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Pelzjäger

Anweisung von General Nachtschatten, Oberbefehlshaber der königlichen Armee von Téan Hu:

Am ersten Tag des kommen den neuen Monats haben sich alle jetzigen, früheren und dauerhaften Mitglieder des Heeres zwischen Sonnenaufgang und Mittagsstunde zur Bestandsaufnahme und Truppeneinweisung auf dem Übungsgelände westlich des Palastes einzufinden.

Ebenso aufgerufen sind sämtliche Gardisten,

Reserve- und Wachsoldaten bis Rang fünf, des weiteren Knappen, Waffenknechte und Stallburschen.

Alle anderen waffenfähigen Streuner

(Gildenmitglieder mit schwarzem Fell bevorzugt),

Elben und Menschen sind ebenfalls zu erscheinen verpflichtet, sofern sie das Mannesalter erreicht haben und mindestens drei Jahre kampferprobt sind.

»Nicht zu fassen«, presste Balderdachs zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Dieser Schafskopf von einem General bläst tatsächlich zum Angriff gegen Hylándia!«

»Wundert dich das?«, entgegnete Wolf. »Nachtschatten glaubt, dass der Süden hinter dem Mord an König Ņátahi steckt.«

»Und er irrt sich. Anstatt in der ganzen Stadt Plakate aufhängen zu lassen, sollte er lieber den Schnitter jagen!«

»Der Schnitter ist entkommen, das haben sie doch gestern überall ausrufen lassen«, gab Falbe zu bedenken.

»Nur dass sie ihn nicht Schnitter genannt haben, sondern unbekannten Südling. Diese Idioten!« Balderdachs stampfte mit dem Fuß auf.

»Vielleicht tut Nachtschatten das Richtige«, meldete sich Lacríma zu Wort, die neben Wolf stand und bislang geschwiegen hatte. »Schließlich muss der Schnitter Hilfe gehabt haben, um unbemerkt in den Korb unter dem Ballon klettern zu können.«

»Du meinst, diese Helfer könnten Leute aus dem Süden gewesen sein?«, fragte Wolf zweifelnd.

»Weibergeschwätz«, brummte Zilber hinter vorgehaltener Hand. Wolf hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen.

»Jeder der Ballons«, fuhr Lacríma fort, die die Beleidigung nicht gehört zu haben schien, »wurde von einer Gesandtschaft aus der entsprechenden Region mitgebracht. Und jede Gesandtschaft hat ihren Ballon vor dem Fest in die Luft steigen lassen. Außer ihnen und der königlichen Garde hatte niemand Zugang zu den entsprechenden Stellen.«

»Das alles gibt Téan Hu nicht das Recht, den Süden anzugreifen«, widersprach Balderdachs. »Man hat ja noch nicht einmal Beweise.«

»Das ganze Volk hat gesehen, dass der Mörder vom Südballon aus auf die Plattform gesprungen ist, als …«

»Was besagt das schon!«, fiel Zilber ihr ins Wort. »Er hätte genauso gut einen anderen nehmen können.«

»Zweifelst du etwa daran, dass der Schnitter den König getötet hat?«, pflichtete ihm Balderdachs bei.

Eine Weile betrachteten sie alle schweigend das Pergament mit dem Aufruf, den die Palastwache im Laufe der letzten drei Tage an jede Hauswand genagelt und zur Sicherheit überall laut hatte verlesen lassen.

»Wir haben kläglich versagt«, brummte Wolf schließlich niedergeschlagen. »Der Schnitter ist wahrscheinlich schon auf dem Weg in die nächste Stadt … und ich bin ein elender Volltrottel.« Schuldbewusst schaute er Lacríma an, die nicht zu verstehen schien, was er meinte.

»Es gibt eine einfache Lösung«, sagte sie mit ihrer weichen, volltönenden Stimme. »Ihr schließt euch der Armee von Téan Hu an.«

»Niemals!«, blaffte Balderdachs.

»Wieso sollten wir?«, wollte Zilber wissen.

