Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 20
ОглавлениеDer Feind schlägt zu
»Du liebst sie! Nicht zu fassen! Tust erst angewidert, als ich dir von den Menschenfrauen erzähle. Und dann angelst du dir selber eine, und zwar die beste, die man kriegen kann!
Übrigens ist sie …«
»Halt die Klappe, Falbe«, unterbrach Balderdachs den vorwurfsvollen Redeschwall des Jungstreuners, der Wolfs Rückkehr in ihre Stube mit gekräuseltem Nasenrücken und schmalen Augen verfolgt hatte.
»Geht dich doch sowieso nichts an, Kleiner«, knurrte Zilber. Er stand mit verschränkten Armen da und wirkte noch zorniger als am Tag zuvor. »Andererseits ist es reichlich dumm, einer Fremden zu vertrauen«, fuhr er, an Wolf gewandt, fort. »Noch dazu, wenn man sich von ihr blind verführen lässt. Meiner Meinung nach spricht nach wie vor das meiste gegen sie.«
»Aber die Informationen, an die du mit ihrer Hilfe gelangt bist, sind für uns natürlich Gold wert«, hakte Balderdachs ein. »Oder, Zilber?«
Wolf, dessen Kehle schon rau war von seinem langen Bericht, beeilte sich, ihm mit der Antwort zuvorzukommen. »Wenn ich daran denke, dass ich ausgerechnet diesem General in Tanár alles erzählen musste! Jetzt ist mir auch klar, warum er mich abgewimmelt hat und woher die Leute des Schnitters wussten, wo ich wohne. Und damit … ist Várun schuld an Graubarts Tod.«
»Vergiss ihn«, meinte Balderdachs achselzuckend und ohne klarzustellen, wen genau er meinte. »Mehr Sorgen macht mir diese Scherenschrecke. Was sie uns noch an Ärger bereiten wird, weiß allein die Mondgöttin.«
Wolf nickte nachdenklich.
»Dieser Tánatos«, grübelte Zilber, »war ja einer der beiden, die du belauscht hast. Ich wette, General Várun war der andere.«
»Wie kommst du darauf?«
»Wer sonst sollte die Möglichkeit haben, an die Pläne eines der sieben Königspaläste zu kommen?«
»Gut möglich«, gab Wolf zu.
»Wie auch immer …« Zilber hielt inne. »Ich muss zugeben, bis vorhin hatte ich befürchtet, du würdest heute Nacht in eine Falle tappen und draufgehen. Beim Großen Fang – was bin ich froh, dass du wieder heil da rausgekommen bist!« Er packte Wolf bei den Schultern und verpasste ihm einen wenig sanften Nasenstüber.
Balderdachs grinste. »Zilber täuscht sich nämlich sonst nie in seinem Gefühl.«
»Und ich hatte schon gedacht, ihr wärt auf und davon, als ich euch den ganzen Tag über nicht zu Gesicht bekommen habe«, gab Wolf zurück und bemühte sich, nicht allzu erleichtert zu klingen.
»Waren wir auch«, erwiderte Balderdachs mit schelmischer Miene. »Wir haben Téan Hu unsicher gemacht. In dieser Stadt gibt′s ein paar richtig schön heruntergekommene Kneipen. Das hiesige Bier könnte zwar weniger seifig schmecken, aber ich glaube, es sagt dir trotzdem zu.«
»Ich auch«, warf Falbe ein.
»Worauf wartet ihr dann noch?«, sagte Wolf prompt, dem bei der Vorstellung schäumender Bierkrüge und eines deftigen Abendessens das Wasser im Rachen zusammenlief. »Führt mich in die nächste Spelunke!«
Erst auf dem Rückweg holten ihn Zweifel ein. Was würde Lúpa sagen, wenn sie erfuhr, dass er sie hintergangen hatte – wo sie doch bestimmt mit jedem Tag sehnsüchtiger auf seine Rückkehr wartete? Erst vor kurzem hatte er sich geschworen, ihr treu zu bleiben, und doch war er jetzt Lacrímas Reizen verfallen.
Aber andererseits, versuchte er sich zu beruhigen, brauchte sie ja niemals etwas von seinem Abenteuer mit Lacríma zu erfahren. Schließlich liebte er seine Lúpa ja nicht weniger, nur weil er Lacríma kennengelernt hatte. Im Gegenteil – was er an Letzterer vermisste, konnte ihm nur Lúpa geben. Umgekehrt war es genauso. An Lacríma reizte ihn das Unbekannte, Unvertraute ebenso wie die Entdeckung einer gewissen, unter der zarten Hülle ihres Äußeren verborgenen Wildheit. Warum hätte er dieser Versuchung widerstehen sollen, zumal sie ihm damit bewiesen hatte, dass sie seines Vertrauens würdig war! Und schließlich arbeitete auch sie gegen den Schnitter. Alles, was sich zwischen Lacríma und ihm abspielte, geschah im Interesse des Friedens unter den Sieben Reichen!
Er würde sie wiedersehen. Sie würde keinen Bastard zur Welt bringen, sooft sie auch zusammenkämen in den nächsten Tagen und Monaten. Er würde zu Lúpa zurückkehren, irgendwann, und dann gäbe es nichts, was sie ihm würde vorwerfen können.
Sie bogen in eine verlassene Seitenstraße ein.
»Du denkst an sie , oder?« Falbe knuffte ihn in die Flanke.
»Geht mir genauso. Ständig.«
»Ja, nur dass es in deinem Fall beim Denken bleibt«, entgegnete Wolf scharf. »Such dir gefälligst eine andere.
