Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 13

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Der neue Anführer

Die Straßen von Viertürme starrten vor Dreck. Da das Gelände leicht abfiel, floss die Rinnen zu beiden Seiten des Pflasters eine dunkle, zähe Brühe hinunter. Sie erbrach sich in den Fluss, der den Stadtteil im Süden begrenzte. Wo immer der Unrat in der Gosse nicht weiterkam, halfen die Bewohner mit groben Besen nach oder warfen demjenigen, den sie damit beauftragt hatten, zwei Münzen zu.

Viertürme stank. Durch den Regen der vergangenen Nacht flossen Jauche und Abfall ab, überfluteten jedoch an vielen Stellen die Straßen. Wolf stapfte mit schweren, entschlossenen Schritten durch die bestialisch stinkenden Pfützen und scherte sich nicht darum, dass die Brühe dabei nach allen Seiten spritzte.

»Fahr zur Hölle, du Hund!«, schrien ihn einmal zwei Frauen an, die durch seine Rücksichtslosigkeit über und über mit dem Unrat besudelt wurden. Er hörte sie kaum, und noch weniger kümmerte ihn, dass sie ihm die für Streuner gröbste Beleidigung an den Kopf geworfen hatten.

Er kannte nur ein Ziel: die Waffenschmiede, in der er sich früher alles besorgt hatte, was er für die Armee brauchte.

Nach allem, was passiert war, tat er gut daran, sich zu wappnen. Erst einmal würde er sich die Scherenschrecke vorknöpfen. Dann musste er untertauchen, am besten zusammen mit Lúpa. Wer konnte schon ahnen, ob nicht auch sie in Gefahr war!

Endlich erreichte er die Straße der Schmiede und das Haus, das ihm fast so vertraut war wie das Gasthaus zum Heulenden Elend. Wie eh und je zierten die beiden gekreuzten Messingschwerter die Wand über dem Eingang. In der Verkaufsstube Vulkhans von Tanár herrschte ein düsteres Licht, das von einem Feuer in der Ecke des Raums sowie einigen Fackeln und Öllampen ausging. Die Luft war schwer von Rauch, Ruß und Metall.

Hinter der roh behauenen Holztheke auf der linken Seite befand sich der lederverhangene Durchgang zur eigentlichen Schmiede, von wo rhythmisches metallisches Klirren herüberdrang. Auf der rechten Seite führte eine steile Holztreppe ins obere Stockwerk. Mitten im Raum, aufgereiht auf Regalen, Tischen und einfachen Metallgestellen, prangten die zum Verkauf stehenden Waffen.

Hier gab es alles vom leichten Kurzschwert bis zum riesigen Zweihänder, daneben Dolche, Säbel, aber auch größere Waffen wie Lanzen, Morgensterne oder Streitäxte. Zwei Streuner, die als gerade erwachsen gelten konnten, und ein ebenso junger Mensch standen um einen Tisch herum, auf dem verschiedene einfache Breitschwerter lagen. Laut schwatzend stritten die drei über Vor- und Nachteile bestimmter Waffentypen.

Schon wollte Wolf in die Schmiede hinübergehen, da hörte er jemanden die Stiege herunterkommen. Er wandte sich um.

»Wolf!«, hieß ihn der Schmied willkommen. »Welch unerwartete Freude, dich mal wieder zu sehen. Es muss Jahre her sein, dass du hier warst …« Ein langanhaltender Husten unterbrach seine Begrüßung.

Vulkhan war alt geworden, seit Wolf ihn das letzte Mal besucht hatte. Der einst stattliche und arbeitsame Schmied, dessen Vorfahren aus dem fernen Königreich der Steppe stammten, hatte über sieben Jahrzehnte erlebt und war mittlerweile auf einen Gehstock angewiesen. Sein Gesicht wirkte eingefallen; Haar und Bart, die seine kantigen Züge einrahmten, waren schneeweiß.

Nur seine Augen hatten nichts von ihrer wachen Klarheit

eingebüßt.

»Ich brauche Waffen«, sagte Wolf knapp.

Vulkhan fixierte ihn nicht ohne Wohlwollen. »Du hast doch nichts ausgefressen, oder?«

»Schick sie weg«, presste Wolf zwischen zusammengebissenen Zähnen und mit einem unauffälligen Blick in Richtung der drei jungen Soldaten hervor.

Sie protestierten lautstark, als der Schmied sie anwies zu gehen. Vulkhan schloss die Tür hinter ihnen und seufzte.

»Mit den Rekruten hat man nichts als Ärger. Vor neun Jahren hat der König das Waffengesetz reformiert, seither sind alle Schmiede und Händler zu Sonderpreisen gegenüber der Armee verpflichtet, weißt du?«

Wolf nickte.

»Und dann stürmen sie dir scharenweise die Bude, brauchen Stunden zum Auswählen ihrer Waffen und beschweren sich noch, wenn man sie bei Ladenschluss darum bittet, sich zu beeilen. Dabei wissen sie ganz genau, dass sie nur Breitschwerter kriegen.« Ächzend wandte sich der Schmied ihm zu. »Wie auch immer, Wolf, es tut gut, dich zu sehen. Die Zeiten werden nicht besser, du weißt ja, der Tod des Nordkönigs … Ein alter Mann wie ich kommt sich da manchmal schon ein wenig nutzlos vor.«

Für einen Augenblick vergaß Wolf seine Wut und dachte an den Tag zurück, als er Vulkhans Waffenschmiede zum ersten Mal betreten hatte. Er war später einige Male wiedergekommen, hatte ihm Gesellschaft geleistet und von der Armee erzählt.

