Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 24
ОглавлениеBlutzoll
»Bürger von Hylándia!« Die Stimme des Gardisten, den Hauptmann Shároŋhi ausgeschickt hatte, hallte über die Ebene vor der Stadt. »Unser Herrscher, Seine Majestät König Ņátahi der Elfte, wurde durch die Hand eines der Euren heimtückisch ermordet! Der Westen hat sein Heer entsandt, um Gerechtigkeit zu fordern. Öffnet das Tor!«
Er wartete. Bis auf vereinzelte Krähenrufe und das Schnappen von Streunermäulern, deren Besitzer sich von Fliegen geplagt fühlten, war es still.
»Legt die Waffen nieder, Landsknechte, und lasst unsere Streitmacht in die Stadt. Andernfalls werden wir …«
Der Bolzen einer Armbrust, vom Wachturm aus abgefeuert, unterbrach die Forderungen des Gardisten. Sein Pferd sank lautlos zu Boden. Er selbst wurde abgeworfen, sprang wieder auf die Füße und rannte zurück zu den Seinen, als wäre ein Rudel tollwütiger Hunde hinter ihm her.
Dabei blies er sein Horn. Das Signal zum Angriff.
Das Westheer war in spitzwinkliger Formation vor der Stadt aufmarschiert. Es war bitterkalt, doch dank seines dicken Fells fror Wolf kein bisschen. Er befand sich unmittelbar an der Spitze des Heeres, dessen keilförmige Stellung aus der Ferne über dessen tatsächliche Größe hinwegtäuschte. Obgleich Wolf nicht an General Nachtschattens Plan zweifelte, bereitete ihm die Vorstellung, als einer der Ersten gegen die Landsknechte antreten zu müssen, ein mulmiges Gefühl. Zu lange schon hatte er keine Kampfübungen mehr absolviert. Er musste sich ganz auf seine früheren Fertigkeiten verlassen, und natürlich auf die Härte und Schärfe seiner Klinge. Zuversicht gab ihm allerdings, was er aus den Reihen seiner Soldaten witterte – und das waren Mut, Entschlossenheit und das Gefühl, dass sie für die rechte Sache antraten.
Knarrend öffnete sich das Tor in dem Palisadenzaun um Hylándia. Landsknechte sickerten daraus hervor wie eine ölige schwarze Masse durch ein Leck in einem Holzfass.
Wolf fragte sich, was Balderdachs wohl gedacht hätte, wenn er diesen Augenblick hätte miterleben können. Der Westen kämpfte gegen den Süden, ganz wie der Schnitter es geplant hatte, und sie, Wolf und seine Freunde, waren Teil des Geschehens. Ob Balderdachs sich vielleicht doch noch dazu hätte überreden lassen, dem Westheer beizutreten? Und was wohl der Schnitter dachte, jetzt, da sein Plan, den Westen zum Krieg gegen den Süden anzustacheln, aufzugehen versprach?
Wenn Wolf wenigstens den Funken einer Ahnung gehabt hätte, wer der Schnitter sein könnte! Er schalt sich innerlich dafür, dass er Lacríma nicht darum gebeten hatte, ihm ein paar seiner Schergen unter den Soldaten zu zeigen, schließlich hatte sie behauptet, einige von ihnen zu kennen. Er hatte keine Zeit, diesen Gedanken weiter nachzuhängen.
»Es geht los«, knurrte Hauptmann Fleck neben ihm.
»Schlechte Laune, was?«, gab Wolf angriffslustig zurück. »Ich zähle auf Lacríma. Und auf Syrfil natürlich. Sie müssten jeden Moment den Befehl kriegen.«
Fleck warf ihm einen Seitenblick zu, der Bände sprach.
Offenbar hatte sich Wolfs breitgefächertes Vertrauen in Lacríma bereits herumgesprochen. Doch bevor er eine entsprechende Bemerkung machen konnte, gellte deren energischer Ruf zu ihnen herüber.
»Bogenschützen! Legt an! Bereit?«
Die Truppe der Landsknechte näherte sich nichtsahnend. »Schießt!«, rief Lacríma.
Der erste Pfeilhagel war kaum niedergegangen, da spannten die Elben bereits wieder ihre Langbögen. Doch die Reihen der Landsknechte lichteten sich nicht im mindesten; ihre Rundschilde schützten sie besser als erwartet.
»Jetzt sind wir dran«, sagte Fleck.
»Viel Glück, mein Freund.«
»Und wenn wir uns heute nicht mehr lebend wiedersehen, dann morgen in Haivall – für alle Ewigkeit!«
Das klang gut, fand Wolf. Nur schade, dass er keine Gelegenheit gehabt hatte, einen ähnlich stärkenden Satz zu Zilber zu sagen, bevor sie ihre jeweilige Position bezogen hatten.
»Basalt Eins! Bereit?«, rief Fleck.
»Basalt Zwei! Bereit?«, brüllte Wolf.
Den Ruf wiederholten Rappe, Fuchs und Panther, die Anführer von Basalt Drei bis Fünf. Dann nahmen die bis an die Zähne bewaffneten Soldaten vierbeinige Kampfstellung ein.
»Los!«
Mit wildem Gebrüll preschte die gesamte Streunerbrigade vorwärts, den feindlichen Kriegern entgegen. Hinter Basalt blieb nichts als eine Staubwolke zurück.
Der Zusammenprall mit den Landsknechten war hart. Wo immer Medimóntier einen Treffer landete, sprühten Funken, verbogen sich Rüstungen, splitterten Knochen. Die ersten zwei Kämpfer, die sich ihm in den Weg stellten, köpfte Wolf mit einem einzigen Streich. Einem dritten setzte er die linke Faust ins Gesicht, so dass sich ihm der metallene Nasenschutz in den Schädel trieb. Der nächste verlor durch Wolfs Schwert seinen rechten Arm, zwei weiteren bohrte sich die Klinge an ungeschützten Stellen auf Hüfthöhe in den Leib. Beide ließen nicht von ihm ab, obwohl ihnen das Blut an den Beinen hinunterrann. Einer wurde schließlich von Fleck außer Gefecht gesetzt. Der zweite war zäher und landete mit der Kante seines Schildes einen Treffer an Wolfs Schulter, so dass für einen Moment ein grässliches Taubheitsgefühl seinen Arm lähmte.