Lacríma gehört mir, klar?«
»Klar«, sagte Falbe in übertrieben fröhlichem Tonfall. »Habe ich bereits getan. Ich kann jeden Tag eine andere haben, wenn ich will. Und nachts gleich zwei. Klar?«
»Hör auf zu protzen.«
»Deckung!«, bellte Zilber unvermittelt.
Wolf sah, wie Balderdachs den rechten Arm hochriss und eine blitzschnelle Bewegung machte, die einem Degenstoß ähnelte. Im gleichen Moment legte sich ein bläuliches Licht um Zilbers Körper. Nur Sekundenbruchteile später traf ein Geschoß den Lichtmantel auf Höhe seiner Stirn. Es zischte leise, und der Gegenstand, der kürzer und dicker als ein Pfeil gewesen war, verglühte buchstäblich.
»Eine Armbrust!«, rief Zilber und deutete hinter sich.
Gleichzeitig waren aus der Gegenrichtung schnelle Schritte zu hören. Als Wolf sich umwandte, standen zwei Hünen in groben Lederrüstungen vor ihm. Ihre Füße steckten in klobigen, stachelbewehrten Stiefeln, an den Handgelenken trugen sie lederne Schienen mit rundum eingelegten Höckern aus Stahl. In den Händen hielten sie Holzprügel aus zwei Segmenten, die mit kurzen Kettenstücken verbunden waren.
»Pelzjäger«, sagte Zilber heiser. »Endlich.«
Noch während er sprach, ließen die beiden ihre Waffen durch die Luft pfeifen. Wolf zog sein Schwert. Balderdachs hatte einen halb verrotteten Eimer aus der Gosse aufgehoben und schleuderte ihn auf einen der beiden Männer. Das Geschoss traf auf das äußere Glied seiner Schlagwaffe und wurde in der Luft zerschmettert. Der Pelzjäger machte einen Ausfallschritt, es knallte fürchterlich, und Balderdachs taumelte getroffen zurück. Blut troff ihm von den Lefzen, als er wütend die Zähne fletschte.
»Pass auf!«, rief Falbe hinter ihnen.
Instinktiv hob Wolf sein Schwert. Der vordere Holzprügel des zweiten Pelzjägers klappte über die Klinge. Ein Funkenregen ging über ihn hinweg, als die Kette daran abrutschte. Im nächsten Moment barst sie, und sein Gegner hatte nur noch das eine Ende seiner Schlagwaffe in der Hand. Er warf das nutzlose Stück Holz hinter sich und stürmte auf Wolf zu wie ein wütender Stier.
Gleichzeitig war Zilber an ihn herangetreten und zog ihm die beiden Saï aus dem Gürtel. Wolf war einen Moment abgelenkt und versäumte es, dem Faustschlag seines Gegners auszuweichen. Es fühlte sich an, als würde ihm der Schädel gespalten, und ein greller Blitz durchzuckte sein Gesichtsfeld, als der Arm des Pelzjägers seine Stirn rammte. Keine Sekunde später traf der zweite Haken sein Kinn. Wolf schmeckte sein eigenes Blut und wusste, dass er handeln musste.
Ohne irgendetwas sehen zu können, führte er mit gestrecktem Arm einen horizontalen Schwertstreich. Ein paar Herzschläge lang rechnete er mit weiteren Schlägen. Sie blieben aus.
Stattdessen brach sein Gegner zusammen und schrie aus Leibeskräften.
Endlich kehrte die klare Sicht zurück. Der andere Pelzjäger hatte seinen Kettenprügel verloren. Ein Saï steckte ihm im rechten Unterarm, der andere im linken Knie. Wolfs eigener Gegner lag vor ihm auf dem Rücken, die Hände auf das Gesicht gepresst. Blut sprudelte aus den Zwischenräumen seiner Finger hervor und lief ihm nach und nach über den sich windenden Körper. Mit einem Gefühl grimmiger Zufriedenheit bemerkte Wolf, dass dasselbe Blut von Medimóntiers Spitze tropfte.
Er sah sich nach seinen Freunden um. Balderdachs hatte sich an die Wand eines Hauses zurückgezogen. Falbe war nirgends zu sehen. Zilber entdeckte er nur ein paar Schritte hinter sich. Noch immer von dem magischen Licht umgeben, näherte er sich dem dritten Pelzjäger, der auf sie geschossen hatte und in fliegender Hast seine Armbrust neu zu spannen versuchte.
Zilber schritt langsam auf ihn zu. Endlich saß der Bolzen, die Spannwinde fiel zu Boden. Zilber blieb unmittelbar vor dem Mann stehen, streckte die rechte Hand aus und sagte etwas, das in den Todesschreien des anderen Pelzjägers unterging. »Dreh dich um!«, schrie Balderdachs auf einmal.
Wolf gehorchte blitzartig. Der dritte Pelzjäger hatte sich mit einem Laut der Anstrengung den Saï aus dem Knie gezogen. Jetzt packte er eine hölzerne Bank, die unter einem zerbrochenen Fenster stand, wuchtete sie trotz seines verletzten Arms in die Höhe und warf sie Wolf entgegen. Es war nicht schwer, ihr auszuweichen, und sie zerbrach krachend am Boden.
Wolf wandte den Kopf. Zilber versuchte vergeblich, dem Schützen die Armbrust zu entwinden. Während der Rangelei wies die Mitte des Bügels genau auf Zilbers Brust. Wenn sich der Schuss jetzt löste und der Schutzzauber im gleichen Moment versiegte …
Aber so weit kam es nicht. Zilber riss den Bügel in die Höhe, kippte ihn von sich weg und zertrümmerte seinem Gegner das Nasenbein. Dann presste er den Armbrustbügel langsam unter dessen Kinn und tastete gleichzeitig mit der linken Hand nach dem Abzug.
Der Pelzjäger, aus dessen Nasenlöchern Blut strömte, bemühte sich, etwas zu sagen.