»Du arbeitest nicht mehr?«

»Die Knochen machen nicht mehr mit. Die Lungen auch nicht. Zum Glück leistet mein Sohn Téwhan gute Arbeit. Wenn ich ihn nicht hätte, könnte ich den Laden bald zumachen. Aber sag, was brauchst du?«

»Erst einmal ein Schwert«, gab Wolf zurück. »Und dann noch ein paar Kleinigkeiten.«

»Gehen wir nach oben«, sagte Vulkhan in verschwörerischem Tonfall. »Hier unten habe ich nur die Sachen für die Armee … und die fürs Grobe.«

Wolf folgte ihm die Stiege hinauf ins obere Stockwerk, wo hinter einem verschließbaren Eisengitter Vulkhans wahre Schätze lagerten. Da gab es Dolche mit Griffen aus Jade oder Perlmutt; Zierhellebarden, in deren Klingen Saphire eingelassen waren; und vor allem gab es Schwerter. Manche Klingen trugen feine Gravuren, andere waren so scharf, dass sie selbst härteste Rüstungen durchdringen und schwere Schilde zerschmettern konnten. Manche hatten Mittelgrate oder sogar langgezogene Löcher, um das Gewicht zu minimieren. Die Vielfalt an Gestaltung ließ erahnen, über wie viel künstlerische Vorstellungskraft und welch großes handwerkliches Geschick der Schmied verfügte.

»Such dir was Geeignetes aus«, sagte Vulkhan, nachdem er ihm das Gitter geöffnet hatte. »Alles hier ist einzigartig. Fast jedes Stück habe ich selbst gefertigt. Oder möchtest du eine Klinge nach deinen Wünschen in Auftrag geben?« »So viel Zeit habe ich nicht«, antwortete Wolf.

Den Schmied packte ein bellender Husten, so dass er seine Aufmerksamkeit ganz dem reichhaltigen Angebot widmen konnte.

Edelsteine und anderer unnützer Zierrat kamen nicht in Frage. Die meisten Schwerter waren außerdem zu klein oder zu unhandlich. In einer Ecke, halb verdeckt von einer Auswahl edelster Hellebarden, ruhte ein Metallständer mit ein paar unscheinbaren Einhändern. Beherzt holte Wolf das Ganze ans Licht und zog die erste Waffe heraus.

Zweifellos war sie hervorragend gearbeitet, ein Glanzstück der Schlichtheit mit konisch verlaufender, gut ausbalancierter Klinge, doch seinem Gefühl nach stimmte irgendetwas daran nicht. Das zweite Schwert fühlte sich viel zu leicht an, außerdem wirkte das Heft unfertig. Wolf nahm das nächste Stück zur Hand.

Dieses schien seiner Vorstellung eines passenden Schwertes auf Anhieb zu entsprechen. Die Klinge funkelte wie gerade frisch poliert, auch hatte sie exakt das richtige Gewicht. Ein leuchtender, nicht zu großer Rubin zierte den Knauf. In der Hohlkehle, nahe am Heft, war der Name der Waffe eingraviert:

Flamme von Tanár. Sie gefiel Wolf prächtig. Er behielt sie in der Linken und nahm achtlos, höchstens um später nichts versäumt zu haben, auch noch das vierte Schwert aus dem Gestell.

Fast wäre ihm die Rubinklinge entglitten, so stark war die Kraft, die ihn sofort damit zu verbinden schien. Er wusste, dass nicht die Flamme, sondern das hier die richtige, seine Waffe war. Er besah sie sich genauer. Bis auf die Parierstange, die in jähen Haken endete, und das mit feinem Leder umwickelte Heft war kaum etwas Besonderes daran. Die Klinge selbst fiel durch ihre Makellosigkeit auf. Die mittlere Hohlkehle zog sich bis fast zur Spitze hin, zwei weitere flankierten sie über die halbe Länge. Die doppelte Schneide war unglaublich scharf – ein feiner Schnitt blieb in Wolfs Daumen zurück, als er sie vorsichtig prüfte. Der stählerne Knauf bildete das ideale Gegengewicht.

Wolf entledigte sich der Flamme von Tanár , ohne sie noch einmal anzusehen, und ließ das neue Schwert ein paarmal durch die Luft sausen. Tatsächlich – an dieser Klinge stimmte alles. Selbst das Heft lag so gut in seiner Hand, dass ihn seine Krallennägel nicht verletzten, egal wie fest er zupackte.

»Ah«, sagte Vulkhan und näherte sich. »Ich habe mich schon oft gefragt, wann wohl einer die Krönung meines Schaffens erkennen würde. Dabei hängt sie schon seit über zwei Jahrzehnten hier. Fast sechs Jahre habe ich an dieser Waffe gearbeitet. Sie ist vollkommen.« Er betrachtete das Schwert in Wolfs Hand mit leuchtenden Augen. »Dreieinhalb Fuß und aus dem härtesten Stahl, den es gibt, und doch wird er niemals brechen. Er wird auch nicht rosten, und ich bezweifle, dass die Schneide je wird nachgeschliffen werden müssen. Falls doch, so weißt du ja, wo du mich findest …«

Wolf besah sich das Schwert bedauernd, dann hängte er es zurück zu den anderen.

»Ich werde es mir nicht leisten können«, sagte er zur Erklärung.

»Für dich kostet mein Meisterstück fünfunddreißig Unzen«, verkündete der Schmied gewichtig. »Die Scheide gebe ich dir ohne Aufpreis dazu. Weil du′s bist.«

Wolf rang mit sich. Es gab einen Weg, auch wenn ihm bei dem Gedanken nicht ganz wohl war. Langsam zog er die Klinge noch einmal heraus und wog sie in der Hand.

»Du wirst kein besseres Schwert finden«, sagte Vulkhan mit einem gewinnenden Lächeln.

»Ich weiß«, erwiderte Wolf und nickte.

»Vergiss nicht, ihm einen Namen zu geben.«

»Ganz bestimmt nicht.«

Lúpa würde sich keineswegs über den Schuldschein freuen, den Wolf für den Schmied ausgestellt hatte. Der Meister in Zweieich auch nicht, andererseits schuldete der ihm noch den Lohn des letzten halben Jahres – immerhin zwölf ganze Unzen. Wolf hatte ein gutes Gefühl bei dem Namen, den er dem Schwert gegeben hatte. Medimóntier, das bedeutete so viel wie »Bergspalter«. Außer einem Schulterriemen für das Schwert hatte er noch zwei Saï gekauft – dreizackähnliche Waffen für den Nahkampf, wie sie die Elitesoldaten von Tanár benutzten – und sich in den Gürtel gesteckt.