»Weil die Diener des Schnitters es tun werden.«

Wolf überlegte. Wenn er sich recht erinnerte, hatte der Glatzköpfige bei der Versammlung in den Yolánischen Katakomben tatsächlich diese Anweisung gegeben.

»Der Schnitter geht nach Süden, und mit ihm seine Getreuen«, fuhr Lacríma fort. »Wir müssen ihnen nach Hylándia folgen.«

»Ohne mich.« Balderdachs verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihr wollt euch an einem Krieg beteiligen, den der Schnitter anzuzetteln versucht. Das ist Wahnsinn!«

»Aber auch das einzig Vernünftige, was wir in dieser Situation tun können«, erwiderte Wolf gereizt. »Sieh′s doch ein – nur so können wir dem Schnitter und seinen Leuten auf den Fersen bleiben.«

Balderdachs schüttelte den Kopf und schwieg.

»Ich finde, wir sollten uns diesem General Nachtschatten am Monatsersten nochmal zeigen«, sagte Zilber in überraschend versöhnlichem Tonfall. »So erfahren wir, ob er uns überhaupt brauchen kann in seinem Heer. Und dann sehen wir weiter.«

»Warum sagen wir ihm bei der Gelegenheit nicht einfach, was wir wissen?«, schlug Balderdachs vor. »Wir könnten sowohl den Krieg verhindern als auch dem Schnitter einen Strich durch die Rechnung machen. Und ihm vielleicht die Elitetruppen von Téan Hu auf den Hals hetzen.«

»Nein!« Lacríma starrte ihn händeringend und mit vor Furcht weit geöffneten Augen an. »Ihr seid dem Schnitter schon jetzt ein Dorn im Auge. Er würde euch sofort hinrichten lassen für euren Verrat! Vorausgesetzt, es gelänge euch überhaupt, Nachtschatten zu überzeugen. Wer weiß, vielleicht gehört er selbst zu den Getreuen des Schnitters – denkt an General Várun. Bitte bringt euch nicht unnötig in Gefahr!« Ihr flehender Blick heftete sich auf Wolf.

Noch einmal liefere ich mich nicht auf dem Silbertablett dem Schnitter aus, dachte er. Ich darf keinen weiteren Mord wie den an Graubart verantworten.

»Wir werden tun, was Zilber vorgeschlagen hat«, entschied er. »Und den Schnitter selber jagen. Ihr seid meine Freunde. Auf General Nachtschatten kann ich nicht zählen. Aber auf euch!« Balderdachs war anzusehen, dass er Wolfs Meinung ganz und gar nicht teilte. Er erwiderte nichts, sondern wandte sich ab und marschierte in Richtung Stadttor davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

In den folgenden Tagen sah Wolf seine Freunde selten. Tagsüber streifte er mit Lacríma durch die Stadt, aß, trank, plauderte und lachte mit ihr. Nachts teilte sie ihr Lager mit ihm – eine kleine Burg aus Kissen, Decken und Draperien aus Seide, die sie im offenen Säulengang ihrer Villa errichtet hatten, um den grandiosen Ausblick über das Giebelmeer Téan Hus zu genießen, solange noch ein lauer Südwind über die Dächer wehte und sich an den Hängen des Tafelbergs brach.

Vielleicht ist dies die letzte warme Nacht in diesem Jahr, dachte Wolf. Er lag auf dem Rücken. Lacríma hatte sich an ihn gekuschelt und suchte ihm Brust und Bauch nach Haarbüscheln ab, die sich leicht lösen ließen. Der Fellwechsel hatte diesen Herbst ein wenig später eingesetzt als sonst.

»Tut das weh?«, fragte sie fürsorglich.