Zilber antwortete. Und drückte ab.
Der Bolzen durchschlug den Kopf des Mannes der Länge nach, Blut und Gehirnmasse spritzten an die Hauswand hinter ihm, und er fiel leblos in sich zusammen. Zilber stand auf, klopfte sich imaginären Staub vom Fell und winkte grinsend herüber.
Wolf wandte sich wieder seinem eigenen Gegner zu. Dieser hatte sich mit einem unterdrückten Schrei den zweiten Saï aus dem Arm gezogen und wollte damit auf ihn losgehen. Doch da war Zilber schon an seiner Seite, zog etwas metallisch Blitzendes aus seiner Hosentasche und schleuderte es dem Pelzjäger aus dem Handgelenk entgegen.
Der Wurfstern sengte durch die Luft und traf ihn im Gesicht. Aufheulend drehte er sich um die eigene Achse und ergriff humpelnd die Flucht.
»Die sind bedient!«, rief Balderdachs grimmig. Er hatte Mühe, die Schreie des noch immer verwundet daliegenden Pelzjägers zu übertönen, und legte mit genervter Miene die Ohren an.
»Der ist übel dran«, rief Zilber zurück. »So ähnlich ist auch mein ältester Bruder gestorben!«
»Was machen wir mit ihm?«, fragte Wolf zurück. »Er wird noch die ganze Stadt aufwecken!«
Zilber eilte zu dem Verwundeten, packte mit einem Arm seinen Nacken und mit dem anderen seinen Kopf. Schon dachte Wolf erstaunt, er wolle ihm helfen. Zilbers Oberkörper neigte sich in einer kräftigen, schwungvollen Bewegung, es knackte widernatürlich, und die Schreie gingen in ein schwaches Röcheln über, das nach wenigen Herzschlägen ganz verstummte. Zilber erhob sich und beäugte missmutig die Blutflecken auf dem weißen Fell seiner Unterarme.
»Jetzt hatte er es doch leichter als mein Bruder«, murmelte er, während sein Lichtmantel zu flackern begann. »Danke übrigens für den Schutzzauber, Balder.«
»Hauen wir endlich ab!« Balderdachs wischte sich mit dem Handrücken das Blut von der Schnauze. »Mistkerle. Wir hätten den Letzten auch noch abmurksen sollen. Der wird zurückkommen und sich rächen!«
»So schnell nicht. Oh, ich hab noch was vergessen.« Zilber eilte zu dem anderen Getöteten und entwand ihm die Armbrust.
»Seid ihr so weit? Wir sollten endlich verschwinden!«
Wolf spuckte aus, um den widerlichen Blutgeschmack loszuwerden. In seinen Ohren rauschte es. Er sammelte seine Saï auf, wischte sie nachlässig ab und steckte sie ein. Als er aufsah, kam Falbe gerade aus seinem Versteck geschlichen – ein dunkler Winkel zwischen zwei Häusern, wo er anscheinend bis zu den Knien in Jauche versunken war.
Am Seeufer legten sie eine kurze Rast ein, um Blut und Dreck abzuwaschen. Balderdachs tauchte kurzerhand ganz unter und schwemmte sich damit auch die Kohlefarbe aus dem Fell, die die weißen Streifen überdeckt hatte. Nun sahen er und Zilber wirklich wie Zwillinge aus, die mit vertauschten Farben auf die Welt gekommen waren.
Falbe war schweigsam geworden. Eindeutig schämte er sich dafür, dass er sich so feige verdrückt hatte. Wolf ignorierte ihn und beschloss, sich für den Rest der Nacht aufs Ohr zu legen. Er war sterbensmüde.
Im Traum sah er Lacríma. Sie trieb es mit einem Apfelverkäufer, dem in Sturzbächen Blut aus Mund und Nase schoss. Sie lachte, obwohl ihr dabei das Blut ins lustverzerrte Gesicht spritzte. Es war nicht ihre Schuld, dachte er im Traum, sie wollte ihn nicht töten, dazu hat sie zu wenig Fell. Plötzlich war er mit ihr allein, und sie fragte ihn etwas, das er nicht verstand.
Die Kälte, wiederholte Lacríma mit lauter, schneidender Stimme. Spürst du sie auch? Sie packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. Spürst du sie? Die Kälte! Spürst du die Kälte?
Er erwachte durch ihr Schütteln.
»Wach auf, Wolf«, sagte Balderdachs, der ihn tatsächlich an den Schultern gepackt hatte. »Schlecht geträumt, was? Es ist spät. Wollten wir nicht um Mittag auf dem Fest sein?«
Ächzend erhob er sich. Er war nassgeschwitzt, fühlte sich zerschlagen und hatte das Gefühl, nur wenige Minuten geschlafen zu haben.
»Ich warte draußen. Die anderen sind schon auf den Beinen.
Beeil dich!« Balderdachs schlug die Tür der Zelle hinter sich zu.
Lacríma musste am Morgen dagewesen sein. Gierig verschlang Wolf das bereitstehende Frühstück. Hoffentlich hatte sie sich nicht von Falbe beeindrucken lassen. Sollte der Jungstreuner hinter seinem Rücken versuchen, sich an sie heranzumachen, konnte er was erleben! Wenigstens den Wasserkrug hatte er neu befüllt.
Zu viel mehr ist er ja nicht zu gebrauchen.
Wolf war selbst erstaunt über die zornige Entschlossenheit, mit der er sich den Saï-Gürtel umlegte und das Schwert über die Schulter warf. Nach allem, was gestern passiert war, schien ihm selbst ein Kampf mit dem Schnitter persönlich nur noch ein Spaziergang zu sein.