Wolf konnte es kaum erwarten, seinem ersten Gegner gegenüberzutreten. Rikkulin würde sein blaues Wunder erleben. Vielleicht hielt er Wolf für tot und setzte zur selben Stunde nichts ahnend in der Goldenen Scheune seinen Sold aufs Spiel, den er von den Schergen des Schnitters für seinen Verrat erhalten hatte. Wolf knirschte mit den Zähnen vor Zorn und Rachedurst. Nachdem er sich um die Scherenschrecke gekümmert hätte, würde er unbedingt bei Lúpa vorbeischauen müssen – wegen des Geldes und um sie zu warnen. Außerdem standen seine Stiefel noch bei ihr. Vielleicht war auch noch Zeit für … »He! Wen haben wir denn da?«, riss ihn auf einmal eine wohlbekannte Stimme aus seinen Gedanken.

»Na, wenn das nicht der schlechte Verlierer von neulich ist!« Gelächter aus drei rauen Kehlen.

Wolf wusste sofort, wem er da in die Arme gelaufen war. Er blieb stehen und blickte auf. Ohne es zu merken, hatte er die Kehrstraße erreicht. Von rechts kreuzten drei Streuner seinen Weg. Dieselben drei, die ihn ein paar Abende zuvor im Heulenden Elend in Grund und Boden getrunken hatten. »Haut bloß ab!«, knurrte er.

»Nichts da!«, gab einer der drei zurück, ein Jungstreuner von höchstens zwanzig Jahren mit struppigem braunem Fell.

»Halt den Rand, Falbe«, versetzte der Zweite, dessen elegante Fellzeichnung Wolf schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen war: Weiße Streifen zogen sich von seiner Nasenspitze über beide Wangen und über die Stirn bis zum Hinterkopf, wo sich die beiden Seitenstreifen verloren; der dritte lief entlang der Wirbelsäule fast den ganzen Rücken hinab. Auch die Spitzen seiner Ohren und seines Schwanzes waren weiß, das restliche Fell war von blauschwarz glänzendem Farbton. Er hielt sich ungewöhnlich aufrecht und schien sich seiner ehrfurchtgebietenden Erscheinung durchaus bewusst zu sein. Als er einen Schritt nach vorn trat und mit locker herabhängenden Armen vor Wolf stehenblieb, drückte sich derjenige, den er Falbe genannt hatte, mit gesenktem Schwanz in den Hintergrund.

»Geht man etwa so mit alten Freunden um?« Der Gestreifte überragte Wolf um eine gute Handbreit und musterte ihn mit überlegener Miene.

»Wenn ihr Freunde von mir wärt, wüsste ich das«, entgegnete er finster, ohne einen Zoll zurückzuweichen.

»Nachtragend, was?«, sagte der Dritte kühl. Er war ein breitschultriger Kraftprotz, der sich in seinem reinweißen Fell nur allzu wohlzufühlen schien. Seine stechend hellblauen Augen, mit denen er Wolf unablässig anstarrte, machten ihn kein bisschen sympathischer.

»Allerdings«, grollte Wolf feindselig.

Der Gestreifte warf seinen Begleitern rasche Blicke zu. Seine Schwanzspitze zuckte nervös.

»Ich habe jetzt keine Zeit für euer Geschwätz«, fuhr Wolf fort. »Ich bin auf der Jagd.«

Der Weißpelz musterte ihn abschätzig, während in den dunklen Augen des Gestreiften Belustigung und Neugier aufglommen.

»Ob dich der Wirt des Heulenden Elends nicht sattbekommt? Dann musst du nicht selber jagen. Komm mit! Bei einem schönen Humpen Bier können wir noch mal ausknobeln, wer von uns sich wirklich trinkfest nennen darf. Was meinst du?«

Nun grinsten sie alle drei.

Wolf fühlte eine Stichflamme in sich auflodern – das Feuer streunerhaften Ehrgeizes. Es ging nicht anders, er musste ihnen seine Niederlage von neulich mit gleicher Münze zurückzahlen. So lange würde Rikkulin warten müssen. Außerdem knurrte ihm der Magen.

»Los, gehen wir!«, sagte er heiser.

»Du musst übrigens entschuldigen, dass wir uns noch nicht vorgestellt haben«, meinte der Gestreifte voller Spott.

»Letztes Mal waren wir alle etwas erhitzt und haben wohl deshalb unsere guten Manieren vergessen. Ich«, er reckte stolz das Kinn, »bin Balderdachs, Sohn des berühmten Streifenhorn von Orilac.«

Wolf hatte nie von einem Streuner dieses Namens gehört. Vermutlich war seine Berühmtheit erfunden.

»Und dies«, Balderdachs wies auf den Blauäugigen, »ist mein Freund Zilberpardel von Orilac. Der Kleine heißt Falbe und ist einer von Zilbers Vettern.«

Wolf bemühte sich zu einem Nicken.

»Hast du etwa keinen Namen?«, wollte Balderdachs wissen.

»Nennt mich einfach Wolf«, brummte er.

Zilberpardel warf ihm einen Blick zu, der eisiges Misstrauen signalisierte. Es schien sich noch zu verstärken, als Wolf und Balderdachs sich nach Streunerart begrüßten.

Der Duft des Gestreiften war fremd, jedoch nicht unsympathisch; sie würden sich gut verstehen, wenn sie sich erst einmal näher kennengelernt hätten. Da war aber noch etwas anderes – eine Note, die Wolf ganz und gar nicht einzuordnen vermochte. In Balderdachs steckte mehr, als er auf den ersten Blick preisgeben konnte oder wollte.

Von Zilberpardel empfing er einen derben Nasenstüber. Außerdem schloss der weiße Streuner die Augen während der Begrüßung nicht, wie es die meisten seiner Artgenossen taten, sondern zog es vor, ihn aus nächster Nähe weiter zu fixieren. Was Wolfs Nase von ihm aufnahm, wirkte ebenso fremd und einzigartig wie sein Äußeres. Es war nichts Vertrautes daran, doch Wolf witterte eine unberechenbare Wildheit, die jedem anderen Streuner, den er kannte, abging. Außerdem eine Warnung: Mit mir wirst du früher oder später deine Kräfte messen müssen!