»Im Gegenteil«, brummte er zufrieden. »Dank dir juckt es nicht mehr so fürchterlich.«

Sie lachte leise und pustete ihm zärtlich ins Ohr, während sich ihre Finger weiter durch seinen zerzausten Pelz arbeiteten. Manchmal ließ sie ihre Hand einfach liegen, und er genoss das sanfte Gewicht ihres Arms auf seinem Körper. »Du Armer. Und ich dachte immer, ich hätte mit meinen Haaren schon genug zu kämpfen! Zweimal im Jahr die ganze Unterwolle loszuwerden muss eine Tortur sein. Hilft dir sonst niemand dabei?«

»Doch«, erwiderte er, »aber sie ist weit weg und kann uns heute Nacht nicht stören.« Er ließ ein liebevolles Grollen hören.

Lacríma kicherte, und ein Schauder lief ihr über Schultern und Arme. Er richtete sich auf und betastete neugierig mit zwei Fingerkuppen ihre Gänsehaut.

»Gefällt dir, stimmt′s? Kann sie das auch?«

»Sie ist eine Streunerin«, sagte er, um Lacrímas Neugierde zu befriedigen. »Ich will jetzt nicht an sie denken.«

»Du vermisst ihr Fell, gib′s zu.«

Er antwortete nicht, sondern musterte für einen kurzen Augenblick ihren nackten Körper. Dann warf er sich plötzlich herum und war auf allen vieren über ihr. Sie lachte überrascht auf. Er fühlte, dass er schon wieder für sie bereit war.

»Ja, ich … vermisse sie«, sagte er. »Manchmal jedenfalls. Aber seit ich dich getroffen habe …« Er näherte sein Gesicht dem ihren, um ihr den Rest des Satzes zuzuflüstern. Als er mit der Schnauze ihre Haare beiseite schob, kam ihr Ohr zum Vorschein. Es zog sich lang nach hinten – und lief in einer feinen Spitze aus.

Wolf war wie vom Donner gerührt.

»Du bist eine Elbin!«, stieß er hervor. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«

Lacríma musterte ihn ohne zu blinzeln, während sich auf ihrer Stirn winzige Schweißperlen bildeten.

»Nun hast du mein letztes Geheimnis ergründet, Wolf von Tanár. Ja, ich bin eine Elbin. Albin wäre allerdings richtiger: Meine Mutter war eine Menschenfrau, mein Vater ein Elb. Wir Halbelben verbergen gewöhnlich unsere wahre Abstammung, weil wir für meinen Vater und seinesgleichen noch weniger gelten als die Menschen.«

Wolf ließ von ihr ab. Nun wusste er, warum sie ihm bei ihrer ersten Begegnung so unnatürlich wendig und ausdauernd vorgekommen war.

»Wo liegt Táegaran?«, wollte er wissen, während er sich neben ihr ausstreckte.

»Geh nach Osten, bis du ans Meer kommst. Segle von dort aus um die halbe Welt. Sobald du Fjorde aus Eis siehst, geh an Land und wandere noch dreimal bis zum Horizont. Dort liegt meine Heimatstadt.«

Wolf stutzte. Eine so unvorstellbar lange Reise war wohl kaum innerhalb eines einzigen Lebens zu bewältigen.

»An Zeit, um sie so weit hinter mir zu lassen, mangelte es mir nicht«, fuhr Lacríma fort, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Und ich werde auch niemals wieder dorthin zurückkehren.«

»Wann bist du weggegangen? Und warum?«

»Es muss an die achthundert Jahre her sein.« Sie lachte.

»Schau nicht so verdutzt! Warum, glaubst du, gelten wir wohl als un sterblich ? … Und wieso ich damals von zu Hause weggegangen bin – ich weiß es nicht mehr. Vielleicht hatte es mit meiner Mutter zu tun. Oder mit meinem Vater. Jedenfalls war es für mich nicht leicht, einen Platz in der Welt zu finden. Wir Alben werden von den Elben verabscheut, und die Menschen begegnen uns mit Misstrauen. Ich musste mich allein durchschlagen und …«

»Wie bist du an den Schnitter geraten?«

Lacríma starrte ihn entgeistert an.

