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Das Schicksal des Generals

Lacríma hatte sie in zwei engen Zellen untergebracht, die in die südliche Stadtmauer gebaut waren und in Kriegszeiten von Soldaten und zusätzlichen Wacheinheiten bewohnt wurden.

Während er so tat, als richtete er sich darin wohnlich ein, verfolgte Wolf aus dem Augenwinkel, wie die junge Frau Falbes blutende Schnauze verarztete. Mit einem feuchten Lappen tupfte sie das Blut ab, was er starr und mit halbgeschlossenen Augen geschehen ließ. Dann gab sie ihm ein scharf duften des Kraut.

»Zerreibt es und presst es auf die Wunde«, empfahl sie ihm.

»Euren abgebrochenen Zahn allerdings wird nur ein Magier

wiederherstellen können, fürchte ich.«

»Es tut kaum noch weh. Danke, Lacríma.«

Um sich abzulenken, spähte Wolf durch das winzige, mit einem Gitterkreuz versehene Fenster auf den See hinaus. Hier waren sie fürs Erste vor dem Schnitter sicher. Die steinernen Wände hielten jedem Angriff stand, und die massive Bohlentür konnte von innen verriegelt werden. Ein kleiner Vorrat an Kerzen samt einem dreiarmigen Leuchter sorgte für das nötige Licht.

Außerdem gab es einen plumpen Tisch mit zwei Hockern sowie zwei leicht schimmelige Strohlager. Auf einem Brett an der Wand stand neben grobem tönernem Geschirr ein menschlicher Totenschädel, der wölfisch in die Stube grinste.

»Sobald es dunkel ist, werde ich Euch etwas zu essen bringen«, versprach Lacríma. »Wasser bekommt Ihr aus dem See; einen Steinwurf weiter westlich gibt es eine Pforte in der Mauer.

Der Schlüssel hängt hier.« Sie wies auf einen Haken hinter der Tür. »Oder Ihr geht zum Brunnen, zwei Straßen nördlich.

Verlasst die Unterkunft möglichst selten und lasst besser nichts von Euren Sachen zurück. Nehmt Euch vor Pelzjägern in Acht. Wir sollten ein Signal verabreden. Ich klopfe zweimal, dann dreimal und wieder zweimal.«

Wolf nickte, während sich Falbe damit begnügte, Lacríma fasziniert anzustarren.

»Wolf? … Darf ich Euch einen Augenblick allein sprechen?«

»Hm? Ja, natürlich. Falbe?« Er machte eine unmissverständliche Handbewegung. Eifersüchtig hob der Jungstreuner eine Lefze, stapfte mit einem letzten Blick auf Lacríma nach draußen und ließ die Tür mit einem Knall hinter sich ins Schloss fallen.

Lacríma senkte die Stimme und schaute Wolf verwundert an.

»Warum hat er sich denn sein Fell schwarz angemalt?«

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte er.

»Er kommt nicht an Eure natürliche Färbung heran.«

Er nickte verwirrt.

»Wie auch immer, wir müssen rasch handeln.« Sie kam einen Schritt auf ihn zu. »Ich vertraue Euch, Wolf von Tanár. So wenige wie möglich dürfen von den Plänen meiner Leute wissen.« Noch ein Schritt. »Daher möchte ich nur Euch einweihen.« Nun stand sie so dicht vor ihm, dass Wolf den lebendigen Duft ihrer Haut und ihrer Haare deutlich wahrnehmen konnte. Etwas daran machte seinen Verstand träge und weckte dafür das schlummernde Tier in ihm.

»Geh morgen nach Sonnenuntergang durch die Pforte aus der Stadt hinaus und am Seeufer entlang Richtung Osten. Überquere die Straße und geh weiter, bis du auf den Fuß des Tafelbergs stößt. Dort werde ich dich er warten.«

»Aber morgen treffen sich …«

»Genau!«, fiel ihm Lacríma ins Wort. »Du und deine Freunde, ihr sucht Antworten, nicht wahr? Ihr wollt wissen, wer den König des Westens gewarnt hat. Deshalb musst du tun, was ich sage! Bring unbedingt das schwarze Gewand mit. Du wirst alles erfahren. Sei pünktlich und komm allein!«

»Aber …«

Lacríma legte ihm einen Finger auf die Schnauze. Ihre Hand war warm, der Druck sanft. Der betörende Geruch ihres Schweißes stieg ihm in die Nase.

»Vertrau mir, Wolf. Und pass auf dich auf.« Abrupt wandte sie sich ab, öffnete die Tür und trat hinaus. Er folgte ihr, doch als er den Eingang erreicht hatte, war sie verschwunden. Auch Falbe, den er im Verdacht gehabt hatte zu lauschen, war nirgends zu sehen.