Er sah, wie sein Gegner den Schild fallenließ und mit beiden Händen zum tödlichen Schwertstreich ausholte. An den Ellbogen waren die Metallteile seiner Rüstung mit Leder verbunden. Wolf war schneller als der Landsknecht, schloss die Kiefer darum und biss mit aller Kraft zu. Er spürte ein dumpfes, reißendes Knacken. Warmes Blut, das nicht sein eigenes war, schoss ihm in den Rachen. Er presste es durch die Mundwinkel nach draußen und vollführte gleichzeitig mit seinem ganzen Körpergewicht eine halbe Drehung nach links. Der wie am Spieß schreiende Landsknecht fiel vornüber – und in sein eigenes Schwert.
Wolf hatte kaum die Kontrolle über seinen Arm wieder erlangt, da griffen ihn schon drei weitere Landsknechte an. Doch die Soldaten seiner Staffel hatten inzwischen aufgeholt und kamen ihm zu Hilfe. Ihren Speeren waren die auf den Nahkampf eingestellten Kämpfer Hylándias nicht gewachsen. So schlugen sie gemeinsam eine Bresche in die Reihen ihrer Feinde, wobei Wolf darauf achtete, dass er seine eigenen Leute im Rücken hatte. Das Westheer war den Landsknechten zahlenmäßig weit überlegen; doch der größte Teil der feindlichen Armee war vermutlich noch gar nicht vorgerückt.
»Wo rauf wartet Nachtschatten?«, rief Wolf in einem sicheren Augenblick zu Fleck hinüber. »Will er uns etwa verheizen?« »Blödsinn«, antwortete Fleck, der gerade sein Schwert aus dem Körper eines Landsknechts zog. Er wandte sich Wolf zu und grinste. Von hinten stürmte ein weiterer Landsknecht auf ihn zu.
»Vorsicht!«, brüllte Wolf.
Die breite Landsknechtsklinge schwang hernieder und traf Fleck längs am Hinterkopf. Es knirschte abscheulich, Blut spritzte nach beiden Seiten. Fleck ging zu Boden wie ein Stein. Der Landsknecht hob seine grobschlächtige Waffe zu einem weiteren Streich, doch ehe er zuschlagen konnte, hechtete Wolf auf ihn zu und rammte ihm einen der Saï aus seinem Gürtel mit solcher Wucht in den Oberkörper, dass alle drei Spitzen der Waffe die Rüstung des Landsknechts durchstießen und die mittlere am Rücken wieder austrat.
Für Fleck allerdings kam jede Rettung zu spät.
Eine Woge aus Trauer und Wut erfasste Wolf und spülte jegliche Ermüdung mit sich fort. Er stieß einen gewaltigen Schrei aus und hieb den gerade auf ihn zustürmenden Gegner mit einem einzigen Streich in zwei Hälften, die zuckend zu seinen Füßen liegenblieben und die Erde mit frischem Blut tränkten.
Medimóntier spaltete Schild um Schild, Helm um Helm, Schädel um Schädel. Unerbittlich wütete die Klinge unter ihren Feinden, um Flecks Tod dutzendfach zu rächen.
Die »Zange« war eine riskante Taktik, das wusste der General – leicht konnte es geschehen, dass die Reiter versehentlich ihre eigenen Leute niedermetzelten, wenn sie zur Schlacht hinzustießen. Außerdem war in diesem Fall der richtige Zeitpunkt schwer zu bestimmen. Jederzeit konnten aus der Stadt neue Landsknechte strömen. Nachtschatten schätzte die Zahl der feindlichen Krieger auf über tausend; doch genauso gut konnten es mehr sein.
Bereits zum fünften Mal hatten die draußen kämpfenden Landsknechte Verstärkung aus Hylándia erhalten. Nun schien ihm der rechte Zeitpunkt gekommen, zumal die Brigade Basalt nicht ewig durchhalten würde. Nachtschatten gab den Staffeln Ábanas Eins bis Fünf, der Garde sowie den verbleibenden Streuner- und Menschenbrigaden den Befehl zum Angriff.
Das Raffinierte an der »Zange« war, dass der Heerführer die Spitze des Heerkeils zunächst in die feindliche Formation trieb, um danach die Reiterstaffeln von beiden Seiten angreifen zu lassen. Dies waren auf der linken Seite Ábanas Eins bis Vier, jeweils vier Dutzend Reiter stark, und auf der rechten Ábanas Fünf sowie die Streunerbrigaden Mond und Rósgurd, die als die schnellsten und wildesten galten.
Zusätzlich rückte in der Mitte – dort, wo zuvor die Brigade Basalt aufgeräumt hatte – das restliche Heer nach, angeführt von der Garde. Die Bogenschützen bildeten die Nachhut.
Nachtschatten hatte sich geschworen, wenn nötig alles auf eine Karte zu setzen. Notfalls würde er Pfeile in das Schlachtgetümmel schicken lassen und dabei das Risiko eingehen, dass dadurch auch die eigenen Soldaten getötet wurden – Hauptsache, er besiegte die Landsknechte.
Wolfs Zorn wich einem Hochgefühl, als er den Rest seines Heeres von Westen und Osten herannahen sah. Er nahm all seine verbliebene Kraft zusammen und kämpfte mit umso grimmigerer Entschlossenheit. Der Sieg war zum Greifen nahe.
Die »Zange« packte zu. Gerade hatte Wolf sämtliche Gegner in seiner Nähe niedergemäht und damit freie Sicht auf die heranstürmende Brigade Mond. An ihrer Spitze kämpfte Zilber, als hätte er in seinem Leben nie etwas anderes getan. Auf kurze Distanzen erlegte er die Landsknechte mit seinem Speer, und alle, die das vermeintliche Glück hatten, auf Armlänge an ihn heranzukommen, ereilte ein rasches, blutiges Schicksal. Einem Gegner, der zu Boden gegangen war, fegte Zilber den Helm vom Kopf, dann riss er den Rachen auf und schlug ihm kraftvoll die Fänge in die Kehle.