»Ich meine, wieso hat er dich zu der Versammlung in den Yolánischen Katakomben eingeladen, wo du doch gegen ihn arbeitest?«

»Er hat mich nicht eingeladen«, entgegnete sie. »Meine Leute erfuhren von General Váruns Verrat und davon, dass sich Gestalten in schwarzen Kutten in Téan Hu zusammenrotteten. Sie schlossen daraus, dass die Vermummten mit dem Schnitter in Verbindung stehen mussten. Daraufhin haben sie zwei von ihnen … geschnappt und ausgehorcht und dir und mir dadurch die Möglichkeit verschafft, das Treffen zu infiltrieren.«

»Was ist aus den beiden Gefangenen geworden?«

»Sie wurden beseitigt«, sagte Lacríma kühl.

Das hatte er sich fast gedacht.

»Und wie hast du es geschafft, in den elbischen Adel aufgenommen zu werden?«

Sie räkelte sich mit einem siegessicheren und zugleich auffordernden Lächeln. »Die Macht der Überzeugung. Vergiss nicht, ich lebe schon lange in Téan Hu. Längst habe ich mir bei den richtigen Leuten gewisse Verdienste erworben.«

»Du bist ein einziges Rätsel«, bemerkte Wolf halb bewundernd.

»Stimmt«, sagte sie und begann, seine Achselhöhle zu kraulen.

»Erzähl mir von deiner Streunerin.«

»Lúpa ist nichts Besonderes«, hörte Wolf sich sagen und bat Selbige insgeheim darum, ihm zu verzeihen. Doch Lacríma nicht unnötig eifersüchtig zu machen, erschien ihm in diesem Moment wichtiger. »Ich frage mich, ob ich sie jemals wiedersehen werde.«

»Bestimmt«, meinte Lacríma. Seinem feinen Gehör entging nicht, dass sich ihr Atem ein wenig beschleunigte. »Außerdem hast du ja deine Freunde. Sie müssen dir langjährige, treue Gefährten sein.«

»Ich kenne sie erst seit kurzem. Dafür haben wir schon einiges zusammen durchgemacht.«

»Das glaube ich gern. Gegen den Schnitter kann man nur gemeinsam bestehen.« Da Wolf nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Und indem man einander vertraut. Je mehr man über den anderen weiß, desto leichter entsteht Vertrauen.«

Wolf musste flüchtig daran denken, wie wenig er letztlich über seine drei Begleiter wusste. Dann kehrten seine Gedanken zu Lacríma zurück.

»Balder ist ein Zauberer, nicht wahr?«, fuhr sie fort. »Und Zilber ist ein hervorragender Kämpfer – obwohl er außer dem Speer bestimmt keine einzige Waffe richtig zu führen versteht …«

»Hör auf!«, zischte Wolf wütend. Lacríma hatte kein Recht, die beiden zu verspotten. Sie gehörte nicht zu ihrer Gemeinschaft, sie war ja nicht einmal eine Streunerin!

»Entschuldige«, sagte sie kleinlaut. »Ich wollte ihn nicht beleidigen. Nicht jeder Streuner kann sich wie er auf seine bloßen Zähne, Klauen und Muskeln verlassen. Das ist natürlich ein Vorzug.«

»Mag sein«, knurrte Wolf, der seine eigenen Vorzüge zu kennen glaubte, »aber für dich ist er nicht Zilber, klar?«

»Wer denn dann?« Lacríma streckte ihren schlanken Körper. In ihren Augen flackerte es keck. »Soll ich ihn selber fragen? Er wird mich bestimmt gut leiden können, wenn er mich erst einmal so gut kennt wie du. Und mir alles sagen, was ich wissen will.«

Bei diesen Worten spannten sich nicht nur Wolfs Muskeln. »Reiche ich dir etwa nicht? Warte nur, Lacríma von Táegaran, bis ich mit dir fertig bin …«

Er stürzte sich auf sie, und sie zog ihn kichernd zu sich herab. Im Nachtwind bauschten sich die Seidentücher.