»Na, wenigstens haben wir ein Dach über dem Kopf«, sagte Balderdachs, als er Wolf die Tür zu der anderen Kammer öffnete, die er mit Zilber teilte. »Und irgendwo in der Nähe wird ja ein Wirtshaus sein. Ich brauch endlich ein Bier. Das lassen wir uns nicht nehmen, was, Zilber?«

Dieser hatte die schwarze Kutte abgelegt. Mit verschränkten Armen stand er am Fenster und brummte etwas Unverständliches, während er hinaus starrte.

»Nach einem großen Becher Ziegenmilch wird er rasch wieder der Alte sein«, meinte Balderdachs hinter vorgehaltener Hand.

»Ach ja?«, fauchte Zilber und fuhr herum. »Fressen und Saufen, und die Welt ist in Ordnung – das sieht euch ähnlich! Ich frage mich, wieso ich mich bloß in dieses Dreckloch sperren lasse. Der Schnitter und seine Diener … pah! Unfähige Schwätzer, weiter nichts. Ich wüsste genau, was zu tun wäre, wenn ich hier das Sagen hätte!«

»Bist du jetzt fertig?«, knurrte Wolf.

»Noch nicht ganz. Sag mir, warum du ihr vertraust.«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich sonst annehmen muss, dass du mir nicht vertraust«, gab Zilber zurück. »In diesem Fall würde ich deinem Rat folgen und meiner Wege gehen. Und den Schnitter alleine jagen, auf meine eigene Art.«

Wolf biss die Zähne zusammen. Fast hätte er dem Weißpelz empfohlen, doch endlich abzuhauen, wenn ihm der Sinn danach stand. Aber er wusste, dass er Zilber brauchte. Er war ihm nicht nur ein fähiger Mitstreiter, sondern auch ein willkommener Begleiter geworden, trotz seiner manchmal gegenteiligen Ansichten. Mühsam schluckte er seine Wut hinunter.

»Ich fühle, dass ich Lacríma vertrauen kann. Morgen Abend will sie mir beweisen, dass mich dieses Gefühl nicht trügt. Wenn ich nicht zurückkomme, habe ich mich geirrt, und du kannst immer noch verschwinden.«

Zilber kehrte ihm wieder den Rücken zu. Wolf schnappte sich die schwarze Kutte und wandte sich zum Gehen, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um.

»Zilber? … Danke für all deine Hilfe. Und für dein bisheriges Vertrauen.«

In seiner und Falbes Zelle fand er einen Laib Brot, Dörrfleisch und ein paar Früchte vor. Wie versprochen musste Lacríma noch einmal hiergewesen sein. Da er keinen Hunger hatte, legte er das Essen vor der Türschwelle der anderen Zelle ab, klopfte und zog sich zurück, ohne abzuwarten, bis jemand öffnete.

Falbe kam nicht zurück. Bestimmt vergnügte er sich wieder mit einer Streunerin. Wolf schloss den Riegel und legte sich schlafen, konnte jedoch die Nacht über kaum ein Auge zutun.

Als sich im Fensterloch endlich das blasse Licht der Morgendämmerung abzeichnete, stand er auf und beschloss, an den See zu gehen.

Die Pforte in der Stadtmauer war alt und schien lange nicht benutzt worden zu sein; in den Türspalten hatten sich Spinnweben und Moos angesammelt. Zu Wolfs Überraschung schwang der Türflügel dennoch fast geräuschlos auf, als er sich mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmte.

An die Außenmauer grenzte ein flacher, mit Steinplatten belegter Vorsprung von etwa fünfundzwanzig Fuß Breite. Am äußeren Rand legte Wolf seine Sachen ab und betrat das Seeufer. Der Untergrund war schlammig und von scharfkantigem Sumpfgras bewachsen. Doch je weiter er hinauswatete, desto tiefer wurde der See, und der Boden fühlte sich sandig an. Wolf genoss das kalte Wasser, auch wenn es nicht ganz klar war. Lange schon hatte er das Bedürfnis verspürt, sich Harz und anderen Dreck aus dem Fell zu waschen. Falls sich ein paar Flöhe eingenistet hatten, dachte er, so würden sie jetzt ersaufen.

Als er wieder an Land war, schüttelte er sich ausgiebig und wartete den Sonnenaufgang ab. Der Tag schien klar und kalt zu werden. Ein leichter Wind ging über den See. Am gegenüberliegenden Ufer war eine Gruppe spärlicher Weiden zu erkennen. Sie hatten schon alle Blätter verloren, und ihre dürren herunterhängenden Zweige wogten unheimlich in der kühlen Brise. Wolf fröstelte und machte sich auf den Rückweg. Lacríma, von der er sich das Frühstück erhofft hatte, blieb den Vormittag über aus. Dafür trudelte irgendwann Falbe ein, die Hände in den Hosentaschen und sichtlich gut gelaunt. Die schwarze Farbe war fort und sein Fell wieder so hellbraun wie früher.