Hylándias Truppen wurden regelrecht zermalmt. Gegen die gegnerischen Reiter waren die Landsknechte machtlos. Zum Rückzug war es zu spät, weil das Westheer mittlerweile die gesamte restliche Streitmacht des Südens eingekreist hatte.
Schließlich war das feindliche Aufgebot auf vielleicht zehn Dutzend Kämpfer geschrumpft, von denen viele die Waffen sinken ließen und sich ergaben.
Der Kampfeslärm verebbte allmählich, dafür drangen die Schreie der Verwundeten und Sterbenden umso lauter an Wolfs Ohren.
Keuchend vor Anstrengung blickte er sich um. Noch spürte er kaum, dass auch er aus zahlreichen Wunden blutete. Das Schlachtfeld dampfte vom Blut der Gefallenen und Verwundeten, von Urin und dem Gestank toter, zerrissener Körper. Von irgendwoher kam Fuchs auf ihn zu, und Wolf sah, dass ihm der Schwanz abgehauen worden war.
»Wo ist Fleck?«, fragte er.
»Gefallen«, erwiderte Wolf.
»Die anderen?«
»Weiß nicht.«
Sie riefen ihre Staffeln zusammen. Fast zwei Dutzend Soldaten hatte Wolf verloren. Um Basalt Vier stand es noch schlechter, wie Fuchs nach einer Weile meldete. In der Nähe ritt Läufer vorbei, der vom Pferd aus schwerverwundeten Landsknechten mit dem Speer den Rest gab. Ein Stück hinter ihm war Mótuhi zu sehen, der sein Pferd verloren hatte und sich kaum auf den Beinen halten konnte: In seinem Unterleib steckte ein feindliches Breitschwert. Er stolperte über einen Gefallenen und fiel zu Boden. Sofort war einer der letzten Landsknechte über ihm und ließ sein Kurzschwert herabsausen, woraufhin der Kopf des Hauptmanns mit einem Blutschwall über den Boden kullerte. Noch im Laufen schleuderte Wolf seinen zweiten Saï, der Mótuhis Mörder jedoch verfehlte. Von der anderen Seite stürmte Rappe heran. Der Landsknecht war abgelenkt, und Wolf rammte ihm Medimóntier auf Brusthöhe in den Rücken.
Fast im selben Moment zischte etwas durch die Luft und durchschlug Rappes Schläfe, so dass er mit dem Landsknecht zur Erde sank. Wolf schaute suchend zum Wachturm hinauf, wo ein Mann seine Armbrust neu spannte. Nur Augenblicke später legte er an, um als nächsten Gegner Wolf abzuschießen.
Es gab keine Deckung, und Wolf ergab sich in sein Schicksal. Da sah er Lacríma, die über das Schlachtfeld in Richtung Stadttor rannte.
Was für ein schöner letzter Anblick, dachte er und wunderte sich selbst über die kühle Gelassenheit, die ihn überkam. Doch im Laufen zog sie einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf die Sehne und spannte den Bogen, alles in einer einzigen fließenden Bewegung. Der Pfeil traf den Wächter in den Oberkörper. Er wurde zur Seite geschleudert, kippte über den Rand des Wachturms – und stürzte in die Tiefe. Sein Schrei verstummte jäh, als sein Leib von der Reihe armdicker Spitzen des Palisadenzauns zerschmettert wurde. Aufgespießt blieb er dort oben hängen, während sein Blut an den Pfählen herabrann.
Die letzten Landsknechte ließen die Waffen sinken. Hylándia war besiegt. Die Hörner des Westheers erklangen, ein langes, dreifach unterbrochenes Signal, das sämtliche Einheiten zur Marschformation aufrief.
»Sieg!«, brüllte General Nachtschatten. Auf seinem Rappen jagte er die Reihen seiner Soldaten entlang, vor denen die überlebenden Landsknechte knien mussten.
»Sieg!«, scholl es aus Hunderten Kehlen zurück.
Dann verlangte er Meldung von den Hauptleuten. Diejenigen, die nicht mehr am Leben waren, wurden durch ihre Feldwebel vertreten. Wolf war stolz darauf, dass er die Schlacht an einer der gefährlichsten Positionen überlebt hatte und seine Staffel außerdem mit die wenigsten Verluste zu vermelden hatte. Am schlimmsten waren die Reiterstaffel Ábanas Drei, die Garde sowie die Brigaden Mond und Syól dezimiert worden.
Zilber war ein guter Kämpfer, aber nach Wolfs Vermutung keiner, der lange abwog oder sich darum scherte, was die anderen taten. Und der Namenlose schien ebenso erbarmungslos vorgerückt zu sein – jedenfalls sah er aus, als hätte er in Blut gebadet.
»Und nun«, brüllte General Nachtschatten endlich aus heiserer Kehle, »besetzt die Stadt! Konfisziert alle Waffen. Tötet die Aufsässigen, aber verschont alle, die kooperieren!« Er gab seinem Pferd die Sporen, hielt vor Shároŋhi und der Garde und gab einen Befehl, den Wolf nicht verstand. Dann preschte er zurück und auf Basalt Zwei zu.
»Hauptmann Wolf, Eure Staffel heißt ab sofort Basalt Eins, klar?«, bellte er ihm entgegen. »Ihr kommt gleich nach der Garde – zur königlichen Burg, wo wir Geschichte schreiben werden!«
»Verstanden«, gab Wolf zurück.
Der General wählte noch ein paar weitere Hauptleute, darunter Panther, Zilber, Lacríma und den Namenlosen, um mit ihnen zusammen das Heer in die Stadt zu führen. Erleichterung und Freude ergriffen von Wolf Besitz, als er an der Spitze seiner Staffel durch das Stadttor schritt. Basalt Zwei war nicht nur innerhalb des Heeresrangs, sondern auch in der Gunst des Generals aufgerückt. Seine Tapferkeit hatte sich bezahlt gemacht.