Wortlos nickte er seinen Freunden zu, die ihn draußen erwarteten. Der Himmel war eisblau und wolkenlos, die Luft sehr kühl. Die Gasse lag noch im Schatten.
»Gut geschlafen?«, grinste Falbe, den angewinkelten rechten Fuß lässig gegen die Stadtmauer gelehnt.
»Halt deine vorlaute Klappe«, knurrte Wolf. »Wer kennt den schnellsten Weg zum Palast?«
»Ich!« Balderdachs′ Augen funkelten. »Endlich ein bisschen Spaß haben. Los geht′s!«
Er führte sie auf die Hauptstraße, die das östliche Stadttor mit den Terrassen unter dem Königspalast verband. Sie begegneten kaum jemandem. Die meisten Bewohner mussten sich längst auf den Weg gemacht haben, um die besten Plätze zu ergattern. Erst als Wolf und seine Freunde das Randviertel hinter sich gelassen hatten und die Häuser zu beiden Seiten höher und prächtiger wurden, kam Leben in die Stadt. Elben schritten mit zufriedenen Mienen und leuchtenden Gewändern gruppenweise die Straße entlang. Junge Menschenfamilien beeilten sich, Streunersoldaten aus dem Weg zu gehen, die vor größeren Kreuzungen und Amtsgebäuden patrouillierten oder wichtige Persönlichkeiten in Richtung Palastberg eskortierten. Schließlich verbreiterte sich die Straße und mündete auf einen weitläufigen Platz, der auf der anderen Seite durch den Tafelberg begrenzt wurde. Hier tummelten sich die Massen.
Menschen, Elben und Streuner standen herum oder lagerten auf Strohmatten beisammen. Man vertrieb sich die Zeit mit Plaudern oder Spielen wie Taks und Sieben Könige . Überall wurde gegessen und getrunken; an überdachten, mit bunten Wimpeln behängten Buden wurden allerlei Köstlichkeiten verkauft. Ein würziger Geruch nach Rauch, Bratfett, geschmolzenem Zucker, kandierten Früchten, Röstkáwha und schwitzenden Körpern lag in der Luft. Musikgruppen spielten zum Tanz auf, hier und da zeigten sogar Akrobaten und Jongleure ihre schwindelerregenden Künste.
»Passt auf eure Sachen auf«, empfahl Balderdachs. »Im Getümmel klauen sie bestimmt wie die Raben!«
Sie bahnten sich ihren Weg über den Platz. An den Hang des Tafelbergs schmiegten sich auf drei Ebenen jeweils drei Terrassen, die durch breite Treppen miteinander verbunden waren. Ein gutes Stück über der höchsten Terrasse gleißte in der Vormittagssonne die weiße Fassade des Königspalasts.
Darüber – Wolf traute seinen Augen kaum – schwebten sieben riesige Fesselballons am Himmel. Jeder von ihnen war in den Wappenfarben eines der sieben Königreiche Lesh-Tanárs gehalten. Der mittlere war feuerrot und trug den schwarzen Greif. Das Wappen Tanárs riesenhaft über dem Geschehen prangen zu sehen erfüllte Wolf mit einem stärkenden Gefühl der Sicherheit. Er wies auf die oberste Terrassenreihe. »Wir müssen da rauf!«
Es war brechend voll. Von unten konnte man sehen, dass die Leute auf den Terrassen dicht an dicht standen. Selbst auf den Stufen hatten sich manche der Schaulustigen niedergelassen und dachten nicht daran, Platz zu machen, wenn jemand an ihnen vorbeiwollte. Wolf stieg über die teils wüst Schimpfenden hinweg und war froh, als er und seine Freunde endlich die erste Treppe erklommen hatten.
Auf der unteren Terrasse gab es kaum noch ein Durchkommen. Wolf sah keinen Sinn darin, Rücksicht zu nehmen. Stur drückte er sich zwischen den Massen hindurch, doch er kam kaum voran und spürte oft genug absichtlichen Widerstand.
»So kommen wir nie an«, stellte Balderdachs fest.
»Lass mich mal vorbei!« Zilber überholte Wolf und begann, mit Armen und Beinen einen Weg freizupflügen.
»Platz da!«, brüllte er. »Platz für die Vertreter der Kampfstreunergilde! Aus dem Weg, na los!«
Immerhin rückten die Leute nun beiseite, und die vier Streuner konnten ungehindert die zweite Treppe hinaufsteigen. Auf der nächsten Terrasse erwiesen sich die Besucher als höflicher.
Sie waren gepflegt gekleidet, widmeten sich gesitteten Gesprächen und machten Platz, auch ohne dass Zilber eine Bresche in die Menge schlagen musste.
Die dritte und letzte Treppe riegelten einige Dutzend Soldaten ab – vorn zwei Reihen Menschen mit goldenen Rüstungen und roten Federbüschen auf den Helmen, hinten zwei weitere Reihen schwarzfelliger Streuner mit silbernen Helmen, Brustpanzern und Beinschienen. In tadelloser Formation präsentierten sie edle Speere aus schwarzem Holz; die Menschen trugen zudem rechteckige goldbeschlagene Schilde.
Wolf war klar, dass hier die besten Elitesoldaten Téan Hus zum Schutz der höchsten Besucherterrasse bereitstanden. Dort nämlich hielten sich die reichsten und mächtigsten Untertanen des Westkönigs auf. Doch warum hatte ihm Lacríma nichts davon gesagt? Sie musste doch wissen, dass man ihn und seine Freunde niemals dort hinauflassen würde!
»Ich muss hier durch«, forderte er halbherzig.
Die Soldaten bewegten sich nicht einen Zoll. Sie schauten Wolf nicht einmal an, sondern blickten starr geradeaus.