»Jetzt ist Schluss mit der Tarnung, oder wie sehe ich das?«, wollte Wolf wissen.

»Sieh es, wie du willst«, erwiderte Falbe. »So komme ich bei den Frauen besser an, vor allem weil ich nicht so abfärbe.« »Mag sein. Pech für dich, wenn du dir die Farbe irgendwann zurückwünschst. Noch einmal machen Balder und ich uns nicht die Mühe, dich anzumalen.«

»Braucht ihr auch nicht. Hast du von ihm und Zilber heute schon was gehört?«

Das hatte Wolf nicht. Niemand öffnete, als er die Tür zur anderen Stube mit seinen Fäusten bearbeitete – nicht einmal, als Falbe die Namen ihrer Freunde rief.

»Wo können sie sein?«, meinte der Jungstreuner ratlos.

Wolf winkte ihn zurück in ihre Stube und erzählte ihm sowohl davon, wie er mit Zilber verblieben war, als auch von Lacrímas Bitte, sie nach Sonnenuntergang zu treffen. Zunächst hörte Falbe erwartungsvoll zu, verlor jedoch zusehends das Interesse, als ihm klarwurde, dass er allein würde zurückbleiben müssen. Wolf kam zu Ende und machte eine kurze Pause.

»Du kannst sie nicht haben«, sagte er trocken.

Falbe war anzumerken, dass er sich ertappt fühlte. Er verließ die Stube und marschierte mit hängendem Schwanz die Straße hinunter.

Wolf vertrieb sich die Zeit mit Kartentricks und versuchte den ganzen Tag über, seinen knurrenden Magen zu ignorieren. Die Gesellschaft des Totenschädels fand er auf Dauer nur bedingt erträglich. Er ging mehrmals zum See und klopfte immer wieder an der Nachbarstube, doch dort rührte sich nichts. Zilber legte es wohl auf ein Entweder-oder an. Balderdachs war natürlich auf seiner Seite und würde tun, was immer er tat.

Wolf bemühte sich, seine Anspannung nicht in Wut umschlagen zu lassen. Wenn er nur Recht behielt, was Lacríma betraf!

Am frühen Abend lehnte er die Tür an, setzte sich und spähte durch den Spalt auf die Straße hinaus. Wenn er den Hals ein wenig reckte, konnte er die weißen Dächer des Palasts in der Sonne leuchten sehen. Schließlich verfärbte sich das Gebäude von Golden zu Rot und Violett. Irgendwann war es in Schatten gehüllt. Die ersten Sterne leuchteten am dämmrigen Himmel. Es dauerte nicht lang, bis es völlig dunkel geworden war.

Höchste Zeit zu gehen.

Wolf hüllte sich in das schwarze Gewand und machte sich auf den Weg. Nachdem er die Stadt durch die Pforte verlassen hatte, zog er sich die Kapuze über den Kopf. An das beschränkte Gesichtsfeld musste er sich erst gewöhnen. Noch größeres Unbehagen bereitete ihm die Tatsache, dass die Kapuze sein Gehör beeinträchtigte. Er konnte Geräusche auf einmal weniger genau orten, abgesehen davon, dass der Stoff ihren Klang auf irritierende Weise dämpfte.

Der zunehmende Mond stand als schmale Sichel am Himmel. In früheren Zeiten hatten sich die Streuner stets davor gefürchtet: Die Mondgöttin kniff prüfend ihr Auge zusammen, so hieß es damals, um zu entscheiden, wen sie als Nächstes abholen und zu ihrem Bruder Rósgurd, dem König der Toten, in die Ewigkeit schicken würde.

Wolf verbannte die alten Sagen aus seinen Gedanken und schlich an der Mauer entlang in Richtung Stadttor. Er bemühte sich, jeden Anflug von Nervosität zu unterdrücken. Allzu oft raschelte es in unmittelbarer Nähe im Schilf. Fische gluckerten leise, wenn ihre Mäuler an die Wasseroberfläche stießen. Ein paarmal hielt er an, um sich lauschend zu vergewissern, dass ihm niemand folgte.

Der Weg am See entlang war länger, als Wolf vermutet hatte. Schließlich erreichte er das Stadttor. Es war längst geschlossen. Niemand war zu sehen, als er die Straße überquerte. Der See und seine Geräusche blieben hinter ihm zurück, als er weiter an der Mauer entlang nach Norden ging. Der Teil der Stadt unterhalb des Tafelbergs hatte die Form eines Halbkreises. Ihre Stuben lagen ganz im Süden, auf halber Bogenstrecke der Stadtmauer und etwas näher beim Stadttor als der Fuß des Tafelbergs. Wolf hatte den größeren Teil der Strecke noch vor sich.