Sie schlief fest, als er sie verließ. Wolf unterdrückte das Bedürfnis, am Haus sein Zeichen zu hinterlassen; die weißgekalkte Wand wirkte zu rein, zu unschuldig. Umso eher würde er wiederkommen müssen. Wie viele Nächte mochten ihnen bleiben? Wolf zählte die Tage: Wenn er sich nicht verrechnet hatte, war in fünf Tagen Vollmond – und mit diesem brach in Lesh-Tanár der jeweils neue Monat an, seit König Bohóran der Verrückte vor über hundertfünfzig Jahren den Kalender reformiert hatte.

Fünf Tage also. Lacríma hatte angekündigt, mit dem Heer nach Süden zu gehen, und darauf gedrängt, dass er sie begleiten möge. Doch würden Balderdachs und Zilber ihm weiter folgen?

Während er durch die dunklen Straßen schlich, überlegte er, ob womöglich der Zeitpunkt des Abschieds von seinen drei Freunden unaufhaltsam nahte.

Dank Lacríma wusste Wolf mittlerweile, welche Gassen man als Streuner besser mied, weil sich dort Pelzjäger herumtrieben. Téan Hu war um einiges kleiner als Tanár, und doch schienen die Gegensätze innerhalb der Stadt größer zu sein. Es gab vollkommen unbewohnte Viertel, wo Bäume aus halb verfallenen Hütten wuchsen, und dann wieder prunkvolle Bauten mit begrünten Dächern und Marmortäfelungen oder blattgoldverzierten Emblemen Syóls, des Sonnengottes. Die Bewohner der Stadt konnten genauso grundverschieden sein wie ihre Behausungen – dem harfespielenden Elbenprinzen stand der grobschlächtige Pelzjäger gegenüber, der jeden zu töten bereit war, solange er nur genug Geld dafür bekam.

Wolf war die Stadt der Untergehenden Sonne nun schon fast so vertraut wie eine zweite Heimat – obwohl er erst wenige Tage hier verbracht und schlimme Dinge miterlebt hatte. Doch General Váruns Tod, der Angriff der Pelzjäger und selbst die Ermordung König Ņátahis verblassten in Wolfs Bewusstsein, wenn er daran dachte, dass er hier Lacríma begegnet war. Sie liebte ihn ebenfalls, so viel war sicher. Er riskierte es sogar sich auszumalen, mit ihr dort oben dauerhaft zu leben und ihr Nacht für Nacht zu beweisen, dass er ihrer würdig war. Dann löste sich die Vorstellung auf wie Schaum, als ihm Lúpa wieder einfiel. Die Sehnsucht nach ihr schwelte in ihm, dass er den Schmerz fast körperlich fühlen konnte. Er brauchte sie genauso sehr wie Lacríma.

Wie mochte das alles enden?

Auf dem Platz am Fuße des Tafelbergs war heute Markt, die ersten Buden öffneten gerade ihre Klappläden. Für ein paar Groschen besorgte sich Wolf zum Frühstück gerösteten Karpfen mit Klettenwurzeln und Butterzwiebeln. Der Fisch war ganz nach seinem Geschmack, alles andere widerte ihn schon beim ersten Bissen an. Er warf es in die Gosse und stromerte mit knurrendem Magen die Hauptstraße entlang in Richtung Stadtrand. In manchen Hinterhöfen krähten Hähne. Langsam wurde es hell; dichte Wolken bedeckten den Himmel.

Als er in die Gasse einbog, die zu den Reservestuben in der Stadtmauer führte, witterte er gleich, dass etwas nicht stimmte. Der Wind trug ihm einen süßlichen Geruch entgegen, der etwas Falsches an sich hatte. Schon einmal hatte er diesen Duft wahrgenommen. Wolf fing an zu laufen.