»Hört ihr schlecht?«, bellte Zilber. »Die Vertreter der Kampfstreunergilde begehren …«
»Habt Ihr eine persönliche Einladung des Senats?«, unterbrach ihn die scharfe Stimme eines Hauptmanns in der Mitte. Er warf den vier Neuankömmlingen aus dem offenstehenden Visier seines Helms einen finsteren Blick zu, ohne auch nur um Haaresbreite von seiner Position zu weichen.
Zilber musterte den Hauptmann verächtlich und schwieg.
»Dann kommt ihr auch nicht weiter rauf, also gebt gefälligst Ruhe!«, schnarrte der Hauptmann. »Jeden Moment beginnen die Feierlichkeiten.«
Auf der oberen Terrasse löste sich eine Frau aus einer Gruppe Elben und kam die Treppe herab. Ihr smaragdgrünes Seidenkleid wogte im Takt ihrer Schritte. An ihren Fingern blitzten juwelenbesetzte Ringe. Ein halbtransparenter lindgrüner Schleier bedeckte ihr Gesicht, und unter ihrem Kinn perlte eine silberne Halskette hervor.
»So, weiter rauf kommen wir also nicht«, wiederholte Zilber bedächtig. Er baute sich vor dem Hauptmann auf, wie um ihn allein durch die Erscheinung seines muskelbepackten Körpers einzuschüchtern. »Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast, du lächerlicher Waffenheld. Aber ich werde es dir gleich mal flüstern …«
Der Hauptmann öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, da legte ihm einer der Streuner von hinten die Hand auf die Schulter.
Die Elbendame im grünen Kleid richtete hinter vorgehaltener Hand ein paar Worte an die beiden. Sie kicherte leise, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand unter ihresgleichen.
»Alles klar«, sagte der Hauptmann. »Ihr dürft passieren.«
»Na endlich«, brummte Balderdachs. »Wäre auch das erste Mal, dass die Vertreter der Kampfstreunergilde eine Einladung bräuchten, was, Zilber?«
Die acht Soldaten in der Mitte drehten sich zackig zur Seite, so dass eine schmale Passage entstand. Die ungeladenen Gäste gingen hindurch und erklommen die Stufen.
Wolf staunte. Ob die Elbendame an ihm und den Seinen Gefallen gefunden hatte? Oder steckte am Ende Lacríma unter dem grünen Seidenschleier? Womöglich verkehrte sie in den höchsten Kreisen der Stadt! Als er die letzte Stufe der Treppe hinter sich gebracht hatte, hielt er nach der Dame in Grün Ausschau, konnte sie jedoch nirgends mehr entdecken. Dabei hätte er ihr gerne wenigstens mit einem flüchtigen Blick für ihre Hilfe gedankt – wer auch immer sie tatsächlich war.
Endlich hatten sie das Gedränge ganz hinter sich gelassen. Die geladenen Gäste auf der höchsten Terrasse beäugten die vier Streuner mit teils erstaunten, teils abschätzigen Blicken.
Wolf brauchte seinerseits einen Moment, um sich zu orientieren. Die Besucher hier oben konnten es sich offenbar leisten, sich mit den erlesensten Duftölen einzunebeln. Er gab sich Mühe, nicht zu niesen, so sehr reizten die verschiedenen Gerüche seine feine Nase. Lacríma aufzuspüren war damit völlig aussichtslos.
Dafür war die Sicht die beste, die man sich vorstellen konnte. Über den natürlichen Absatz des Tafelbergs – zwischen den Kapitellen, die die Palastmauer abstützten, und der Terrasse – waren Wasserfälle geleitet worden. Von den Zinnen und Balkonen des Palastes ebenso wie von den Geländern wehten gelbe Banner mit der Sonne von Téan Hu. Tausende Sonnenblumen und exotische, Wolf unbekannte Blüten zierten Brüstungen und Säulen. Ein weitläufiger Balkon in der Mitte war besonders farbenprächtig geschmückt, und so auch der höchste der schlanken weißen Türme, die an seinen vier Ecken in den Himmel aufragten. Über allem standen prall und leuchtend die sieben überdimensionalen Fesselballons, an denen jeweils ein sicherlich mannsgroßer Korb befestigt war. Von den Halteseilen flatterten Aberhunderte bunter Wimpel. Leise Klänge wehten aus den Palastgärten über den Hofstaat und die Besucher hinweg. »Da wären wir!« Balderdachs rümpfte in einer Mischung aus Zufriedenheit und Ekel die Nase. »Oder sollen wir gleich Einlass in den Palast verlangen?«
»Nein, dieser Ort ist der Kampfstreunergilde würdig«, erwiderte Wolf grinsend. »Mal abwarten, was als Nächstes passiert.«
Sie brauchten sich nicht lange in Geduld zu fassen. Bald nachdem die vier sich unter die edlen Gäste gemischt hatten, erschienen auf dem Balkon acht Mitglieder der königlichen Garde. Anstatt ihrer Waffen hielten sie lange silberne Trompeten in den Händen. Sie setzten ihre Instrumente an die Lippen und bliesen eine leer tönende Fanfare, die über die gesamte Stadt hinwegdröhnte und erst gegen Ende in strahlende, triumphale Klänge mündete. Wolf bemühte sich der Höflichkeit halber, nicht die Ohren anzulegen, obwohl die Musik für seinesgleichen von betäubender Lautstärke war. Doch die anderen Besucher achteten ohnehin nicht auf ihn oder seine Freunde. Aller Aufmerksamkeit war auf den Balkon gerichtet.
Nachdem die Fanfare verklungen war, erschien zwischen den Trompetern ein prächtig gekleideter Herold mit einem goldenen Degen an der Seite und einer Schriftrolle in den Händen, aus der er mit lauter, sonorer Stimme vorzulesen begann.