Der Dritte, Falbe, hielt die Begrüßung kurz. Wahrscheinlich hatte ihn Balderdachs′ Zurechtweisung verunsichert. Seine Nase war kalt und feucht, sein Duft seltsam überlagert, als hätte er erst vor kurzem ein früheres Leben hinter sich gelassen, um ein neues zu beginnen.

»Du stammst aus Tanár, oder?«, vergewisserte sich der Jungstreuner, kaum dass er und Wolf wieder auf Abstand gegangen waren.

»Sei nicht so neugierig, oder du kriegst was auf die Nase!«, bellte Wolf probehalber zurück. Wie erwartet senkte Falbe unterwürfig den Kopf, legte die Ohren an und gähnte.

Die beiden anderen grinsten.

»Uff«, machte Balderdachs satt und zufrieden. Der Wirt des Heulenden Elends räumte die leeren Teller ab, auf denen sich kurz zuvor dampfende Maiskolben, Schinkenspeck, überbackene Waldröhrlinge und Fladenbrot getürmt hatten. »Ich kann nicht mehr.« Der Gestreifte griff nach seinem Krug Starkbier, prostete seinen beiden Freunden zu und nahm einen gewaltigen Schluck.

Wolf blieb bei seinem Rotwein. Über den Rand seines Bechers hinweg musterte er die drei fremden Streuner und versuchte, die Umstände ihrer Gemeinschaft abzuschätzen.

In früheren Zeiten waren die Streuner Einzelgänger gewesen oder lebten in Gilden, kleinen Zweckverbünden mit äußerst strikten Regeln. Wolfs eigene Erfahrungen mit anderen Streunern fielen stets zwiespältig aus. Man konnte freundschaftlich miteinander umgehen, sobald man Gemeinsamkeiten entdeckt hatte. Diese aber bestanden oft nur aus Essen, Trinken und Spielen, weshalb insbesondere danach die Stimmung rasch umschlagen konnte. Allzu schnell flogen dann die Fäuste.

Nicht dass Wolf etwas gegen eine ordentliche Prügelei gehabt hätte. Nur – drei Gegner auf einmal mussten nicht sein.

Außerdem galt es bloß, ihnen die Niederlage von neulich heimzuzahlen. Danach musste er schleunigst nach Axthill gehen. »Wo waren wir stehengeblieben?« Mit dem Handrücken wischte sich Balderdachs den Schaum von den Lefzen. »Richtig – du sagtest, du hast dir Waffen besorgt. Nettes Schwert übrigens. Stimmt′s, Zilber?«

Der Angesprochene nickte kühl.

Kein Zweifel, der Gestreifte ist der Anführer des Rudels, dachte Wolf unwillkürlich. Gleich nach ihm kommt dieser Zilberpardel. Wie reise- und lebenserfahren mochten die beiden sein? Wolf schätzte Balderdachs ungefähr auf sein eigenes Alter; der Weißpelz kam ihm etwas jünger vor. Was die zwei mit dem Jungstreuner Falbe zusammengeführt hatte, blieb allerdings ein Rätsel.

»Wofür hast du dich eigentlich so ausstaffiert?« Balderdachs wies auf den Schwertgriff, der hinter Wolfs Schulter hervor ragte, und dann auf seinen Gürtel. Sein Tonfall verriet ebenso aufrichtiges Interesse wie die Spitze seines Schwanzes, die hin und wieder hinter seinen Flanken aufblitzte.

»Man kann nie wissen, wann man sich verteidigen muss«, versuchte Wolf auszuweichen.

»Stimmt. Also lasst uns allesamt Rüstungen und Helme kaufen und einfach mal abwarten.«

»Dann könnten wir wenigstens kämpfen«, erwiderte Wolf gereizt. »Schließlich bin ich Soldat!«

Falbe warf ihm einen flüchtigen Blick zu.

»Kämpfen willst du?« Balderdachs′ Miene spiegelte völlige Ratlosigkeit. »Wofür?«

Wolf schaute ihn lange an, ehe er eine Gegenfrage stellte: »Woran glaubst du, Balderdachs von Orilac?«

»Ich glaube an rohe, männliche Gewalt«, entgegnete dieser mit gespielt gewichtiger Stimme. »An die Muskeln meines Freundes Zilber hier«, er knuffte den neben ihm Sitzenden in den Oberarm, »an seinen, äh, Speer und an … äh, seine Standfestigkeit.«

Zilberpardel sah dümmlich grinsend drein. Wolf hatte natürlich bemerkt, dass er weder einen Speer besaß noch sonst irgendeine brauchbare Waffe.

»Verstehe«, sagte er in gehässigem Tonfall. »Ich dagegen glaube an den Frieden in Lesh-Tanár und verlasse mich dabei auf meine eigene Kraft. Und auf mein Schwert.«

Balderdachs musterte ihn mit leicht gefletschten Zähnen.

»Erzähl uns mehr«, verlangte er mit einem hörbaren Rollen in der Kehle. Sein Schwanzpeitschte die Luft.

»Vielleicht wäre ich dazu bereit.« Wolf fühlte grimmige Zufriedenheit, als er seine Chance auf Genugtuung witterte. Er griff in seine Hosentasche. »Zufällig habe ich meine Taks-Karten dabei. Wollen wir ein Spielchen wagen?« Er ließ Balderdachs genug Zeit, um den Mund zu öffnen, fiel ihm jedoch ins Wort, bevor er auch nur eine Silbe sagen konnte. »Sechs Partien. Sobald ihr drei davon gewonnen habt, erzähle ich euch alles, was ihr wissen wollt.«

Balderdachs knickte für Sekundenbruchteile die Ohren ab. Er hatte den Köder geschluckt. Wolf begann, die Karten zu mischen.