Nun drang vor allem das leise Rauschen von Blättern und Gräsern an seine Ohren. Vereinzelt zirpten noch Heuschrecken und Grillen. Der Boden war hart und trocken; Bäume und Sträucher boten ein wenig Deckung. Bald ragte vor ihm der erste felsige Ausläufer des Tafelbergs auf. Die Stadtmauer verband sich mit ihm, wuchs daraus hervor wie seine natürliche Erweiterung.

Angespannt versuchte Wolf, sich einen Überblick zu verschaffen. In der Nähe lagen ein paar mannshohe Felsbrocken herum, die den Berg herabgekollert sein mussten. Würde ihn Lacríma hier erwarten? In der Dunkelheit konnte er nicht weit sehen. Wie sollten sie sich finden?

Jetzt könnte ich Zilber und seine Nachtaugen gut gebrauchen, dachte er missmutig.

»Pst«, machte es ganz nah bei ihm.

Wolf fuhr herum, konnte jedoch niemanden erkennen.

»Hier bin ich«, flüsterte Lacríma und kicherte leise.

Dem Anschein nach kam die Stimme direkt aus dem Fels, der ihm am nächsten lag. Er hatte kaum versucht, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, da veränderte der Brocken seine Form, blähte sich auf, entfaltete sich – und im nächsten Moment stand sie vor ihm. Unter ihrem Umhang getarnt, hatte Lacríma auf ihn gewartet. Da der Wind aus der anderen Richtung kam, hatte er sie nicht einmal wittern können.

»Du bist spät dran«, flüsterte sie. »Ein Stück weiter nördlich liegen die Ruinen eines Yolánischen Tempels. Der Yolánerkult wurde vor Jahrhunderten wegen seiner blutigen Opferrituale verboten. Heute ist der Ort ein ideales Versteck. Beeil dich!« »Was sollen wir dort?«, flüsterte Wolf, während er Lacríma folgte, die rasch und lautlos den steilen Felshang entlanglief.

»Hoffentlich kommen wir nicht zu spät«, entgegnete sie statt einer Antwort. »Zieh dir die Kapuze so tief wie möglich ins Gesicht. Sorg dafür, dass deine Waffen nicht klappern. Und sag kein einziges Wort, wenn wir dort sind, was auch passieren mag! Nur wer schweigt, überlebt!«

Wolf gehorchte. Sie hatten die Tempelruinen erreicht. Überall lagen Mauerreste und geborstene Säulen auf der Erde. Stufen türmten sich aufeinander und führten ins Nichts. Teilweise hatte sich die Natur das Reich der Yolánischen Priester zurückerobert: Zähes Gras und dürre Sträucher wucherten aus Rissen und Mauerfugen hervor. Zielstrebig schritt Lacríma durch die Ruinen und hielt schließlich auf ein Gebüsch zu, das ein wenig abseits lag. Sie wartete, bis Wolf herangekommen war, und schob die Zweige zur Seite. Dahinter wurde eine Treppe sichtbar, die in kohlschwarze Tiefe führte.

Bevor Lacríma hinabstieg, wandte sie sich zu ihm um und legte mahnend beide Zeigefinger auf die Lippen. Dann zog sie ihre Kapuze tief ins Gesicht und machte sich daran, die Stufen hinabzusteigen. Er folgte ihr zögerlich. Sein Nackenfell stellte sich auf. Am Fuße der Treppe befand sich ein Durchgang, der irgendwann zugemauert worden sein musste.

Lacríma legte die rechte Hand auf einen Stein in der Mauer und drückte mit der Linken gegen die Wand. Es klickte leise, und die vermeintliche Mauer schwang mit leisem Rumpeln nach innen. Wortlos bedeutete sie ihm einzutreten und schloss den Durchgang hinter ihm.

Sie standen in einem gemauerten Korridor, den düstere Fackeln alle zehn Schritt spärlich erleuchteten. Die Luft roch warm und verbraucht. Viele Düfte hingen wie unsichtbare Fäden kreuz und quer im Raum, als wären vor kurzem viele Leute hier hindurchgegangen. Sofern Wolfs Orientierungssinn ihn nicht im Stich ließ, führte der Stollen schnurgerade nach Westen, in den Tafelberg hinein. Lacríma ging mit kaum hörbaren, aber eiligen Schritten voran. Er folgte ihr in geringem Abstand. Schon bald knickte der Korridor ab und endete vor einem weiteren Durchgang, hinter dem eine geräumige Halle lag. Zwei große Gestalten, ebenso gekleidet wie die Ankömmlinge, bewachten sie. Lacríma machte ein hastiges Handzeichen. Die Wachen nickten und ließen sie beide passieren.

