat er ihr genau gesagt?«

Wolf erzählte ihm, was er in der letzten Nacht vor Lacrímas Zelt mitangehört hatte.

»Behalt das lieber für dich«, riet ihm Zilber schließlich. »Die Ungeratene sollte nicht mitbekommen, was du alles über sie weißt. Gelegenheit zu fragen wirst du ihr ja bestimmt weiterhin geben.«

Wolf konnte ihm nicht widersprechen und beschloss, ein Thema anzuschneiden, das ihn schon seit längerem interessierte.

»Dein Mädchen … war deine Brieftaube neulich für sie bestimmt?«

Zilber starrte ihn mit funkelnden Augen an.

»Ja«, sagte er grinsend.

Wolf spürte, dass er log.

»Bist du der König von Orilac?«, fragte er auf gut Glück. Zilber schien zusammenzuzucken. Er wurde sehr ernst und antwortete in lautem, hochmütigem Tonfall: »Der Thron von Orilac, Wolf, gehört seit jeher den Menschen !«

Matt nickte Wolf.

»Wir sollten langsam zurückgehen, bevor jemand Verdacht schöpft. Es sei denn, du willst mich als Nächstes fragen, ob ich der Schnitter bin.«

»Ich hab keine Lust mehr zu feiern«, entgegnete Wolf missmutig. »Ich wette, dieser Namenlose treibt es hinter meinem Rücken mit Lacríma. Sie müsste …«

»Klar tut er das«, unterbrach ihn Zilber achselzuckend.

»Riecht man doch drei Meilen gegen den Wind.«

»Halt′s Maul«, fuhr Wolf ihn an. »Heute Nacht bin ich bei ihr und niemand sonst. Wenn wer auftaucht, kriegt er von mir eine Abreibung!«

»Die hat er verdient. Viel Spaß dabei. Ich hab heute Nacht leider was anderes vor.«

»Was denn?«

»Eine Unterredung mit General Nachtschatten. Da gibt es ein paar Dinge an mir, die er dringend spitzkriegen muss. Und vergiss nicht, gegenüber Lacríma tun wir so, als wäre nichts geschehen.«

Als Wolf spät in der Nacht Lacrímas Zelt erreichte, hörte er wieder Stimmen daraus hervordringen. Ein gesunder Zorn packte ihn.

Wie ich es mir dachte.

Neben dem Eingang stellte er sich breitbeinig hin.

»… alles ganz anders!«, raunte Lacríma in beschwörendem Tonfall.

»Und wenn schon«, antwortete ihr eine tiefe Männerstimme ebenso leise.

»He, Namenloser!«, rief Wolf barsch. »Komm raus!«

Das Gespräch verstummte abrupt. Ein Rascheln, dann wurde der Vorhang zurückgezogen. In dem Augenblick, als der Namenlose, nur eine Decke um die Hüften geschlagen, aus dem Zelt trat, packte ihn Wolf von hinten, drückte ihm mit einem Ellbogen die Luft ab und hielt ihm mit der anderen Hand den Mund zu. »Am liebsten würde ich dir das Genick brechen«, zischte er ihm ins Ohr. »Ich tu′s nur deshalb nicht, weil du angeblich ein ganz passabler Kämpfer bist. Wir brauchen dich in der Schlacht. Aber denk dran: Lacríma gehört mir. Mir allein!« Er stieß ihn hart von sich.

Der Namenlose, der keine Anstalten gemacht hatte, sich zu wehren, rieb sich Bart und Hals. Er musterte Wolf mit einem ebenso prüfenden wie unsicheren Blick, schien den Streuner als gleichwertigen Gegner anzuerkennen.

»Was habt Ihr empfunden, Wolf von Tanár«, sagte er schließlich leise, »als Ihr General Várun in den Yolánischen Katakomben habt sterben sehen? Wart Ihr nicht froh, dass nicht Ihr es wart, dem man den vor Eifersucht geschwollenen Kopf vom Leib gesäbelt hat?«

»Übertreib mal nicht!«, blaffte Wolf. Dann ging ihm etwas auf. »Warst du etwa auch unter einer der Kutten? Als Diener des Schnitters?«

»Als Vertrauter Lacrímas«, verbesserte ihn der Namenlose. »Ich verdanke ihr mindestens so viel wie Ihr, Wolf. Vergesst das nicht. Und, all Eurer Selbstsucht zum Trotz: Gewöhnt Euch an den Gedanken, dass Ihr sie niemals glücklich machen könnt.« »Weil ich ein Streuner bin?«

»Weil Ihr ein ungehobelter Kerl seid.« Die prüfende Kühle wich aus dem Blick des Namenlosen, doch Wolf vermochte nicht zu erraten, was in diesem vorging. »Der noch dazu schlimmer aus dem Rachen stinkt als ein altes Weib!«

Wolf schien es sinnlos, sich weiter mit ihm abzugeben.

»Hau endlich ab«, brummte er, wandte sich um und betrat das Zelt.