»Aber wenn ich vier Partien gewinne, dann sind wir quitt, ich gehe meiner Wege und ihr kommt mir nicht mehr in die Quere.« »Allein bist du im Nachteil.« Balderdachs schien verunsichert. »Außerdem musst du ein Spiel mehr gewinnen als wir!«

»Das ist mir klar.« Wolf fächerte die Karten ineinander und klatschte den Stapel vor sich auf den Tisch. »Ihr habt doch nicht etwa Angst vor mir?«

Wortlos griff Balderdachs nach dem Stapel, drehte ihn herum und reichte ihn Zilberpardel, der die Karten eingehend prüfte. »Bei meiner Ehre, die sind nicht gezinkt!«, knurrte Wolf drohend.

»Nein, sind sie nicht«, sagte Zilberpardel nach einer Weile und gab ihm den Stapel zurück.

Wolf mischte ihn neu, wies Falbe an abzuheben und teilte schließlich jedem von ihnen mit geübter Hand sechs Karten zu. Den Rest legte er in die Mitte des Tisches.

»Herr Wirt!«, rief Balderdachs und rülpste lautstark. »Mehr Bier!«

Das Spiel begann. Wolf hatte ein schlechtes Blatt. Er würde verlieren. Es wunderte ihn nicht, dass Falbe schon in der fünften Runde seine verbliebenen Karten ablegte: drei Zwölfen. Obwohl sie gemeinsam gegen Wolf spielten, warf Balderdachs dem Jungstreuner einen wütenden Blick zu.

Bereits die zweite Partie, wenn auch knapp, ging an Wolf. Es misslang ihm, sich ein schadenfrohes Schwanzwedeln zu verkneifen.

»Freu dich nicht zu früh, sondern pass lieber auf, dass du die Karten gut mischst«, knurrte Balderdachs erbost.

Bei der dritten Partie gab es Streit. Wolf beendete das Spiel mit drei Achten und einem Bronzestreuner – eine gewagte, aber gültige Gewinnkombination. Vielleicht war es der Übermut, der ihn die letzte Karte, eine Zwölf, in der Hand behalten ließ.

»Moment mal«, fuhr Balderdachs auf und legte seine Karten ebenfalls auf den Tisch: drei Elfen und eine Drei. Ein genauso gewinnberechtigtes, aber höherwertiges Blatt. »War ja auch Zeit, dass deine Glückssträhne abreißt!«

Wolf tauschte den Bronzestreuner gegen die Zwölf. Damit übertraf sein Blatt das von Balderdachs.

»Sie ist nicht abgerissen, siehst du?«

»Frechheit!«, schnaufte Balderdachs wütend. »Das geht nicht! Wenn du gewinnen willst, musst du deine hochwertigsten Karten rauslegen. Habt ihr gesehen? Ich gewinne, nicht er!«

»Nein, Wolf hat Recht«, meldete sich Zilberpardel zu Wort und legte Balderdachs beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

»Er hat das höhere Blatt, und nur das zählt.«

»Also gut«, presste Balderdachs zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Herr Wirt!«, brüllte er dann. »Nachschub! Mein Krug ist schon wieder alle!« Er beruhigte sich erst, als er die vierte Partie gewann.

Wolf er ging sich insgeheim in Schadenfreude. Er würde seine Gegner überrumpeln. Schon das nächste Spiel entschied er routiniert für sich. So war er es gewohnt, Taks zu spielen. Nun stand es drei zu zwei für ihn. Die letzte Partie stand bevor. Sie würde ihm endlich Genugtuung verschaffen.

Wolf mischte die Karten. Selten zuvor hatte er seinen alten, abgegriffenen Satz so bedächtig und sorgfältig durch die Finger gleiten lassen. Mit vor Aufregung zitternden Schnurrhaaren rafften Balderdachs und Falbe jede Karte einzeln an sich, sobald Wolf sie ihnen zuteilte.

Äußerlich gelassen begann Zilberpardel das Spiel. Er nahm eine Karte auf, die ihm vorzüglich ins Blatt passen musste, denn er entledigte sich dafür eines Goldstreuners. Als Wolf an der Reihe war, presste er in gespielter Bedrängnis die Zunge zwischen die Zähne und sortierte seine Karten neu. Dann endlich legte er eine Sieben ab, tat wählerisch und griff am Ende doch nach dem Goldstreuner.

»Ha!«, machte Balderdachs. Falbe hatte ihm eine Zwölf hinterlassen; er legte einen Bronzestreuner ab.

»Retort!«, sagte Wolf, indem er die gleiche Karte aus seinem eigenen Blatt dazwischenwarf, und Balderdachs musste zähneknirschend drei Strafkarten ziehen.

Zilberpardel entschloss sich zu einem Interduell mit Wolf, das dieser gewann. Damit ging das Spiel bei ihm weiter. Er tat so, als hätte er Schwierigkeiten mit seinem Fächer, ließ beim Umstecken absichtlich eine Vier fallen und nahm sie spät genug wieder auf, dass die anderen sie hatten sehen müssen. Er legte einen Silberstreuner ab und zog zwei neue Karten. Das Glück war ihm hold. Er hatte seinen Triumph gut vorbereitet. Sein jetziges Blatt war das beste seit Jahren, und er musste es nur noch ausspielen, sobald er wieder an der Reihe war.

Falbe legte eine Eins ab.

»Gewonnen!«, rief Balderdachs und feuerte zwei Silberstreuner und eine Zwölf auf den Tisch, was zusammen mit dem von Wolf übrig gebliebenen Silberstreuner ein fast unschlagbares Blatt ergab.

»Moment«, sagte Wolf, »wer in der letzten Runde Strafkarten gezogen hat, muss aussetzen. Da sind die Taks-Regeln ziemlich eindeutig. Nicht wahr, Zilberpardel?«

»Für dich auch einfach Zilber«, grinste dieser und musterte Wolf mit einem Ausdruck überraschter Achtung.

Wutschnaubend packte Balderdachs seinen Bierkrug und stürzte den Inhalt hinunter. Seine Karten ließ er liegen.

Zilber nahm sich einen der Silberstreuner und legte dafür eine Zehn ab.

Wolf war an der Reihe. Er seufzte gedehnt. Nein, das war wirklich ein unverschämt gutes Blatt. Wenn er Lúpa davon erzählte, würde sie ihn für einen Lügner oder gar Falschspieler halten. Balderdachs sah ihm entgeistert dabei zu, wie er mit geübten Fingern vier Karten aus seinem Fächer auf der Tischplatte zu einem Häuschen zusammenstellte und mit einer fünften Karte abdeckte.