Am Ende der Gasse blieb er stehen. Seine Kehle schnürte sich zu, sein Fell sträubte sich am ganzen Körper: Eine blutige Schleifspur, sicherlich eine Elle breit, zog sich an der Mauer entlang. Die gespenstische Stille, die über dem ganzen Viertel hing, kroch in seine Seele und weckte eine namenlose Angst. Er zwang sich zum Weitergehen. Die Spur führte genau auf die beiden Stuben zu, die Lacríma ihm und seinen Freunden zugewiesen hatte.

Was mochte geschehen sein? Ohne darüber nachzudenken, zog Wolf sein Schwert. Die Tür zu seiner und Falbes Kammer war geschlossen. Die Blutspur führte daran vorbei – und auf den Eingang der anderen zu. Ein paar Schritte davon entfernt blieb er stehen. Die Tür war offen, der Raum lag im Dunkeln. Täuschte er sich, oder drang tatsächlich ein leises Wimmern daraus hervor … wie von einem verlassenen Welpen oder von einem geprügelten Hund?

»Balder?«, rief er halblaut. »Zilber?«

Keine Antwort, doch das Wimmern brach abrupt ab. Nun herrschte Totenstille.

Den Schwertgriff vor seiner rechten Schulter mit beiden Händen umklammert, steuerte Wolf auf die Tür zu und stieß sie mit dem Fuß ein wenig weiter auf.

Ein wüster Kampf hatte in der Behausung seiner beiden Freunde getobt. Die Regalbretter waren heruntergebrochen, überall lag zerschmettertes Tongeschirr herum. Auf dem Boden, an den Wänden, ja sogar auf den Lagern – überall war Blut. Doch ein ganz anderer Anblick verschlug Wolf den Atem: Mitten in all dem Chaos kauerte Zilber, den Rücken dem Eingang zugekehrt, die Ohren nach hinten gerichtet. Auch sein Fell war voller Blut.

Ohne Vorwarnung wirbelte Zilber herum. Er sah grässlich aus: Sein Rachen war aufgesperrt, die Augen weit aufgerissen, sein Oberkörper dunkelrot, als hätte er in Blut gebadet. Er knurrte in der tiefsten und gefährlichsten Lage seiner Stimme und funkelte Wolf wütend an. In seinem Ausdruck und in dem Laut, den er von sich gab, erinnerte nichts mehr daran, dass er ein denkender und sprechender Streuner war. In der nächsten Sekunde sprang er Wolf fauchend entgegen.

Dieser wurde beim Aufprall durch die Türöffnung auf die Gasse hinausgeschleudert. Medimóntier entglitt seinen Händen und fiel mit einem hellen Klang auf das Pflaster. Alle Luft entwich Wolfs Lungen, als er rücklings auf dem harten Boden aufschlug.

Zilber bohrte die Krallen in seine Schultern und öffnete den Rachen, um ihm die Kehle durchzubeißen. Ein widerlicher Geruch von Blut, Angst und wilder Entschlossenheit schlug Wolf entgegen.

»Was ist in dich gefahren!«, stieß er hervor, kaum dass er wieder atmen konnte. Er holte aus und verpasste Zilber einen so wuchtigen Kinnhaken, dass dessen Kiefer krachend aufeinanderschlugen.

Zilber senkte den Kopf, öffnete den Rachen erneut und musterte Wolf aus Augen, in denen sich rasende Wut und nackter Wahnsinn spiegelten. Von den Lefzen rann ihm mit Blut vermischter Speichel.

»Zilberpardel!«, bellte Wolf. »Komm zu dir. Ich bin′s doch, bei Gurlókis falschem Fell!«

Beim Klang seines vollen Namens stutzte Zilber. Seine Lider flatterten für einen Moment, dann klappte er das Maul zu und starrte Wolf an, als sähe er einen Geist. Bewusstsein schien in ihm zu dämmern.

»Fff … Rr … Bll …«, stammelte er.

»Erkennst du mich? Ich bin es, Wolf!«

In fliegender Hast ließ Zilber von ihm ab und hechtete auf allen vieren zurück in die Stube.

Keuchend richtete Wolf sich auf, packte sein Schwert und folgte ihm.