»Seine Majestät König Ņátahi der Elfte hat Euch alle, die Ihr hier versammelt seid, zu diesem Fest geladen, um mit Euch zusammen seinen Triumph zu feiern; denn unser Herrscher erfreut sich auch weiterhin bester Gesundheit. Seine Erscheinung strahlt an der Spitze unseres Volkes wie die Sonne am Himmel. Er ist ein Diener Syóls, des Sonnengottes, eine wegweisende Fackel, die den Tunnel einer mitunter düsteren Zeit erleuchtet und die Seinen sicher an sein Ende geleitet, ohne dass auch der Geringste und Schwächste dabei verlorenginge – ans Tageslicht einer sicheren, freudvollen, friedlichen und harmonischen Zukunft …«
In dieser Art fuhr der Herold noch eine Weile fort. Wolf bemerkte, dass Zilber unruhig mit den Füßen scharrte und den Balkon mit eisigem Blick fixierte. Wolf schaute ebenfalls wieder hinauf. Einer der Fesselballons – rundum grün und mit einer goldenen Ähre darauf, nach seinem Wissen das Wappen des Südens – wogte leicht hin und her. Nach dem Flattern der Wimpel zu urteilen, ging dort oben ein starker Wind.
»… und so bitte ich Euch, unserem Herrscher, Seiner Majestät König Ņátahi dem Elften, die ihm gebührende Ehre zu erweisen, wenn er sich Euch nun zeigen wird, in all seiner Erhabenheit, den Schutz von Syól genießend – dort, wo unsere Sinisterianten den Lauf von Syól, Émuon und den Sternen zu beobachten und zu dokumentieren pflegen …« Der Herold verstummte und wies mit feierlicher Geste hinauf zur höchsten der vier weißen Turmzinnen. Die Gardisten erhoben ihre Trompeten und schmetterten den Versammelten eine vielstimmige Ankündigung entgegen. Wolf biss die Zähne zusammen. Die Fanfare war so unerträglich laut, dass seine Ohren höllisch zu jucken begannen.
Endlich verklang die Musik. Ehrfürchtige Stille legte sich über die Menge. Alles starrte in den Himmel, zur Spitze des blütengeschmückten weißen Turms. Vom Wind getrieben, strebte der Südballon auf die Zinne zu und zerrte wie in ungeduldiger Erwartung an seinem Halteseil. Nur das Flattern der Wimpel und gelegentliches Hüsteln der Gäste waren zu hören.
Da endlich erhob sich auf der Turm spitze eine hochgewachsene Gestalt, deren strahlend weißes Gewand mit der gestickten goldenen Sonne auf der Brust selbst Zilbers Erscheinung in den Schatten stellte. Der König hatte langes blondes Haar und trug eine aus Silber gewundene Krone auf dem Kopf, die in der Sonne blitzte. Gebieterisch hob er die Hand, und ein ehrfürchtiges Raunen ging durch die Scharen von Menschen, Elben und Streunern.
Wolf warf seinen Freunden einen flüchtigen Blick zu.
Balderdachs schirmte mit dem Ellbogen die Augen ab, während er in die Luft starrte. Falbes Augen und Ohren waren weit aufgerissen, sein Rachen ebenfalls. Er staunte mit der Masse.
Zilber dagegen konnte allem, was hier passierte, offenbar nicht viel abgewinnen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, mahlte mit den Kiefern und schien in Gedanken seine nächste Jagdbeute auszuweiden.
»Lang lebe der König!«, donnerte der Herold. »Der Lauf von Syól begleite unseren Herrscher bis ans Ende seiner Tage. Er schütze und bewahre ihn und lasse sein Reich auf ewig blühen und gedeihen!«
»Lang lebe der König!«, wiederholte das Volk im Chor, zuerst auf den oberen Terrassen, dann fielen immer mehr Stimmen von weiter unten mit ein. »Lang lebe der König! Lang lebe der König!«
Der Südballon wurde in die Sichtlinie zwischen Zinne und Zuschauer getrieben, so dass der daran hängende Korb und die bewimpelten Seile den grüßenden König zur Hälfte verdeckten. »Die Organisation lässt zu wünschen übrig«, knurrte Zilber, anstatt sich der vielstimmigen Gratulation anzuschließen. »Jemand hätte den Wind abstellen sollen. Man sieht ja kaum mehr was. Oh, da scheint noch mehr schiefzugehen!«
Wolf strengte seine Augen an. Tatsächlich – im Korb des Südballons, fast auf gleicher Höhe wie die Turmzinne, erhob sich eine grau verhüllte Gestalt. Sie kletterte auf den Rand des Korbs, winkte dem Volk zu und sprang dann auf die Plattform hinüber. Einige klatschten und pfiffen begeistert über solchen Wagemut, doch die Mehrheit schien irritiert. Mit dieser Darbietung hatte niemand gerechnet, am wenigsten der Herold und die Mitglieder der königlichen Garde, deren Gesichter kreideweiß geworden waren.
Der König hatte den Arm sinken lassen und wandte sich dem in Grau Gewandeten mit einer fast begütigenden Geste zu. Dann plötzlich wich er zurück: Der Graue zog ein langes Schwert aus seinem Gewand. Zügig und kraftvoll holte er zum Schlag aus.
König Ņátahi hob abwehrend die Hand, doch umsonst.
Schreckensrufe gingen durch die Menge, als die Klinge in der Sonne aufblitzte – und auf den Herrscher herabfuhr. Er ging zu Boden und verschwand aus dem Blickfeld der Zuschauer.
Wieder und wieder hob der Mörder das Schwert und ließ es auf den wehrlosen Herrscher herabsausen. Bereits beim dritten Hieb konnte man selbst von den untersten Terrassen aus das Blut sehen, das von der todbringenden Klinge troff. Beim erneuten Ausholen wurde es weggeschleudert und zeichnete nur Augenblicke später eine bizarre Schärpe längs über das Gesicht des Herolds, der eben den Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen.