Lacríma war nackt, in ihrem Gesicht spiegelte sich die Angst. Wolf packte Kleider und Rüstung des Namenlosen und schleuderte alles nach draußen. Dann ging er zu ihrem Lager, schnupperte an ihr. Ihre Lider flatterten, doch sie ließ es geschehen.

»Anscheinend hast du heute Nacht keinen Bedarf mehr«, knurrte er zornig. »Weißt du was? Ich auch nicht. Ich bin fertig mit dir.«

Er wandte sich ab und trat hinaus in die Nacht, ohne auf ihre tränenerstickten Rufe zu hören.

Es wurde kälter, und Hylándia rückte näher. Immer öfter gelangte der Heereszug in Sichtweite kleinerer Dörfer und Weiler. Längst befanden sie sich im Hoheitsgebiet des Südens – und drangen unbehelligt jeden Tag weiter darin vor. Selten ließen sich die Bewohner der Siedlungen sehen, und wann immer sie es taten, dann in scheinbar freudiger Erwartung: Sie winkten der vorbeiziehenden Truppe zu oder schwenkten sogar Heugabeln und Dreschflegel, an denen sie bunte Tücher befestigt hatten.

»He, Káhi«, sagte Wolf einmal zu seinem Knappen, »lauf hinüber und frag, warum man sich so über unsere Ankunft freut.«

Der Junge tat, was er verlangte, und war in Windeseile zurück. »Sie sagen, König Balýntoş unterdrückt sie mit immer größeren Abgabeforderungen, und es könnte nicht schaden, wenn es ihm und seinen Landsknechten jemand mal so richtig zeigt.«

Wolf wunderte sich. War die Bevölkerung hier im Süden etwa unzufrieden mit ihrem Herrscher? Aber genossen die Sieben Reiche nicht schon seit Jahrhunderten Wohlstand und Zufriedenheit? Jedenfalls schienen sowohl in der Zentralregion als auch im Westen Königshaus und Untertanen jeweils ein harmonisches Gleichgewicht zu bilden.

»Kein Wunder«, sagte General Nachtschatten auf seine Frage hin, als sich am selben Abend alle Hauptleute in dessen Zelt versammelt hatten. »Der König des Südens ist ein Despot und die hiesige Bevölkerung seiner längst überdrüssig. Die Gemeinschaft der Sieben Reiche hat nur deshalb jahrzehntelang nichts gegen Balýntoş unternommen, weil er als bislang einziger Herrscher es geschafft hat, sein Land innenpolitisch auf Dauer in den Griff zu kriegen. So friedlich diese Bauerntölpel auch aussehen – hierzulande leben einige wortkarge, äußerst angriffslustige Stämme, die sich nicht nur seit jeher untereinander bekämpfen, sondern selbst nach Abschluss der Friedensverträge vor fast sieben hundert Jahren nicht aufhörten, die benachbarten Provinzen anzugreifen, wenn ihnen der Sinn danach stand.«

»Die Friedensverträge brachten zunächst sogar das Gegenteil – mehr Leid und Krieg, als die Völker Lesh-Tanárs jemals zuvor hatten erdulden müssen«, setzte Syrfil Silberdistel den Bericht fort. »Schon bei der Unterzeichnung in Orilac gab es einen Tumult, weil zwei Aufrührer aus der südlichen Provinz dem Abgesandten von Tanár eine mit Blut gefüllte Schweineblase an den Kopf warfen.«

»Sehr interessant, meine Liebe«, kommentierte der General mit anerkennendem Nicken. »Ich nehme an, Ihr habt die Details noch so genau in Erinnerung, weil Ihr selbst als Abgesandte der Meeresregion vor Ort wart – damals, vor sechshunderteinundachtzig Jahren – und weil Ihr den Vertrag ebenfalls unterzeichnet habt?«

Syrfil setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Nicht ganz. Ich war lediglich als Begleiterin des Abgesandten dabei, stand neben ihm, als er sein Siegel auf den Vertrag drückte. Er hatte übrigens nicht so viel Glück wie sein Kollege aus Tanár, sondern wurde noch in derselben Nacht mit einem Messer im Rücken aus dem Schattenstrom gezogen. Bis heute weiß man nicht genau, wer ihn umgebracht hat. Doch dieser Mord war nur der Anfang einer langen Reihe von Übergriffen, die von Hylándia ausgingen und …«

»Hylándia!«, schnitt ihr General Nachtschatten das Wort ab.

»Hauptstadt der Region, die das Volk der größten Verderbtheit in ganz Lesh-Tanár hervorgebracht hat. Kein Wunder, dass ausgerechnet aus dieser Region der Mörder unseres guten Königs Ņátahi stammt, den zu rächen wir …«

»Das wissen wir nicht«, fiel ihm Wolf ins Wort und hätte sich am liebsten sofort die Zunge abgebissen. Dies war sicherlich nicht die beste Gelegenheit, um das Gespräch auf den Schnitter zu lenken. Doch nun waren aller Augen auf ihn gerichtet.

Selbst Lacríma warf ihm einen beschwörenden Blick zu. Ihre Mundwinkel zuckten.