Wolf grinste und blies gegen das Kartenhaus. Es stürzte ein und offenbarte – vier Goldstreuner und obenauf eine Sechs.

Mit dem Rest seiner Viertelgallone Wein prostete Wolf lächelnd seinen Gegnern zu.

»Die Goldene Sänfte«, hauchte Balderdachs, den starren Blick auf die Karten geheftet, die Schwanzspitze wie ein gefroren.

»Unglaublich«, staunte Falbe mit weit aufgerissenen Augen.

Zilber nickte kühl und leerte seine Ziegenmilch.

»Und jetzt?«, fragte Balderdachs. Er hatte seine Fassung wiedergewonnen, doch sämtliche Überlegenheit war aus seinen Zügen und seiner Haltung gewichen. Er blickte Wolf kaum mehr in die Augen und hielt Schwanz und Ohren gesenkt.

»Jetzt gehe ich«, erwiderte Wolf, »wie ich es vorhin angekündigt habe. Ich hatte meine Rache und …«

Meine Rache!, schoss es ihm durch den Kopf. Rikkulin!

Wie spät mochte es sein? Im Rausch des Spiels hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Er musste nach Axthill, die Scherenschrecke finden und Lúpa warnen!

In der Wirtsstube tummelten sich mittlerweile viele Gäste.

Draußen war es dunkel geworden. Das Innere des Heulenden Elends beleuchtete eine ölbetriebene birnenförmige Deckenlampe aus Glas. Die drei Musiker, die ab der neunten Stunde die Kundschaft zu unterhalten pflegten, waren noch nicht da. »Aber du kannst doch nicht einfach so abhauen«, brummte Balderdachs. »Ohne dass du uns von deiner Mission erzählt hast, meine ich.«

»Das war auch nicht Teil der Abmachung, ganz im Gegenteil!«, zischte Wolf gereizt, während er seinen Gürtel festzurrte.

»Ich habe gewonnen, kapiert? Jetzt gehe ich. Hab schon genug Zeit verloren und …«

»Seht ihr diese schwarz vermummten Kerle?«, unterbrach ihn Zilber mit seltsam heiserer Stimme. Er wies mit gerümpfter Nase in Richtung Ausschank. »Die sind uns vorhin durch die halbe Stadt gefolgt. Bevor wir hier herkamen, müssen sie irgendwo abgebogen sein.«

Wolf wandte sich um. Ein eisiger Schreck fuhr ihm in die Glieder. Am Tresen stand ein schmächtiger, in eine schwarze Kutte gehüllter Mann. Sein Gesicht konnte Wolf nicht sehen, da er ihm den Rücken zukehrte und mit dem Wirt ins Gespräch vertieft war. Daneben standen zwei weitere Gestalten, deren Köpfe von schwarzen Kapuzen verhüllt waren. In einer der beiden glaubte Wolf den Spion wiederzuerkennen, der ihm tags zuvor an der Palastmauer aufgefallen war. Aber genauso gut konnte er sich täuschen.

»… ja … schon länger hier«, hörten seine scharfen Ohren den Wirt sagen. »… Streuner … ja, ab und zu … nein, nie gehört, den Namen …«

Rasch drehte er sich zu Balderdachs und seinen Begleitern um. »Die haben euch verfolgt?«, vergewisserte er sich. »Hättet ihr mir das nicht früher sagen können?«

»Ich hab sie sogar gesehen«, behauptete Falbe. »Aber …«

»Hört zu, wir haben keine Zeit zu verlieren, die meinen es ernst!«, unterbrach ihn Wolf. »Wenn ich ›jetzt‹ sage, springt ihr auf und rennt durch die Küche zur Hintertür. Verlasst euch dabei auf eure Ohren und eure Nase, kapiert?« Er lugte über die Schulter zur Theke.

Der mittlere der drei Schwarzgekleideten redete leise und eindringlich auf den Wirt ein. Dieser nickte ein-, zweimal.

Während er das Geschehen aus dem Augenwinkel weiterverfolgte, griff Wolf nach Balderdachs′ Bierkrug.

Der Wirt nickte wieder und deutete auf den Tisch, an dem die vier Streuner saßen.

Die Vermummten drehten sich zu ihnen um und zogen aus den Falten ihrer Gewänder schmale gekrümmte Klingen. Mit erhobenen Waffen setzten sie sich in Bewegung. Ein paar Gäste stießen erschrockene Rufe aus.

»Jetzt!«, schrie Wolf, holte aus – und schleuderte den Krug zielgenau auf die Lampe.

Er sah noch, wie sich die Tür des Wirtshauses öffnete und weitere in Schwarz gewandete Gestalten hereinströmten. Dann traf der schwere Humpen die Öllampe. Das dünne Glas zerbarst mit einem Knall, und es wurde stockdunkel.

Entsetzte Schreie wurden laut. Tische und Stühle wurden umgestoßen, der Wirt brüllte vergeblich nach einem Glimmspan.

Wolf hörte, wie Falbe und Balderdachs von ihren Plätzen aufsprangen und in Richtung Küche hechteten. Er versuchte, ihrer Duftspur zu folgen, roch das zerstäubte Steinöl aus der Lampe und verlor für einen Moment die Orientierung. Er spürte, wie jemand in seiner Nähe ausholte, duckte sich blitzschnell und hörte gleich darauf etwas Schweres knapp hinter sich in die Wand einschlagen. Er wollte weiterhasten, stolperte aber über irgendetwas und schlug der Länge nach hin.

Die Gäste schrien voller Panik durcheinander. Die Angreifer schlugen bestimmt wahllos auf alles ein, was sich bewegte oder ihnen in der Dunkelheit in die Quere kam. Die Truppe des Schnitters . Sie machte kurzen Prozess, nachdem ihr erster Versuch, Wolf auszuschalten, fehlgeschlagen war. Lieber jetzt einen Unschuldigen zu viel töten, als ihn erneut entkommen zu lassen …

Er versuchte sich aufzurappeln – da griff jemand nach seinem linken Fuß und hielt ihn eisern fest. Wolf rollte sich herum und zog einen Saï aus dem Gürtel.