Die Halle war nur wenig heller als der Korridor, obwohl hier mindestens hundert Fackeln brannten. Die steinerne Decke war niedrig und stellenweise feucht, so dass sich Moos und Schimmel gebildet hatten. Wolf hatte Mühe, die stickige Luft zu atmen, doch er vergaß sie schnell, als er die merkwürdige Gesellschaft sah, die sich hier versammelt hatte.

Schätzungsweise fünf Dutzend in schwarze Gewänder gekleidete Gestalten standen vor einer natürlichen Erhebung, die über drei in den Stein gehauene Treppenstufen zu erreichen war.

Darauf stand, der Menge zugewandt, ein Mann, der als Einziger eine weiße Kutte trug.

»… aber das macht nichts«, hörte Wolf ihn sagen, während er und Lacríma näherkamen. »Ich habe alle Informationen, die ihr braucht. Unsere Pläne ändern sich nur geringfügig.«

Sie reihten sich in die weiter hinten Stehenden ein und warteten. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Lacríma ihm den Kopf zuwandte und unmerklich nickte.

»Wie ich sehe, sind wir mittlerweile vollzählig«, sagte der Mann in der weißen Kutte. Er sprach langsam und halblaut.

Zumindest für Streunerohren schien in seiner Stimme ständig eine sanfte Drohung mitzuschwingen. »Dann gehen wir jetzt zur Tagesordnung über. Wie ich schon sagte, der Schnitter kann heute leider nicht persönlich zu euch sprechen, obwohl er dies geplant hatte. Er zieht es vor, sich vorerst nicht zu offenbaren.« Er pausierte einen Augenblick. »Tánatos′ Leute haben sich seiner bislang nicht würdig erwiesen. Hauraro war eine Sache; dass ihnen in Tanár dieses unverzeihliche Missgeschick unterlaufen konnte, das ist etwas anderes.«

Pause.

»Und alles, was nach Tanár geschehen ist, spricht höchstens dafür, dass Tánatos ein beklagenswerter Versager und seine Leute einfältige Nichtsnutze sind.«

Mit gesträubtem Nackenfell verfolgte Wolf die Rede. Er fühlte dieselbe Beklemmung wie damals in Tanár, als er das heimliche Gespräch zwischen dem Königsmörder und dem anderen Diener des Schnitters belauscht hatte.

»Tánatos ist tot!«, bellte plötzlich eine heisere Männerstimme aus den vorderen Reihen. Wolf schloss aus seiner harschen Sprechweise, dass es sich um einen Streuner handelte.

»Wir haben ihn vor fast fünf Tagen in der Nähe eines kleinen Dorfes gefunden. Sein Rücken war zerfetzt, sein Kopf Matsch, und seine ganze Ausrüstung war fort.«

»Wer hat ihn getötet?«, wollte der Weiße wissen.

»Wolf von Tanár kann es nicht gewesen sein.«

Er zuckte unter seiner Verkleidung zusammen, als plötzlich sein Name genannt wurde.

»Er ist ein Schwächling. Aber er ist mittlerweile nicht mehr allein. Drei andere Streuner begleiten ihn. Wir haben sie bis Téan Ráwhi verfolgt und dabei Tariuk verloren, unseren besten Bogenschützen, den einer von ihnen mit einem unserer eigenen Speere regelrecht erschossen hat. Er muss eine wahre Bestie sein!«

Der in Weiß Gewandete schüttelte langsam den Kopf.

»Vor Téan Ráwhi haben uns die Wachen ziemlich aufgerieben, so dass wir kostbare Zeit verloren haben und Wolf von Tanár nicht mehr einholen konnten.« Dem Klang seiner Stimme war anzumerken, dass der Streuner sich für die missglückte Verfolgung schämte.

»Sie waren zu Fuß unterwegs, nicht?«, sagte der Weiße sanft. »Und ihr hattet Pferde, oder bringe ich da etwas durcheinander?«

»Wie auch immer.« Der Streuner hatte hörbar Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. »Jedenfalls können nur sie Tánatos umgebracht haben. Irgendetwas hat er übersehen. Er wäre nicht nachts zu ihnen eingedrungen, wenn er nicht völlig sicher gewesen wäre, mit ihnen fertig zu werden.«

Der Weiße schwieg und wandte den Kopf, als schweifte sein Blick unter der Kapuze über die Reihen der Anwesenden.

»Zerbrecht euch nicht den Kopf über Wolf von Tanár«, sagte er schließlich. »Genau so wenig wie über seine dubiosen Freunde.