»Ich meine … vielleicht ging der Mord am König des Westens nicht von der hiesigen Bevölkerung aus, sondern von König Balýntoş persönlich«, versuchte Wolf zu retten, was zu retten war. »Vielleicht will er sich den Westen auch noch in sein Herrschaftsgebiet einverleiben. Sein Heer könnte schon auf dem Weg sein.« Eine unwahrscheinlichere Antwort hätte ihm kaum einfallen können, doch er wusste nicht, wie er sich auf Anhieb anders erklären sollte.

»Hauptmann Wolf«, sagte Nachtschatten, in dessen Kehle es gefährlich rollte, »diese Art von Mutmaßungen sind nicht Zweck unserer heutigen Zusammenkunft. Wenn Euch schon nichts zum Thema einfallen will, dann habt Ihr dieses Nichts hinter Euren Zähnen zu behalten, zumal solange ich rede, klar?«

Wolf nickte.

»Hylándia also«, fuhr der General fort, während er eine runde Form abzuschreiten begann, »ist eine kreisförmige Stadt, die, von der Königsburg und ein paar Regierungsgebäuden abgesehen, fast ganz aus Holz erbaut ist. Man kann sich nicht darin verschanzen. Der König wird die Landsknechte ausschicken, um uns zu begegnen, sobald er von unserem Anmarsch erfährt. Viele von ihnen sind zur Zeit noch im ganzen Land verteilt, um Zölle und andere angeblich der Krone zustehende Güter einzutreiben. Wir müssen deshalb den in Hylándia stationierten Rest besiegen und zum König vordringen, bevor die Verstärkung wieder dort eintrifft.«

»Und dann?«

»Dann, Hauptmann Zilberpardel, werden wir einen Statthalter einsetzen und damit drohen, König Balýntoş hinzurichten, falls die heimkehrenden Landsknechte nicht kooperieren.« »Gegen alle möglichen Krieger und Wesen habe ich schon gekämpft«, ließ sich der Namenlose vernehmen, der sich das bärtige Kinn kratzte. »Reiter, Fußsoldaten, Kampfstreuner, elbische Bogenschützen, Dunkelalben, Landechsen, Flughunde, Schlaggleiter, Moorschleicher, ja selbst gegen die Kindertruppen, die der König der Steppe im Fünfjährigen Krieg aus schierer Verzweiflung mobilisiert hat, weil sein Gott Munhûat die flehenden Gebete seiner Priester nicht mehr erhören wollte. Noch nie aber habe ich gegen Landsknechte gekämpft. Sind sie so klobig, wie ihr Name vermuten lässt?« Ein Lachen ging durch die Reihen der versammelten Hauptleute. Selbst General Nachtschatten musste grinsen.

»Das sind sie durchaus, Hauptmann. Allesamt Menschen. Sie tragen Rundschilde, Breitschwerter, Eisenrüstungen und Blechhelme mit Nasenschutz – also die älteste und schlechteste Ausrüstung, die man sich denken kann. Gegen ein paar Spitzhacken und Mistgabeln ist sie jedoch wirksam genug, so dass das Königshaus gegenüber den Bauern im gesamten Südreich seit jeher seine gewaltigen Forderungen durchsetzen kann. Nur dank des brutalen Einsatzes seiner schlagkräftigen Truppen hat Hylándia im Laufe der Jahrhunderte seinen Reichtum anhäufen und gleichzeitig die inneren Unruhen unter Kontrolle bringen können. Obwohl es bloß Bauern sind, gegen die diese Männer gewöhnlich antreten, dürfen wir jedoch eins nicht vergessen:

Die Landsknechte sind stark und überaus zäh. Nur elbische Langbögen vermögen ihre Rüstungen zu durchschlagen; hier zähle ich auf Euch, Anführerinnen«, er schaute zu Lacríma und Syrfil hinüber, »und natürlich auf die jahrtausendealte Kunst Eurer Staffel.«

»Die Kunst der Kampfstreuner ist älter!«, warf Zilber ein.

»Dann sorgt dafür, dass sie mich nicht enttäuscht«, konterte General Nachtschatten. »Unsere Formation und Taktik habe ich Euch allen bereits erläutert. Morgen oder übermorgen erreichen wir Hylándia. Wir müssen siegen!«

»Das werden wir«, proklamierte der Namenlose. »Mein Schwert wird jeden Landsknechtshelm spalten, der sich mir in den Weg stellt!«

»Meins auch!«, schloss sich Wolf an, und mit ihm drei weitere Hauptleute.

»Ich brauche zum Helmspalten kein Schwert«, grinste Zilber. »Reiben wir sie auf!«, bellte Fleck, und bald darauf riefen sämtliche der Versammelten wild durcheinander.

»Schicken wir sie nach Haivall!«

»Schlachten wir sie!«

»Töten wir sie!«

»Fordern wir hohen Blutzoll von ihnen!«, donnerte General Nachtschatten. »Und rächen wir König Ņátahi!«

Fantasy Collection III

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