»Bleib unten!«, befahl derjenige, der ihn festhielt. Der Stimme nach musste es Zilber sein. Wolf gehorchte. Im selben Moment packte jemand seinen rechten Oberarm. Er fackelte nicht lang, sondern stieß mit dem Saï zu, den er in der Hand hielt, spürte fleischigen Widerstand. Ein schriller Schrei erscholl direkt über ihm, und er kam frei.

»Weiter, los!«, rief Zilber, der ihn ebenfalls losgelassen hatte.

Wolf sprang auf und stürzte in Richtung Küche. Er fand den Durchgang, den ein schwerer, fettiger Leinenvorhang bedeckte, drückte sich hindurch und wäre fast von Balderdachs erneut zu Fall gebracht worden, der, mit einem Beil bewaffnet, innen bereitstand.

»Das hat aber lange gedauert«, sagte er grinsend. Die Küche war vom Herdfeuer und ein paar Kerzen schwach erleuchtet.

Falbe machte sich bereits an der abgeschlossenen Hintertür zu schaffen.

»Ist das ein Überfall?« Der Koch, ein über die Maßen fetter Mensch mit blutbefleckter Schürze, kam aus der Speisekammer und warf angesichts der kampfbereiten Streuner hilflos die Arme in die Luft. »Hier gibt es nichts zu holen, also verschwindet!«

Wolf wandte sich um. Hinter ihm erschien wie erwartet Zilber, der einen langen Speer in Händen hielt. Noch bevor Wolf verstand, was geschah, wurde der Vorhang erneut zur Seite gerissen, und zwei der Schwarzvermummten drängten in die Küche. Den ersten fällte Balderdachs mit einem gezielten Schlag der stumpfen Seite seines Beils gegen die Schläfe. Mit einem erstickten Laut brach der Getroffene zusammen.

Blitzschnell hatte sich der zweite dessen Waffe gegriffen und ging nun, messerscharfe Sichelschwerter in beiden Händen, zum Angriff über.

»Sofort raus mit euch!«, schrie der Koch außer sich.

Keiner gehorchte. Wolf verrammelte die Tür zur Gaststube und zog sein Schwert. Zilber versuchte, den Gegner mit dem Speer auf Distanz zu halten. Dieser war kein Anfänger, das war ihnen rasch klar. Er wich einem Hieb von Balderdachs aus und nutzte den Schwung, um in derselben Bewegung seitlich an Zilber heranzukommen. Das Sichelschwert pfiff haarscharf an dessen Flanke vorbei.

»Auf hören!!!« Die Stimme des Kochs überschlug sich. »Ich werde euch …« Ein dumpfer Schlag schnitt seine Drohung ab. Er verdrehte die Augen, kippte zu Boden und begrub beim Aufprall drei berstende Weinkrüge unter seinem massigen Körper. Hinter ihm kam Falbe zum Vorschein, bewaffnet mit einer gusseisernen Bratpfanne.

»Die Tür ist offen«, rief er. »Weg hier!«

Wolf hörte ihn kaum. Er sah seine Gelegenheit, als der Vermummte eines seiner Schwerter etwas zu weit weg vom Körper hielt. Die Haken an Medimóntiers Parierstange umgriffen die gekrümmte Klinge und entwanden sie seinen Händen. Fast gleichzeitig täuschte Zilber einen Stoß vor. Sein Gegner wehrte ihn ab, indem er die Klinge seines verbleibenden Schwertes mit dem Schaft des Speeres verkantete. Doch die Spitze war schon zu nah an ihn herangekommen.

»Nicht!«, rief Wolf, der ahnte, dass Zilber die Gelegenheit nutzen würde. »Ich muss wissen …«

Zilber achtete nicht auf ihn, sondern rammte seinem Gegner den Speer mit aller Gewalt in die ungeschützte Brust. Das Schwert entglitt dem Vermummten, seine Hände griffen nach dem Schaft. Zilber ließ nicht los, sondern vollführte eine halbe Drehung. Der Durchbohrte wurde mitgeschleudert, stieß den Kessel zur Seite und fiel ächzend ins Herdfeuer. Zuckend blieb er in den Flammen liegen. Mit einem grausig anzuhörenden Geräusch riss Zilber den Speer aus seinem Körper. Blut und Fetzen von Haut und Fleisch spritzten auf den Steinboden vor dem Ofen. Ein widerlicher Geruch nach verbranntem Haar und schwelendem Fleisch verbreitete sich.

»Kommt endlich!«, rief Falbe mit eingezogenem Schwanz. Seine beiden Freunde folgten ihm hinaus. Wolf schob dem zuerst Getöteten mit dem Fuß die Kapuze vom Kopf. Er war ein Mensch, doch er kam Wolf nicht bekannt vor.

»Wo bleibst du?«, hörte er Falbe rufen, während sich jemand im Schankraum an Vorhang und Tür zu schaffen machte. Wolf riss seinen Blick vom Gesicht des unbekannten Angreifers los und eilte ins Freie.

Der unbeleuchtete Hinterhof der Gaststube war nur von Ratten und Krähen bevölkert. Aus dem Heulenden Elend drangen weiter die Laute der kämpfenden Menge; offenbar war es dem Wirt noch immer nicht gelungen, für Licht zu sorgen.

»Und was jetzt?«, fragte Balderdachs, das Küchenbeil lässig über die Schulter gelegt.

»Wir müssen verschwinden«, erwiderte Wolf und sah sich unruhig um. »Je eher wir von hier wegkommen, desto besser.« Er deutete nach links. »Irgendwo da drüben gibt es einen Durchgang zur Kehrstraße. Ist nicht piekfein, aber dafür kennt ihn niemand. Mir nach!«

Der geheime Durchgang war eine höchstens schulterbreite Gasse zwischen zwei Häusern, deren Bewohner ihren Unrat aus den Fenstern hinunterzukippen pflegten. Zäher Schlamm bedeckte den Boden, und es stank erbärmlich. Nicht ohne Grund hatte Wolf diesem Schleichweg den Namen »Kotgasse« gegeben, als er ihn zum ersten Mal benutzt hatte. Doch schon nach wenigen Schritten erreichten die vier einen Spalt, der auf die Kehrstraße mündete.