Der Schnitter hat seine eigenen Pläne mit ihnen, und diesmal werden sie sich ihm nicht entgegenstellen können.«

»Was interessiert uns jetzt noch Wolf von Tanár!«, blaffte der Streuner zurück. »Ihr habt uns einen Auftrag erteilt. Bis heute wurden wir nicht vollends ausbezahlt. Zwei unserer besten Leute sind tot. Auf uns kann der Schnitter nicht mehr zählen. Dieser Auftrag ist beendet, wir sind hier fertig!

Kapiert?«

Wolf sah, dass einige der Vermummten zustimmend nickten.

Der Weiße tat ein paar Schritte zur Seite. Dann hob er auf einmal beide Arme – und schlug die Kapuze zurück. Ein Raunen ging durch die Menge. Unter dem Gewand steckte ein Mensch mittleren Alters. Sein Kopf war vollkommen kahl. Nicht einmal Wimpern schien er zu haben. Seine runde Glatze glänzte im Licht der Fackeln. Er setzte ein schütteres Lächeln auf.

»Wisst ihr, wie laut Anweisung des Schnitters mit Verrätern zu verfahren ist?«, sagte er leise und blickte auffordernd in die Reihen der Vermummten. »Zufällig ist heute Abend einer unter uns.«

Wolf spannte alle Muskeln seines Körpers.

»Darf ich vorstellen?« Der Glatzköpfige gab einen knappen Wink. Aus dem hinteren Teil der Bühne, der im Schatten lag, zerrten zwei Vermummte einen Mann nach vorn, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Er schien nicht fähig, selbst zu gehen, und fiel am vorderen Rand, wo die anderen ihn losließen, auf die Knie. An seinen Fersen klebte getrocknetes Blut. Abgesehen von einem Lendentuch und einer schwarzen Maske, die ihm über den Kopf gestülpt worden war, trug der Gefesselte keine Kleider am Leib.

»Der Schnitter hatte den perfekten Plan«, sagte der Mann in der weißen Kutte. »Für Tánatos und seine Leute wäre die Mission im Palast des Westkönigs ein Kinderspiel gewesen. Doch vor wenigen Tagen hat der engste Vertraute des Schnitters seinen Meister hintergangen. Er hat ihn verraten und mit dem Feind kollaboriert. Dafür wird er jetzt bezahlen.« Er riss dem Gefesselten die Maske herunter.

Ein geknebelter Mann kam zum Vorschein, dessen spitzer Bart unbestreitbar an eine Ziege erinnerte. Wolf unterdrückte ein entsetztes Keuchen. Der Verräter war niemand anderes als General Várun, der Berater des Königs der Mitte!

»Seinetwegen«, fuhr der Weiße voller Verachtung fort, »wurden unsere gesamten bisherigen Bemühungen zunichtegemacht.« Er zog ein langes Messer aus seinem Gewand und trat hinter General Várun, dem die nackte Panik ins Gesicht geschrieben stand.

»Der Schnitter verzeiht seinen Getreuen so leicht keinen Fehler. Wer es wagt, ihn zu verraten, den pflegt er hart zu bestrafen. Heute obliegt es mir, eine solche Strafe zu vollstrecken.«

Der Weißgewandete hob die Klinge, riss Váruns Kopf an den Haaren nach hinten – und schlitzte ihm mit einem einzigen halbrunden Schnitt die Kehle auf. Blut quoll sprudelnd aus der Wunde. Das Gesicht des Generals war in grotesker Überraschung verzerrt, während das Gewand des Weißen über und über mit seinem Blut besudelt wurde. Schließlich stieß er ihn von sich. Der leblose Körper kippte zur Seite und blieb auf den Steinstufen liegen.

Schockiert von allem, was er gesehen hatte, spürte Wolf kaum, dass Lacríma unauffällig seinen Unterarm berührte.

»Wer den Schnitter jetzt im Stich lässt«, sagte der Glatzköpfige seelenruhig, während er sich die blutbefleckten Hände an seiner Kutte abwischte, »dem wird es genauso ergehen. Noch Fragen?« Lässig warf er das Messer einem der beiden zu, die General Várun auf die Bühne geschleift hatten.

Eine Weile herrschte Stille. Endlich schnarrte der vermummte Streuner drohend: »Ihr wollt uns erpressen?«

»Nennen wir es – überzeugen«, sagte der Weiße und lächelte liebenswürdig.

»Dann nennt uns endlich die Anweisungen des Schnitters. Gibt es überhaupt welche?«

»Selbstverständlich. Wie ihr alle wisst, findet morgen Mittag die große Feier zu Ehren des Königs statt. Das ganze Volk ist dazu eingeladen. Der König selbst wird auf einer der höchsten Zinnen erscheinen und sich bejubeln lassen – unerreichbar natürlich für unsere Bogenschützen und Speerwerfer. Alles, was der Schnitter will, ist, dass ihr euch unter die Besucher mischt und zuseht.«

»Und dann?«, fragte der Streuner nach einer Pause.