Aber bald nachdem sie die Stadt betreten hatten, überkam Wolf ein unangenehmes Gefühl der Schuld. Die meisten Bewohner Hylándias hatten sich aus Furcht in ihre Häuser zurückgezogen, und über dem Ort hing eine bedrückende Stille. Ein kleines Mädchen saß am Straßenrand und musterte die Eindringlinge aus traurigen Augen. Die Menschen- und Streunerbrigaden schwärmten aus, sobald sie das Tor passiert hatten, um die ganze Stadt nach versteckten Landsknechten zu durchkämmen. Wolf hörte ihre hämisch frohen Rufe weit hinter sich, als er und die anderen Hauptleute schon fast die königliche Burg erreicht hatten. Dazwischen mischten sich bereits die ersten Angstschreie der Besiegten – und vor allem ihrer Frauen. Wolf fürchtete, dass sich die wenigsten Soldaten allzu genau an Nachtschattens Anweisungen halten würden. Hoffentlich behielt Falbe einen klaren Kopf. Wenn er überhaupt noch lebte.
Ganz nach der Beschreibung des Generals waren die Gebäude Hylándias fast ausschließlich aus Holz gezimmert – zumeist einfache Hütten mit Rieddächern und balkonartigen Vorbauten zur Straße hin, die gewebte Stoffe wie bunte Segel überspannten. Hier und da standen Fässer, Kisten und Tonkrüge herum. Wahrscheinlich trieb man hier an gewöhnlichen Tagen regen Handel. Es gab kaum einen Baum oder Strauch. Die Spuren in dem gestampften Lehmboden zeugten von Hunderten Pferden, Eseln, Fuhrwerken und Menschen, die hier täglich unterwegs sein mussten.
Schließlich erreichten sie die Burg, in der der König residierte. Der klobige rechteckige Bau aus Stein mit einem quadratischen Turm an jeder Ecke war leicht zu erkennen, da von jeder seiner Zinnen das grüne Banner des Südens mit der goldenen Ähre darauf herabhing. An der Breitseite befand sich mittig ein schlichtes Tor. Es stand offen; dahinter gähnte Dunkelheit.
Der General ließ die ausgewählten Einheiten und Hauptleute vor dem Tor anhalten.
»Die Garde geht voraus«, befahl er. »Es könnte eine Falle sein. Spürt den König auf, aber krümmt ihm kein Haar. Wer sich uns in den Weg stellt, wird getötet.«
Hauptmann Shároŋhi führte die Garde durch das Tor.
Nachtschatten und die Übrigen folgten. In der Burg war es dunkel und gespenstisch ruhig. Als sich ihre Augen an das schummerige Licht gewöhnt hatten, das durch wenige Luken in den mehr als armdicken Mauern hereinfiel, sahen sie, dass von der Eingangshalle drei Gänge abzweigten. Shároŋhi wies einen Teil seiner Leute an, die beiden äußeren zu sichern, die in die Verliese und Ställe zu führen schienen. Der Rest machte sich auf den Weg durch den Mittelgang. An dessen Ende lag eine Treppe, die auf ein weiteres Portal zuführte.
Nirgendwo rührte sich etwas. Die Burg war wie ausgestorben. Als sie den Korridor hinter dem Portal betraten, wurde es etwas heller. Überall zweigten Türen ab, hinter denen verlassene Gemächer lagen. Den Gang beschloss ein drittes prächtiges Portal, geschmückt mit dem Wappen des Südens. Der Thronsaal. Sechs Soldaten mit gezückten Schwertern und entschlossenen Mienen bewachten ihn.
»Legt Eure Waffen nieder!«, forderte General Nachtschatten mit lauter Stimme. »Eure Armee ist besiegt und Eure Stadt besetzt. Gebt auf – oder sterbt!«
Die Wachen hoben ihre Klingen und stürmten brüllend auf die Eindringlinge zu. Sie kamen nicht weit. Lacríma, Syrfil und der Namenlose, die sich unter die vordersten Gardisten gemischt hatten, spannten ihre Bögen und schossen. Die ersten drei der Wächter gingen, jeweils mit einem Pfeil in der Brust, zu Boden. Die drei anderen stolperten über ihre fallenden Kameraden und wurden im Nu von der Garde überwältigt.
Knarrend öffnete sich das Portal. Ein hochgewachsener Mann mit wallendem weißem Haar und Bart stand auf der Schwelle und stützte mit ausgebreiteten Armen die Türflügel ab. Er war in ein grün glitzerndes Gewand gehüllt und mit reichlich Silberschmuck behängt und bebte vor Zorn. Im Hintergrund waren ein paar Kammerdiener und Hofdamen zu sehen.
»Tötet sie, diese Elenden«, sagte König Balýntoş mit einem Blick auf die drei entwaffneten Soldaten, »sie sind der Aufgabe, Uns zu beschützen, niemals würdig gewesen.«
»Nichts da!«, bellte General Nachtschatten und trat vor den Südkönig. »Ab jetzt bin ich derjenige, der hier die Befehle gibt. Sie haben gefälligst zu schweigen, solange Sie nicht gefragt werden. Hylándia untersteht ab sofort der herrschaftlichen Gewalt seiner Majestät König Ņátahis, des Königs des Westens, oder vielmehr seines Stellvertreters. Also der meinen.«
»Ihr wagt es …«, zischte der König. »Noch nie zuvor haben Streunerhunde Unser Heiligstes betreten …« Und er spuckte dem General mitten ins Gesicht.
Im selben Augenblick stürmte die Garde den Thronsaal.
»Ergreift ihn«, sagte Nachtschatten ruhig, doch der Befehl war bereits ausgeführt. Er trat zu einem Kammerdiener. »Ein Taschentuch«, sagte er knapp.
Es wurde ihm gereicht.
»Sie haben Ruhe zu bewahren«, wandte sich der General an die Hofdamen, nachdem er sich abgewischt und das Tuch zerknüllt hatte, »auch wenn die Situation auf Sie recht unerfreulich wirken mag. Falls Ihr Monarch es Ihnen bisher verschwiegen haben sollte: Zwischen dem Westen und dem Süden herrscht Krieg. Hylándia wurde leider von uns besiegt. Unsere Gardisten werden Sie nun in Ihre Gemächer geleiten. Gehorchen Sie, und es wird Ihnen nichts geschehen. Shároŋhi!«
Der Hauptmann trat zackig vor.