»Da wären wir.« Wolf lächelte grimmig. »Was sagt ihr zu meiner Stadtführung? Nur bei mir lernt ihr Tanár von seinen ausgefallensten Seiten kennen.«

»Und von seinen dreckigsten«, brummte Zilber, der sich auf seinen Speer stützte. Sein Fell schien im Licht des unter der Wolkendecke hervorscheinenden Vollmonds wie überirdisch zu leuchten.

Balderdachs lachte. »Ach was! Das bisschen Dreck wird dich nicht umbringen, mein Freund.« Gut gelaunt wandte er sich an Wolf. »Wohin führst du uns als Nächstes?«

»Erst einmal raus aus der Stadt«, sagte dieser prompt.

»Wieso das?«

»Wir könnten uns doch bestimmt irgendwo in Tanár verstecken«, ergänzte Falbe.

»Nein. Man wird uns verfolgen und …« Wolf unterbrach sich. Er hatte Zilber angesehen, und sein Blick war an dessen Waffe hängengeblieben. Am hinteren Ende des Speerschafts war etwas befestigt.

Eine Feder.

Ein Schloss in Wolfs Verstand, für das es keinen Schlüssel gegeben hatte, schien klickend aufzuspringen.

Reflexartig sprang er auf den weißen Streuner zu. Zilber, von dem plötzlichen Angriff völlig überrascht, strauchelte und fiel rücklings zu Boden. Schon war Wolf über ihm, packte den Speer an beiden Enden und drückte ihn auf Zilbers Kehle.

»Woher hast du diese Waffe?«, fauchte er zornig, so dass ihm der Geifer von den Lefzen troff.

Doch er hatte sich von seiner Wut über den Mord an Graubart hinreißen lassen und dabei die Risiken übersehen. Im Nu rissen Zilbers Hände die beiden Saï aus Wolfs Gürtel. Die Spitzen drückten sich ihm schmerzhaft in den Bauch.

»Wenn du mich loslässt, sag ich′s dir vielleicht«, presste Zilber hervor. »Wenn nicht … Durchbohren geht schneller als Erwürgen, glaub mir.«

»Hört auf!«, befahl Balderdachs scharf. »Diese Kuttentypen haben es auf uns abgesehen!«

»Ach nein, wem sagst du das«, brummte Wolf. Widerwillig ließen er und Zilber voneinander ab. »Und jetzt erzähl mir endlich …« »Wir verlieren gerade unseren Vorsprung«, ließ sich Falbe vernehmen.

Tatsächlich waren aus der Kotgasse Schritte und gedämpfte Befehle zu hören.

»Verflucht«, entfuhr es Wolf. »Zu Fuß werden wir sie nie abschütteln.«

»Ich habe eine Idee«, sagte Falbe und deutete in Richtung Fluss. »Kommt, schnell!«

Die vier eilten zum Ufer hinunter. Dort angekommen, sprang Falbe in eine von drei Treibgondeln, die am Steg vertäut waren. Wolf folgte ihm.

»He!«, sagte Balderdachs mit anerkennendem Nicken. »Der Kleine beginnt sich auszuzahlen. Vielleicht war es doch kein Fehler, ihn mitzunehmen.«

»Der Fluss?« Misstrauisch beäugte Zilber das Wasser. »Das

scheint mir keine gute Idee zu sein.«

»Mir schon.« Balderdachs schubste ihn in die Gondel und sprang als Letzter hinein. Mit einem Hieb seines Beils durchtrennte er das dünne Drahtseil, mit dem sie gesichert war. Falbe holte Riemen hervor und übernahm die Steuerung, während die anderen drei sich mit Abstoßen und Paddeln ins Zeug legten. Die beiden verbliebenen leeren Gondeln wurden in die Dunkelheit abgetrieben.

Rasch nahmen sie an Fahrt auf, und die Stimmen ihrer Verfolger verloren sich. Die Häuser von Kehrdorf und Lesh glitten zu beiden Seiten an ihnen vorbei.

»Jetzt sitzen wir alle im selben Boot«, sagte Balderdachs nach einer Weile zu Wolf, der vor ihm saß.

»Was meinst du damit?«, gab er knapp zurück.

»Du verstehst mich nur zu gut!« Balderdachs hörte auf zu paddeln. »Schaff endlich Klarheit! Warum bist du unterwegs? Und wir jetzt mit dir? Dafür muss es doch einen triftigen Grund geben.«

»Wie wär′s damit: Meine Bleibe wurde demoliert, mein Nachbar ermordet und mein Spiegel mit seinem Blut beschmiert. Ich will die Verantwortlichen stellen. Ihr seid mir dabei in die Quere gekommen, also helft ihr mir jetzt gefälligst.«

»Dein Spiegel«, sagte Zilber in entgeistertem Tonfall, »und dein Nachbar … was haben die mit dem Frieden in Lesh-Tanár zu tun?«

»Würde mich auch interessieren«, ergänzte Balderdachs.

»Das erklär ich euch später. Jetzt müssen wir erst mal aus Tanár verschwinden. Man wird uns jagen.« Verbissen paddelte Wolf weiter. »Wer aber lieber aussteigen will, braucht nur Bescheid zu sagen. Ich komme auch allein zurecht.«

Lúpa hoffentlich auch, setzte er in Gedanken hinzu. Es war zu spät, sie zu warnen. Womöglich führte er die Schergen des Schnitters erst zu ihr, wenn er jetzt nach Axthill ging. Allen falls konnte er versuchen, ihr von außerhalb der Stadt eine Nachricht zukommen zu lassen.

Balderdachs bohrte nicht weiter nach. Auch seine beiden Gefährten schwiegen. Wolf wusste, was das bedeutete. Jetzt hatte er das Sagen. Er war der neue Anführer der Gruppe.

Fantasy Collection III

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