Der Glatzköpfige verschränkte die Arme auf dem Rücken und sprach in einstudiertem, fast leierndem Tonfall weiter.

»Einige Tage später wird sich der Westen zum Krieg gegen den Süden rüsten. Alle Untergebenen des Schnitters haben sich zum Dienst in Téan Hus Heer zu verpflichten, sobald der offizielle Aufruf erfolgt. Weitere Anweisungen sind abzuwarten. Ich bestimme jetzt noch einen neuen Kontaktmann unter den Söldnern: Ab jetzt ist dies Patwan. Der strikte Befehl für Patwans Leute lautet, die Scharte, die Tánatos durch sein Versagen geschlagen hat, wieder auszuwetzen – indem sie den Anweisungen des Schnitters bedingungslos Folge leisten. Wolf von Tanár und seine Begleiter sind in Ruhe zu lassen, bis der Schnitter Gegenteiliges befiehlt.« Der Glatzkopf pausierte und zog sich langsam die Kapuze wieder über den Kopf. »Wer sich nicht an diese Anweisungen hält oder zu fliehen versucht, wird ausgemerzt wie dieser Verräter.« Er stieß mit dem Fuß gegen den Schädel General Váruns. Um dessen leblosen Körper herum hatte sich auf den Stufen eine Blutlache gebildet.

»Das war alles«, fuhr der Weiß gewandete fort. »Die hinteren drei Reihen verlassen das Gewölbe auf dem gewohnten Weg, alle anderen folgen mir zum Nebenausgang. Es lebe der Schnitter.« »Es lebe der Schnitter«, wiederholten die Anwesenden im Chor, und Wolf kam nicht umhin, die Formel leise mitzumurmeln.

Lacríma und er waren unter den Ersten, die die Treppe hinaufstiegen und wieder frische Nachtluft atmeten. Wolf fiel auf, dass die wenigsten der anderen Vermummten zur Stadt zurückgingen. Stattdessen zerstreuten sie sich in alle Richtungen. Lacríma führte ihn zum Ostrand der Ruinen und bog dort nach Süden ab. Längst waren die anderen Teilnehmer des geheimen Treffens in der Dunkelheit verschwunden, als sie die Straße erreichten. Lacríma überquerte das Pflaster und vergewisserte sich, dass Wolf ihr weiter folgte.

Anscheinend wollte sie zum See hinunter.

Ihm brannten tausend Fragen auf der Zunge. Vor allem drängte es ihn zu erfahren, in welcher Verbindung Lacríma zu den Leuten des Schnitters stand. Außerdem musste er in die Stadt zurückkehren und sich bei Zilber melden, damit dieser nicht auf dumme Gedanken kam. Doch am Seeufer angekommen, wandten sie sich nach links, weg von der Stadt, ohne sich darauf verständigen zu müssen.

Das Wasser war tiefschwarz. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche, so dass das Licht der Mondsichel gebrochen zurückgeworfen wurde. Lacríma blieb stehen und schlug ihre Kapuze zurück.

»Es wird kälter«, sagte sie leise.

Er war sich nicht sicher, was genau sie meinte.

»Spürst du sie auch? Die Kälte?« Von der Seite warf sie ihm einen eindringlichen Blick zu. In ihren Augen spiegelte sich die Mondsichel, und ein leichter Schauer lief Wolf über das Nackenfell. Sie trat dichter an ihn heran. Er hörte den leisen Strom ihres Atems, betrachtete die schlanke Kontur ihres Körpers unter der Kutte, und eine wohlige Wärme durchfuhr ihn. »Nein«, murmelte er. »Mein Fell hält sie ab.«

Das Gewand hatte zu jucken begonnen. Rascher, als er es eigentlich beabsichtigt hatte, öffnete er die Kutte und ließ sie hinter sich zu Boden fallen.

»Dein schwarzes Fell.« Lacríma schaute ihm weiterhin fest in die Augen. Ihre Miene war ernst und ruhig, doch ihr Atem beschleunigte sich. Er hörte es, und er konnte es an einer Strähne ihres Haars sehen, die sich in ihrem Mundwinkel verfangen hatte und von der Luftströmung hin und her getragen wurde. Sehr langsam zog sie den Ausschnitt der beiden übereinandergeschlagenen Vorderteile ihrer Kutte bis zum Nabel hinunter. Darunter schimmerte nichts als ihre nackte Haut. Wolfs Gedanken gerieten durcheinander, wurden überspült von einer Welle neugieriger Erregung, als Lacríma die Kordel löste, der Wind ihre Kutte öffnete und ihm den Blick auf ihren seidig glatten Körper freigab.

»Ich habe kein Fell«, flüsterte sie, während das Gewand von ihr abfiel.