»Bringt sie weg. Den König sperrt ins nächste Gemach, und bewacht ihn gut. Ich werde mich später um ihn kümmern.«
»Das wirst du büßen, elender Hund!«, kreischte Balýntoş. »Die Staupe möge dich und dein Pack von dieser Welt hinwegraffen wie vor hundert Jahren!«
Der General hob die Hand zu einem gekünstelten Gähnen, während der zeternde König aus dem Thronsaal bugsiert wurde. Für einen kurzen Augenblick verspürte Wolf das dringende Bedürfnis, sich zu seiner Bewachung zu melden. Womöglich plante der Schnitter die Situation auszunutzen und den entmachteten König in seiner Kammer zu ermorden.
»Hauptmann Wolf!«
»General?«
»Eure Leute sichern die Burg und durchsuchen sie bis in den letzten Winkel«, befahl Nachtschatten. »An sämtlichen Toren sind Wachen aufzustellen. Keiner darf mehr hinaus oder herein. Verbrennt sämtliche Flaggen und Banner Hylándias und ersetzt sie durch unsere eigenen.« Er erhob die Stimme und sprach zu den übrigen Gardisten und Soldaten: »Sorgt dafür, dass wir alle die müden Glieder heute Nacht auf ordentlichen Lagern ausstrecken können! Beschlagnahmt die Räume und sperrt ihre Bewohner in den Kerker. Dann sollten wir genügend Platz haben.«
Sie schwärmten aus, um die Befehle auszuführen.
»Und nun«, verkündete General Nachtschatten, als der Thronsaal geräumt war, »muss unser Sieg gebührend gefeiert werden!«
»Ich hab fünf Dutzend Landsknechte erledigt! Gegen mich hatten sie keine Chance. Einzeln hab ich sie mir vorgenommen und reihenweise erschlagen. Eigentlich spürte ich gar nicht, dass ihre Rüstungen so dick waren! Manche hab ich auch gleich geköpft. Einem hab ich erst die Beine abgeschlagen, dann die Arme und dann …«
»Halt die Klappe, Falbe«, knurrte Zilber. »Dein Geplapper geht mir auf die Nerven.«
»Bist ja nur neidisch, weil ich dir keine Gegner übrig gelassen habe!«, behauptete der Jungstreuner grinsend. Seine Stimme hallte von den steinernen Wänden der weitläufigen Burgküche, wo sie sich niedergelassen hatten, ebenso wider wie das Klappern von Töpfen, Pfannen und das Zischen von Gebratenem. Zahlreiche Knappen und Gardisten sowie, zu Wolfs anfänglicher Überraschung, Syrfil und der Namenlose waren damit beschäftigt, das Festmahl vorzubereiten, nachdem sie die königlichen Speisekammern geplündert hatten.
»Ihr hättet mich sehen sollen«, prahlte Falbe weiter. »Ich war einfach großartig! Wo warst du eigentlich die ganze Zeit über, Wolf? Hast dich wohl verdrückt, was?«
Er war sprachlos angesichts Falbes Unverfrorenheit, beschloss aber, sich nicht die Freude über ihren Sieg verderben zu lassen.
»Na ja, nicht jeder kann so viel Mut haben wie ich«, setzte Falbe noch einen drauf. »Ich bin der geborene Soldat. Ich …« »Genau, deshalb bist du in Orilac ja auch einfach desertiert«, spottete Zilber.
»Jeder mit meinen Fähigkeiten hätte das früher oder später getan! Von purem Neid zerfressene Kameraden, ein versoffener Hauptmann, vor dem niemand Respekt hatte … Nein, mir war von Anfang an klar, dass sich meine militärische Laufbahn erst unter günstigeren Bedingungen steil würde entwickeln können!« Zilber brummte etwas Unverständliches. Lacríma, die damit beschäftigt war, Wolfs Wunden zu behandeln, lächelte sanft.
Lass ihn, schien ihr Blick zu sagen. Ich weiß, was du geleistet hast.
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Wolf zu ihr, während sie einen üblen Schnitt an seinem Unterarm mit elbischer Seide nähte. »Danke.«
Lacríma schaute ihn flüchtig an. »Der Faden löst sich von allein auf, wenn die Wunde verheilt ist«, hauchte sie und zerzauste vorsichtig sein Fell über der fertigen Naht. »Schau, schon sieht man nichts mehr.«
Zilber verdrehte die Augen. »Ich gehe jetzt besser. Hab noch was anderes vor.«
»Wartet bitte noch.« Lacríma erhob sich und ging zum Herd hinüber. »Ihr seid alle verwundet und müsst Kräutersud zu euch nehmen, damit ihr nicht krank werdet.«
»Wie kommt es eigentlich, dass du nicht verletzt bist?«, wollte Falbe von ihr wissen.
»Anfängerglück«, erwiderte Lacríma augenzwinkernd. Sie füllte drei Becher mit dem dampfenden Gebräu und brachte sie nacheinander an den Tisch. »Mit deinen Fertigkeiten, junger Edler, kann ich mich bestimmt nicht messen. Du hast ja auch nur ein blaues Auge davongetragen.«
Falbe grinste und leerte seinen Becher.
»Dummkopf«, grunzte Zilber. »Bogenschützen halten sich auf Distanz. Wie sollten sie da verletzt werden? Bäh! Dieses bittere Zeug soll heilsam sein? Hoffentlich gibt′s nachher was Leckeres zu trinken.«
Wolf musterte ihn belustigt. Von ein paar Kratzern abgesehen, hatte Zilber praktisch keine Verletzungen davongetragen. Zu den schlimmsten zählte ein abgerissener Fingernagel an der rechten Hand.
»Sie sind gerade dabei, unten im Keller die Weinfässer anzustechen«, entgegnete Lacríma.
Zilber sandte ihr einen frostigen Blick. Wahrscheinlich verlangte es ihn mehr nach lauwarmer Ziegenmilch mit einer fetten Rahmschicht darauf.
»Die Kampfstreuner haben ihrem Namen heute alle Ehre gemacht«, sagte Wolf, um ihn abzulenken.