Er nahm einen tiefen Atemzug und trat durch die Tür. Zilber kniete wieder am Boden. Vor ihm lag etwas, das aussah wie ein schmutziger Lappen. Er hob es auf, drehte sich halb zu Wolf um und hielt es ihm entgegen.

Auf der einen Seite war der Fetzen blutig.

Auf der anderen Seite war Fell. Schwarzes Fell, über das sich der Länge nach drei weiße Streifen zogen.

»Nein«, keuchte Wolf, der langsam ahnte, was sich zugetragen haben musste. »Nein, das kann nicht sein.«

»B…Balder«, presste Zilber hervor. Es klang, als hätte er gerade erst das Sprechen gelernt. »P…Pelz…jäger.«

Wolf beugte sich nach vorn, um an dem Fetzen zu schnuppern, doch Zilber sprang damit in die Ecke des Raumes und funkelte ihn zornig an.

»Was ist hier passiert?«, rief Wolf.

»Pelzjäger«, wiederholte Zilber. »Ff… Rache.«

Wolf fühlte Panik in sich aufsteigen.

»Wo warst du, als das hier passiert ist?«, blaffte er. »Hat Balder die Tür nicht verriegelt? Woher kommt das Blut an deinem Fell? Was ist mit dir? Antworte mir gefälligst!«

Doch Zilber schien ihm nicht zuzuhören. Er hielt den Fellfetzen, der von Balderdachs übrig geblieben war, an seine Wange gepresst, schnupperte daran und liebkoste mit den Fingern die weißen Streifen.

Entsetzen und Wut übermannten Wolf.

» Du hast Balder getötet!«, brüllte er. »Verflucht sollst du sein!«

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, nahm Zilber den Fetzen zwischen die Zähne, stieß ihn beiseite und schoss durch die Tür ins Freie.

»Bleib hier!« Wolf war auf einem der Lager gelandet. Er sprang auf und eilte ihm hinterher.

Auf allen vieren rannte Zilber der blutigen Schleifspur nach. Sie endete an der Pforte, die auf das Seeufer hinausging; Wolf sah ihn durch die offenstehende Tür schlüpfen. Im selben Augenblick rief jemand seinen Namen, und er wandte sich um. Falbe stand in der Mündung der Gasse.

»Wo ist Zilber?«

»Er hat Balder getötet!«

»Spinnst du?« Der Jungstreuner war herangekommen. Er keuchte, sah abgehetzt und verängstigt aus. »Ich war die ganze Nacht mit ihm zusammen, und außerdem – wieso sollte er das getan haben? Die beiden waren die dicksten Freunde.«

Wolf versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren.

»Dann weißt du über alles Bescheid? Komm mit!« Entschlossen trat er durch die Tür.

»Warte!«, rief Falbe und folgte ihm zögerlich.

Die Blutspur führte direkt auf das Wasser zu. Am Ende des Steinabsatzes brach sie ab und verlor sich im sumpfigen Schilf. Wolf bemühte sich, Zilber auszumachen.

»Verdammt, wo ist er hin?«

»Da!« Falbe deutete auf den See hinaus. Weit draußen auf dem Wasser war Zilbers Kopf zu erkennen.

»Wir müssen hinterher!«

»Nein, warte.« Falbe hielt ihn zurück.

»Wenn du weißt, was er vorhat, dann spuck′s aus!«, knurrte Wolf.

»Er wird ihn begraben«, erwiderte der Jungstreuner nach einer Pause. »Nach den Regeln der Gilde. Allein.«

Wolf schnaubte verächtlich, zog es jedoch vor, Zilber zu beobachten, anstatt zu widersprechen.