»Das stimmt nicht ganz«, murmelte er geistlos, während er ihre Konturen bestaunte und ihm ihr betörender Duft in die Nase drang – nicht von Nelken oder Rosenharz überlagert, sondern ungefärbt und von verheißungsvoller Köstlichkeit.

Lacríma griff nach seiner Hand und legte sie auf ihre Brust. So seidig, wie ihre Haut aussah, fühlte sie sich auch an.

Darunter pulste lebendige Wärme. Lacríma schloss die Augen, öffnete die Lippen halb und atmete tief ein.

Er wollte seine Hand zurückziehen, doch ihre Finger umgriffen die seinen, liebkosten seinen pelzigen Handrücken. Ihre andere Hand wanderte gegen den Strich seinen Arm hinauf, was sich abscheulich und wunderbar zugleich anfühlte und die Luft zum Knistern brachte. Nun wieder der Wuchsrichtung seines Fells folgend, tasteten sich ihre Hände seinen Rumpf entlang, umfassten seine Flanken und wanderten weiter hinab, bis ihre Finger seine Gürtelschnalle fanden.

»Lass das«, wollte er sie anherrschen und brachte nur ein müdes Krächzen zustande – zu zärtlich, zu verlockend war das Spiel ihrer Hände. Schon hatte sich darunter sein Gürtel leise klirrend gelöst, und während ihre Finger mit dem zu tanzen begannen, was darunter hervorsprang, wurde Wolf klar, dass Falbe Recht hatte mit den Menschenfrauen. Keuchend vor Gier zog er sich den Schwertgurt über den Kopf, so dass Medimóntier klappernd zu Boden fiel, und packte Lacríma bei den Schultern, um sie endlich zu verschlingen.

»Warte«, rief sie leise auflachend, drückte ihm die ausgestreckten Hände gegen die Brust und griff fest in sein Fell, um ihn langsam zu sich heranzuziehen. Als Nächstes spürte er, wie ihre Lippen seine Nase umschlossen. Er grollte irritiert, doch Lacríma lächelte, kitzelte ihn mit der Zunge an den Lefzen, angelte sich einen Tropfen seines zähen Speichels und schluckte ihn mit offenstehendem Mund. Sie warf den Kopf in den Nacken und gab einen heulenden Laut von sich. Wolf erkannte seine Chance, stieß zu und ergab sich seiner Gier.

»Wolf?«

Sie hatten den See fast umrundet. Er war mit leerem Kopf hinter Lacríma her getrottet, den Blick fest auf ihre Gestalt geheftet, die nun wieder unter der Kutte steckte. Wozu viel reden.

»Wolf?« Sie wandte sich zu ihm um. »Vertraust du mir?«

Er nickte.

»Und … deine Freunde?«

Er hoffte es. Vielleicht würden Balderdachs und Zilber es tun – nach all dem, was an diesem Abend geschehen war. Er zuckte die Schultern und schwieg.

»Auch wir dürfen morgen das Fest nicht verpassen. Seid pünktlich, du und deine Freunde. Wir müssen herausfinden, was der Schnitter vorhat, und es verhindern!«

Wieder nickte Wolf.

»Kannst du dich auf sie verlassen?«, flüsterte sie eindringlich. »Wissen sie, wie wichtig deine Mission ist?«

»Ja«, antwortete er. Seine Gedanken waren träge. Warum wollte Lacríma ausgerechnet jetzt etwas über seine Begleiter wissen? Reichte es nicht, wenn es im Augenblick nur sie beide gab und sonst niemanden?

»Du denkst an General Várun, nicht wahr?«

»Nein«, sagte er verwirrt. »Wie kommst du darauf? Und woher weißt du …«

»Ich habe heimlich miterlebt, wie er im Palast vorgesprochen hat«, unterbrach sie ihn. »Er hat seinem hiesigen Amtskollegen wirklich verraten, was der Schnitter vorhatte. Dafür haben wir es jetzt umso schwerer. Wir müssen praktisch von vorn anfangen. Der Schnitter wird noch vorsichtiger sein, nachdem ihn sein engster Vertrauter im Stich gelassen hat …«

Et was raschelte im Schilf.

»Wir müssen uns trennen«, sagte Lacríma hastig.

»Aber …«

»Bis morgen. Auf der höchsten Besucherterrasse. Ich werde euch helfen.«

»Ich liebe dich«, hörte er sich sagen.

»Es lebe …« Lacríma brach ab und errötete so heftig, dass er es selbst im schwachen Mondlicht sehen konnte. Dann wandte sie sich um und lief mit wehender Kutte in Richtung Stadtmauer davon.

Erst nachdem sie längst verschwunden war, schlug er denselben Weg ein.

Fantasy Collection III

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