»Schade nur, dass mich mein ehemaliger Meister nicht sehen konnte«, grinste Zilber. Er wurde ernst. »Schade vor allem, dass Balder uns nicht sehen konnte …«
»Er wäre stolz auf euch«, sagte Lacríma nach einer Pause. »Bestimmt«, meinte Falbe.
Zilber schnaubte und schwieg. Er hob seinen Becher, um daran zu nippen – und knallte ihn dann wieder so heftig auf den Tisch, dass der ganze bittere Inhalt herausschwappte.
»Ihr kennt Balder schlecht!«, bellte er. »Er war von Anfang an gegen diesen Krieg. Jetzt das Gegenteil zu behaupten hieße, sein Andenken zu schmähen!«
»Entschuldige«, ließ sich Lacríma matt vernehmen und goss ihm Kräutersud nach. »So habe ich das nicht gemeint.«
»Und dein Drängen in Téan Hu, dass wir uns dem Heer anschließen?« Zilbers Augen funkelten zornig. »War das auch nicht so gemeint, oder doch nur eiskalte Taktik? Den Mörder des Westkönigs haben wir jedenfalls noch nicht, oder?«
»Der General wird König Balýntoş befragen und …«
»König Balýntoş ist ein armer alter Narr«, fiel ihr Zilber ins Wort. »Ich wette, er weiß nicht mal von Ņátahis Ermordung!« »Wir wissen immerhin von dem Schnitter«, widersprach Lacríma lächelnd. »Trink!«
»Nichts wissen wir, das ist es ja«, brummte Zilber und kippte den Trunk hinunter.
»Zilberpardel!«, rief der Namenlose im selben Moment. »Eure Hilfe wird gebraucht. Das Schlachtvieh will verarbeitet werden. Oder habt Ihr vor, nachher zu hungern?«
Wolf lief das Wasser im Mund zusammen, als die Tafel mit so köstlichen Speisen beladen wurde, wie er sie noch selten in seinem Leben gesehen und gerochen hatte. Da gab es knuspriges Brot und goldgelbe Butter, geröstete Erdäpfel, eingelegte Salzeier, Erbsen und Bohnen in Öl, deftigen Räucherschinken, einen riesigen runden Laib Kräuterkäse, Pfefferschoten und Oliven, Mandeln und Nüsse, Trauben, kandierte Flaumäpfel und außerdem allerlei exotische Pulver und Säfte, mit denen die Speisen nach Belieben verfeinert werden konnten. Auch an verlockenden Getränken herrschte kein Mangel – neben hellem und dunklem Bier wurden die besten Weine aufgetischt, die König Balýntoş in seinen Burgkellern gehortet hatte; manchen Tropfen hatte Syrfil mit Honig, Zimt und Nelken versüßt.
Wolf hatte es gutgetan, endlich Rüstung und Stiefel abzulegen, sich ausgiebig zu strecken und einen Abend des Überflusses vor sich zu wissen. Nun war es endlich so weit. Die Hauptleute samt ihrer Feldwebel und Knappen, außerdem ein paar ausgewählte gewöhnliche Soldaten, darunter Falbe, hatten sich an die lange Tafel in der Gewölbeküche gedrängt und aßen. An der Stirnseite thronte General Nachtschatten, der als Einziger noch einen goldenen Brustpanzer trug, wohl eine Siegestrophäe aus den königlichen Schatzkammern. Hinter ihm im Kamin loderte ein großes Feuer. Die brennenden Scheite waren mit verschiedenen Ölen aromatisiert, so dass die Flammen eine verwirrende Vielzahl rauer, blumiger und erdiger Düfte verbreiteten. Die Krieger ließen es sich schmecken, schwelgten in dem Überfluss, den das besiegte Königreich zu bieten hatte. Der Höhepunkt des Festmahls bestand aus einem halben Dutzend gebratener Spanferkel, die zuletzt aufgefahren wurden, jedes mit einem Apfel im Maul und einer Füllung aus Brot, Pilzen, würzigen Kräutern und Sauerrahm. Bei dieser Gelegenheit stand der General auf und hob triumphierend seinen Becher.
»Auf unseren Sieg!«, dröhnte seine Stimme durch den Raum. »Ihr habt alle tapfer gekämpft und es euch verdient, heute Abend die Niederlage der Südlinge zu feiern. Lasst es euch schmecken und denkt dabei an diejenigen, die am heutigen Tag für immer verstummt sind. Auf unseren Sieg!« Er stürzte sein Bier in einem Zug hinunter.
Die Anwesenden brachen in Jubel aus, prosteten einander zu und machten sich über den Braten her. Bald war die ganze Küche von genießerischen, glucksenden, schluckenden und schmatzenden Lauten erfüllt. Zilber, der mit dem Messerwetzen und Zerteilen kaum nachkam, freute sich sichtlich über den allgemeinen Zuspruch. Falbe, der Wolf gegenüber saß, packte die Keule, die er ergattert hatte, mit beiden Händen und schlug die Zähne hinein. Das Bratfett sickerte ihm rechts und links am Hals ins Fell. Auch Wolf hielt sich nicht zurück. Nach dem eintönigen Fraß während des Marsches war ihm der heutige Abend willkommener Anlass, sich mit Köstlichkeiten vollzustopfen, von denen er früher nicht zu träumen gewagt hätte.
»Ich stelle fest, dass sich Basalt Eins wacker geschlagen hat«, wandte sich der General nach einer Weile an ihn.
»Gratuliere, vor allem, weil Ihr, dem hohen Risiko Eurer Position zum Trotz, fast die geringsten Verluste erlitten habt!« Er prostete ihm zu.