Dieser hatte das andere Ufer erreicht. Sie konnten sehen, wie er aus dem Wasser stieg, sich schüttelte und den Fellfetzen ablegte. Dann begann er, wie ein Hund hierhin und dorthin zu laufen, wobei er hastig die Erde unter den entlaubten Weidenbäumen abschnüffelte. Schließlich schien er einen geeigneten Platz gefunden zu haben. Er fing an zu scharren. »Sag mir endlich, was hier los ist!«, herrschte Wolf den Jungstreuner an. »Wo warst du? Was ist überhaupt genau passiert?«

Falbe senkte den Kopf und schien zunächst nicht bereit, ihm zu antworten. Schließlich schaute er Wolf schief von der Seite an und begann leise und hastig zu erzählen.

»Zilber und ich sind gestern Nacht zusammen fortgegangen, weil es zwischen uns etwas zu klären gab. Wir waren nicht lange weg, aber der Pelzjäger … der neulich fliehen konnte … muss rausgekriegt haben, wo wir untergekommen sind. Wahrscheinlich hat er uns beide weggehen sehen und gedacht, dass Balderdachs allein … leicht zu schnappen ist. Er muss ihn hinterrücks überfallen haben, jedenfalls hat er wohl keine Zeit für einen Zauberspruch gehabt.« Falbe schluckte und holte tief Luft.

Seine Stimme zitterte, als er weitersprach. »Wir kamen nach Mitternacht zurück … Aber da war es schon zu spät. Der Pelzjäger hatte ihn erledigt und die Stube verwüstet. Dann hat er ihn hierhergeschleift und in den See geworfen … und einen Fetzen von seinem Fell hinterlassen, um sich an uns zu rächen. Er war an die Tür genagelt …«

»Erspar mir die Einzelheiten!«, fuhr Wolf auf. »Wo ist der Rest des Fells? Los, sag schon!«

Falbe achtete nicht auf ihn. »Du hättest Zilber sehen sollen. Erst hat er einfach nur dagestanden, dann hat er sich plötzlich wie ein Tier benommen, überall herumgeschnuppert und mich angeschaut, als wollte er mich in Stücke reißen. Dann ist er weggerannt. Ich hab′s kaum hinter ihm her geschafft. Er hat den Pelzjäger durch die ganze Stadt verfolgt und irgendwo gestellt. Da hatte er Balders Fell aber schon nicht mehr.

Zilber hat ihn abgeschlachtet wie ein Schwein.«

»Also deshalb war er voller Blut?«

»Und dann muss er hierher zurückgelaufen sein. Ich hab ihn verloren und mich auf dem Rückweg verirrt. Seit wann bist du wieder da?«

»Warum ist Zilber so anders?«, wollte Wolf anstatt einer Antwort wissen. »Und wieso spricht er so seltsam?«

Der Jungstreuner zuckte die Schultern und schwieg. Seine Augen glänzten vor Verzweiflung.

Wolf blickte wieder zum anderen Ufer hinüber. Inzwischen hatte Zilber ein Loch gegraben, das tief genug war. Langsam legte er den Fellfetzen hinein und verscharrte ihn. Als er fertig war, ging er in die Hocke. Einen Moment lang saß er vor dem notdürftigen Grab und regte sich nicht. Auf einmal warf er den Kopf in den Nacken und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der in ein langgezogenes Heulen überging und auch Wolf und Falbe den Schmerz über den Tod ihres Freundes mit schier unerträglicher Gewissheit spüren ließ.

Sie konnten nicht anders, als einzustimmen in diesen schaurigen Kanon, der wortlos ihre Trauer und ihre Wut besang. Gemeinsam heulten sie, um den Verlust eines geschätzten Gefährten zu beklagen: Wolf und Falbe vor der Stadtmauer, Zilber unter den toten Zweigen der Weiden am jenseitigen Seeufer, die Gesichter dem fernen Reich der Mondgöttin entgegengereckt, die Augen geschlossen, Ohren angelegt und Mundwinkel vorgezogen, um die Laute aus ihren Kehlen aufsteigen zu lassen in jenen fernen Thronsaal, den tausend Sternenlichter und der Silberglanz der Ewigkeit mit ihrem kalten Schein erleuchteten.

Fantasy Collection III

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