Mit dem gellenden Schrei einer Frau auf der obersten Terrasse löste sich die Menge aus der Starre des Entsetzens. Lautes Wutgeheul erscholl. Manche eilten kopflos in Richtung Treppe und prallten dabei gegen andere oder schubsten sie wüst beiseite. Der Herold fand seine Sprache wieder, doch seine Worte gingen in dem losbrechenden Tumult unter.
Wolf wandte seinen Blick wieder hinauf zur Turmzinne. Der in Grau Gewandete schien sein blutiges Werk vollendet zu haben.
Er sprang zurück in den Korb des Südballons und kappte mit einem einzigen Schwerthieb das Halteseil. Sofort erfasste der Wind den Ballon und trieb ihn über den Palast in Richtung Norden davon. Er verschwand hinter der Kante des Tafelbergs.
Während der Rest der königlichen Garde ausrückte, um die Verfolgung des Königsmörders aufzunehmen, blieben vier Trompeter auf dem Balkon zurück und ließen ein langanhaltendes Signal erschallen. Umsonst – die Leute auf den Terrassen weinten, schrien und flohen heillos durcheinander. Viele stürmten ohne Rücksicht auf Verluste zu den Treppen. Andere wälzten sich jammernd auf dem Boden oder klammerten sich hilfesuchend an andere. Am schlimmsten aber waren diejenigen anzusehen, die mit aschfahlen Gesichtern dastanden und noch immer in die Höhe starrten, als könnten oder wollten sie das Geschehene nicht begreifen.
Die bereitstehenden Soldaten hatten angesichts der auf sie zustürmenden Massen die Treppe teilweise geräumt, um nicht überrannt zu werden oder die Flüchtenden versehentlich mit ihren Waffen zu verletzen. Einem der Streunersoldaten wäre ein Elb, der sich im Laufen umwandte, in die blanke Speerspitze gelaufen, hätte er sie nicht im letzten Moment weggezogen.
Wolf gab sich Mühe, in dem Getümmel die grüngekleidete Elbin auszumachen. Zu dumm, dass er ihren Duft nicht hatte wahrnehmen können. Sie war sein einziger Anhaltspunkt, was Lacríma betraf – die er schnellstens finden musste. Der Ballon war bestimmt längst gelandet, und wenn der Schnitter persönlich in dem Korb gesessen hatte, war sein Vorsprung schon viel zu groß.
Jemand rief seinen Namen. Wolf sah sich um und entdeckte seine Freunde, die auf die Mauer zwischen der mittleren und der östlichen Seitenterrasse geklettert waren. Er beeilte sich, einer Gruppe von Menschen in perlenbestickten Kleidern auszuweichen, tat einen gewaltigen Satz und sprang hinauf. Von der Mauer aus ließ er seinen Blick erneut über die Terrasse schweifen – ohne dass er Lacríma oder die Elbendame erspähen konnte.
Die Trompeter verstummten. Der Herold, dessen aschfahles Gesicht noch immer das Blut des Königs verunzierte, beugte sich über die Balkonbrüstung.
»Worauf warten Sie?«, schrie er den restlichen Soldaten auf der obersten Terrasse zu. »General Nachtschatten erwartet Sie im südlichen Palasthof. Abmarsch!«
»Kommt mit!«, sagte Zilber und sprang von der Mauer. »Die Kampfstreunergilde wird gebraucht!«
Wolf und Balderdachs folgten ihm.
»Wartet«, rief Falbe, ohne gehört zu werden.
Sie eilten den Soldaten nach, die über eine Treppe auf die linke Seitenterrasse abzogen. An deren Nordrand befand sich ein gemauerter Übergang zu einer schmiedeeisernen Tür in der Felswand. Dahinter gähnte ein senkrechter Schacht, der in das Innere des Tafelbergs getrieben worden war und die Terrasse über eine Wendeltreppe mit den Palasthöfen verband. Zwei weitere Treppen führten in die Tiefe.
Wolf fragte sich, ob man womöglich über verborgene Stufen und Tunnel von den Katakomben der Tempelruine aus bis in den Palast vordringen konnte.
Grelles Sonnenlicht flutete in den südlichen Palasthof. Hohe Mauern mit Wehrgängen und breiten Toren fassten die quadratische, mit riesigen Steinplatten gepflasterte Anlage ein. Als Wolf die letzte der zahlreichen Stufen erklommen hatte, musste er die Augen zusammenkneifen. Erst als er sich an das helle Licht gewöhnt hatte, erblickte er den General.
Nachtschatten war ein Streuner mit schwarzem Fell und schwarzen Augen, der in voller Rüstung auf einem schwarzen Pferd saß. Seine Waffen glichen denen der Soldaten, die aus den Toren strömten oder mit Wolf und den anderen von der Terrasse heraufkamen.
»Hauptmann Fleck!«, bellte er. »Meldung!« Vor Aufregung blähte sein Pferd wiehernd die Nüstern.
Der Streunerhauptmann, den die grüne Elbin auf der Terrasse dazu gebracht hatte, Wolf und die Seinen durchzulassen, trat vor.
»Staffel Basalt Eins, bereit!«, schnarrte er.
»Hauptmann Mótuhi! Meldung!«
Mótuhi war der Mensch, der Zilber zuvor den Durchgang verwehrt hatte. Mit strammen Schritten trat er an Flecks Seite.