»Danke«, erwiderte Wolf, hob seinen Becher und stieß mit Nachtschatten an. »Wir hatten Glück, und die Landsknechte die falsche Ausbildung – das ist das ganze Geheimnis.«
»Wo Ihr gerade von Ausbildung sprecht«, der General wischte sich genießerisch den Bierschaum von den Lefzen, »als Anführer einer königlichen Leibgarde, zumal im ehrwürdigen Tanár, seid Ihr noch vergleichsweise jung, nicht? Von Eurer Berufung in den Senat ganz zu schweigen.«
Wolf wurde es ein wenig unwohl in seinem Pelz. Hauptmann Läufer, der zu seiner Linken saß, verfolgte das Gespräch mit interessiert gereckten Ohren.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr vor zehn Jahren, als Ihr gegen die Lehnsleute von Lesh gekämpft habt, auch schon Hauptmann gewesen seid?«
Wolf verschluckte sich an seinem Wein, hustete unbeholfen und stellte den Becher ab, wobei er versehentlich drei Kerzen umwarf.
»Ja«, krächzte er. »Ja, da war ich auch schon …«
Läufer musterte ihn abschätzig. Der General sah zu, wie Wolf die Kerzen wieder aufstellte, und zeigte sein Reißzahnlächeln. »Wie hieß Euer einstiger General noch – das war Grünauge von der Steppe, nicht wahr?«
Wolf schüttete Wein in sich hinein, um Zeit zu gewinnen. Lehnsleute. Nur die Menschen pflegten Lehnsverhältnisse. Der General konnte kein Streuner gewesen sein. Also hieß er vermutlich auch nicht Grünauge.
»Nein, er war ein Mensch«, sagte Wolf auf gut Glück und hustete noch einmal ausgiebig. »Sein Name war …« Er zögerte und tat so, als durchforstete er sein Gedächtnis danach. »Ich glaube, er hieß …«
»Schmeckt′s?«, fragte Lacríma und goss ihm Würzwein nach. Verstohlen lächelte sie ihm zu.
»Kann gar nicht genug kriegen«, brummte er, dankbar dafür, dass sie ihn aus der brenzligen Situation zu retten versuchte.
»Ist ja nicht so wichtig …« Nachtschatten nahm einen gewaltigen Schluck Bier, doch Wolf beachtete ihn nicht mehr. Hast du Hunger?, schien Lacrímas Blick zu fragen.
Auf dich immer, dachte er, während er kauend zurückschaute. Nach dem Fest hätten sie beide nach Tagen der Trennung endlich wieder Gelegenheit, aneinander satt zu werden.
»Greif zu«, sagte sie sanft, indem sie ihm mehr Braten auf den Teller lud. »Du hast es dir verdient. Der Westen kann stolz auf dich sein, nicht wahr, General?«
Dieser nickte. Läufer schnaubte unverhohlen.
»Und auf Zilberpardel natürlich«, fuhr Lacríma fort und schob sich genussvoll eine Traube in den Mund. »Wir haben euch beiden so viel zu verdanken. Wenn unser Plan …«
Gelächter brandete auf und ließ Lacríma verstummen. Shároŋhi und der Anführer der Brigade Émuon, dessen Name Wolf nicht bekannt war, hatten am anderen Ende der Tafel ein Trinkspiel begonnen, an dem sich zum allgemeinen Vergnügen auch Syrfil Silberdistel beteiligte.
»Und was ist mit mir?«, wandte sich Falbe mit lauter Stimme an Lacríma, nachdem das Gelächter in ein rhythmisches Anfeuern der drei Kontrahenten übergegangen war. »Hab ich etwa nichts beigetragen, worauf der Westen stolz sein könnte?«
»Doch, natürlich«, erwiderte Lacríma lachend und legte ihm über die Tafel hinweg die Hand auf den Unterarm. »Das hast du, junger Edler!«
Wolf hob seinen Weinbecher und beäugte die beiden misstrauisch, während er trank.
»Bei diesem Geturtel kann man ja nur neidisch werden«, sagte Läufer. »Schade, dass nicht ein paar Weiber mehr bei der Armee sind.«
»Sei froh«, entgegnete Wolf und wiederholte einen Satz, den ihm ein Kamerad während der Ausbildung gesagt hatte: »Würdest du etwa auch in einem Weiberheer antreten wollen? Oder noch schlimmer: gegen eins?«
Läufer prustete sein Bier über den halben Tisch und lachte dröhnend. »Nein, wahrlich, du hast Recht! Das wollte ich nicht.«
»Dann überleg′s dir das nächste Mal, bevor du das Maul so weit aufreißt!«, sagte Wolf scharf. »Unser Geturtel geht dich nämlich einen feuchten Schmutz an, kapiert?«
Erzürnt knickte Läufer die Ohren ab. »Halt lieber selber das Maul!«, bellte er und stieß Wolf mit beiden Händen gegen die Schulter, so dass er mitsamt seinem Stuhl zur Seite umkippte. Im Fallen packte er Läufers Arm und zog ihn mit sich. Noch bevor sie auf dem Steinboden aufschlugen, hatte Wolf den ersten Schlag eingesteckt. Doch in dem Augenblick, da er sich wehren wollte, wurde Läufer von zwei anderen Hauptleuten gepackt und von ihm weggerissen. Er sprang hoch, um sich auf ihn zu stürzen, doch da waren Zilber und Falbe schon bei ihm und hielten ihn an den Armen fest.
»Aufhören!«, dröhnte die Stimme des Generals durch die Küche. »Heute Nacht wird gefeiert, nicht gekämpft. Hinsetzen, ihr Raufbolde!«
Zilber grinste und ließ Wolf los. Dieser rückte schnaubend seinen Stuhl zurecht und nahm wieder Platz. Lacríma sandte ihm einen bewundernden und dankbaren Blick. Die meisten anderen schienen den Zwischenfall nicht bemerkt zu haben, sondern verfolgten mit wachsender Begeisterung das Wetttrinken. Syrfil leerte mit unbewegter Miene einen Krug nach dem anderen. Sie schien in Führung zu liegen.
Jemand klopfte Wolf auf die Schulter.
»Hier!« Falbe, mit angelegten Ohren und unterwürfig sich ringelndem Schwanz, hielt ihm einen Becher mit einer dampfenden dunklen Flüssigkeit entgegen. »Ist ein heißer Würzwein mit ein paar Extras, nach einem Rezept aus meiner Heimat. Hilft gegen den Ärger.«
Der Duft war verlockend. Wolf nahm drei große Schlucke. Das Zeug schmeckte köstlich, wenn es auch ein merkwürdig feuriges Aroma besaß. Er trank aus.
»Mehr.«
Falbe ging, um den Becher zu füllen. Wolf wollte ihm mit dem Blick folgen, doch ein paar durch das Trinkspiel allzu Erheiterte schoben sich vor den am Herd hantierenden Jungstreuner. Wolf lugte zu Läufer hinüber, der mittlerweile mit seinem Nachbarn in ein Gespräch vertieft war, an dem sich auch General Nachtschatten leidenschaftlich beteiligte. Als Falbe zurückkam, hatte er sich selbst auch einen Becher mitgebracht. Er prostete Wolf zu.
Irgendwie schien der Würzwein jetzt bitterer zu schmecken, fand Wolf. Vielleicht war aber durch den Blick auf Läufer auch nur der Ärger wieder hochgekommen.
»Mehr!«, verlangte er, und Falbe brachte ihm den dritten Becher. Die Hitze des Gebräus stieg ihm schneller zu Kopf als alles, was er zuvor getrunken hatte. Nach dem vierten Becher stellte Wolf verwundert fest, wie satt und zufrieden und schläfrig er sich fühlte. Mit halbgeschlossenen Augen saß er da und lauschte dem Stimmengewirr, das die Küche erfüllte wie das unablässige Rauschen eines Wasserfalls. Er zuckte zusammen, weil er sich mit einem Mal an die Goldene Scheune erinnert fühlte.
Bloß nicht zu viel trinken, ermahnte er sich in Gedanken.
Falbe lachte und hob seinen eigenen Becher. Wolf nickte ihm zu und sah sich um. Lacríma war verschwunden. Der Namenlose stand neben dem Anführer irgendeiner Streunerbrigade und feuerte Syrfil weiter an. Die Tür in seinem Rücken stand einen Spalt offen. Zwischen Flügel und gemauertem Rahmen stand ein Mann.
Sein kahler Schädel schimmerte bleich vor dem dunklen Hintergrund.
Wolf traf der Anblick wie ein Blitz.
Der Mann schien den Namenlosen zu beobachten. Schließlich wandte er sich ab und verschwand im Dunkel des Korridors.
Was konnte er vorhaben? Suchte er jemanden – Lacríma? Und vor allem, wie war er hierhergekommen? Wolf stand auf. Er würde es herausfinden müssen. Seine Knie zitterten.
»Wo willst du hin?«, fragte Falbe lallend.
»Der Wein«, erwiderte er.
»Ich auch«, sagte der Jungstreuner kurzerhand, leerte seinen Becher und torkelte hinter ihm her.
Als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel und die Geräusche aus der Gewölbeküche nur noch gedämpft an ihre Ohren drangen, huschte der Glatzköpfige gerade am Ende des Korridors um die Ecke.
»Wo kann man denn hier …?«, begann Falbe.
Wolf bedeutete ihm zu schweigen. Dann eilte er auf leisen Sohlen den Gang hinunter.
»Schmeckt, das Zeug, was?«, flüsterte der Jungstreuner, der ihm gefolgt war. »Nur ziemlich stark. Ich kann kaum noch stehen.«
»Pst!«, zischte Wolf.
Sie erreichten die Treppe, die zum Hauptportal hinunterführte. Der Mann mit der Glatze musste nur einen Moment zuvor hindurchgegangen sein. Wolf hastete die Treppe hinunter. Die Stufen verschwammen ihm vor den Augen, und beinahe wäre er gestolpert. Seine Glieder fühlten sich schwer an. Er schalt sich dafür, die Wirkung des heißen Würzweins unterschätzt zu haben.
Das Portal stand offen. Wolf näherte sich vorsichtig dem Durchgang und spähte hinaus. Die Wachen schliefen. Der Glatzköpfige verschwand zwischen zwei Häusern. Alarmiert wandte Wolf sich um.
»Lauf zurück und sag dem General, dass etwas nicht stimmt«, befahl er Falbe im Flüsterton. »Ich muss raus und dem Kerl hinterher.«
»Nein«, sagte Falbe. »Ich gehe mit dir.«
»Hör zu, ich hab keine Zeit, mit dir zu streiten. Geh zurück zu Nachtschatten und sag ihm …«
»Hör auf, mir ständig Befehle zu geben«, sagte Falbe. »Ich bin nicht in deiner Brigade.«
»Sei still! …« Wolf schaute erneut hinaus. Er wusste, dass er die Duftspur des Fremden nicht lange würde wittern können.
Kurzentschlossen ließ er Falbe stehen, schlüpfte durch das Portal und in die Nacht hinaus.
Der Jungstreuner folgte ihm.
Der Glatzkopf führte sie eine gute halbe Meile vom Palast weg. Obwohl die Nacht klar und kalt war, wurde es Wolf unangenehm heiß unter seinem Fell. Außerdem war seine Sicht verschwommen. Er hörte Falbe pinkeln und blieb stehen. Der Boden schwankte unter seinen Füßen. Langsamer ging er weiter.
»Dreckszeug«, murmelte der Jungstreuner, indem er wieder zu ihm aufschloss. »Das trink ich nicht mehr. Mir ist ganz komisch.«
»Was hast du da reingekippt?«
»Nichts Besonderes … Pfefferschoten und Schweineblut.«
Sie erreichten einen Bau aus Stein, der ein wenig kleiner war als die Burg. Wahrscheinlich ein Regierungsgebäude. Wolf packte Falbes Handgelenk: Der Mann erwartete sie vor dem Eingang. Seine Glatze war in der Dunkelheit gut zu erkennen.
Wolfs Augen spielten ihm einen Streich. Das kahle Haupt schien sich zu verdoppeln und dabei zu verschwimmen. Auf einmal gaben seine Knie nach. Auch Falbe sackte zusammen.
Die zweigeteilte Glatze kam wippend auf die beiden zugeschwebt. Ein paar Schritte von ihnen entfernt blieb der Mann stehen.
»W…was …«, begann Wolf, doch seine Zunge wollte ihm nicht mehr gehorchen.
»Ganz einfach: Schlafpulver«, sagte der Glatzkopf.
Als Nächstes umfing Wolf schwarze, zeitlose Finsternis.