»Staffel Ábanas Eins, bereit!«
»Ihr verliert nur Zeit!«, brüllte Zilber auf einmal dazwischen. »Derjenige, der euren König getötet hat, ist längst auf der Flucht! Warum verfolgt ihr ihn nicht?«
Alles drehte sich zu ihm um, und ein Raunen ging durch die sich formierenden Soldaten. Zilber setzte sich in Bewegung und hielt direkt auf Nachtschatten zu. Entgeistert blickte Wolf ihm nach.
»Knappen!«, brüllte der General. »Packt den Kerl und werft ihn in den Karzer!«
»Der Mörder lacht sich ins Fäustchen«, fuhr Zilber fort, noch lauter als zuvor. »Und das zu Recht, wenn die Palastwache kostbare Zeit mit sinnlosem Gestammel vergeudet!«
»Würdest du Hund uns unsere Arbeit machen lassen, steckte sein Kopf vielleicht schon in diesem Augenblick auf meinem Speer«, fauchte der General zurück. »Aber sei′s drum, wir kriegen den Schuldigen früh genug. Zuerst muss ich allerdings etwas klarstellen. Bogenschützen!«
Auf den Wehrgängen erhoben sich gut vier Dutzend Soldaten und legten auf Zilber an. Dieser ging auf alle viere und spreizte die Schnurrhaare.
»Du hast genau fünf Sekunden um zu verschwinden, Fremder«, blaffte der General. »Fünf!«
»Was glaubst du, wen du vor dir hast, du rostige Blechbüchse?«, sagte Zilber leise und mit drohendem Kehlenrollen.
»Vier!«
»Ich, Zilberpardel von Orilac, verfüge über das Wissen der Jäger-, der Fleischer- und der Kampfstreunergilde! Glaubst du …«
»Drei!«
»… glaubst du wirklich, ich habe Angst vor deinen lächerlichen …«
»Zwei!«
Wolf schien es höchste Zeit einzugreifen.
»Lasst Euch helfen, General!«, rief er. »Als Soldat aus Tanár bin ich im Namen des Friedens unterwegs!« Er packte Balderdachs bei der Schulter. »Meine Freunde und ich wären dankbar, Euch dienen zu dürfen.«
»Wie kommst du denn auf die Idee?«, murmelte Balderdachs.
Nachtschatten musterte die drei. Er schien verunsichert.
»Nehmt sie alle ins Visier!«, brüllte er dann. »Und: eins!«
»Lauft!«, schrie Wolf, hechtete auf die Treppe zu, hörte, wie seine Freunde ihm folgten, und sprang in den Schacht. Er überschlug sich und krachte gegen das Geländer der Wendeltreppe, bevor er auf einer verbreiterten Stufe liegenblieb. Balderdachs folgte ihm kein bisschen eleganter. Zilber dagegen kam einen Moment später gelassen die Stufen herabgeschlendert.
»Sie haben ja nicht einmal geschossen«, bemerkte er, wobei er schnüffelnd die Schnauze in Richtung Luke hob. »Und uns zu verfolgen lohnt sich für sie erst recht nicht. Reines Säbelrasseln. Wir hätten bleiben sollen.«
»Halt bloß deine vorlaute Klappe«, erwiderte Wolf, während er und Balderdachs sich aufrappelten. »Du hast gerade ziemlichen Mist gebaut. Ich hätte es vorgezogen, vernünftig mit dem General zu verhandeln. Stattdessen hält er uns jetzt womöglich für Untergebene des Schnitters!«
»Vorsicht«, knurrte Zilber. »Erstens war es meine Idee, den Soldaten zu folgen, und zweitens hatte ich Recht. Mit zeitraubenden, unnützen Meldungen fängt man den Königsmörder jedenfalls nicht!«
»Aber genausowenig, indem man das ganze Heer aufhält und den General beschimpft!«, konterte Wolf, der die Wut in sich aufsteigen fühlte. »Durch deinen Auftritt hat der Schnitter nur noch mehr Zeit gewonnen.«
Zilbers Lefzen hoben sich. »Ich glaube, du brauchst eine Abreibung, mein Freund …«
»Langsam reicht′s mir!«, rief Balderdachs. »Ihr unverbesserlichen Streithähne! Überlegt gefälligst, was wir tun sollen. Nur zur Erinnerung: Der Westkönig ist tot und der Schnitter auf der Flucht, während wir hier stehen und plappern. Bei der Armee haben wir uns gerade unbeliebt gemacht, dabei hätten wir ihre Hilfe so gut brauchen können.« »Wolf!«, tönte es vom Fuß der Treppe herauf.
Lacríma!, dachte er, und sein Herz machte einen Sprung.
Ohne weiter auf Zilber oder Balderdachs zu achten, eilte er die Stufen hinunter. Sie stand an der Tür zur Terrasse, Falbe war dicht hinter ihr. Ihr grünes Kleid hatte gelitten, es war schmutzig und stellenweise zerrissen. Tatsächlich war sie die Dame auf der Terrasse gewesen. Ihr Schleier war fort, ihr Haar zerzaust, und sie musterte Wolf aus großen, verstörten Augen. »Was wolltet ihr da oben?«, fragte sie mit zitternden Lippen. »Meine Leute sind längst hinter dem Schnitter her.«
Wolf schwieg, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte sich, warum er nicht weiter nach ihr gesucht hatte, anstatt kopflos den Soldaten nachzulaufen. Falbe hatte kein Recht, mit ihr allein zu sein!
»Ich konnte nichts tun«, stammelte sie. Dann brach sie in Tränen aus und fiel ihm in die Arme.
»Wenn ihr zwei fertig seid«, bemerkte Zilber mit betont grollendem Unterton, »sollten wir endlich verschwinden. Hier können wir sowieso nichts mehr ausrichten.« Mit aufgestelltem Nackenfell trat er an Wolf vorbei durch den Torbogen.
Balderdachs folgte ihm.