Читать книгу Fantasy Collection III - Karl-Heinz Witzko - Страница 18

Оглавление

Lacríma von Táegaran

Je weiter sie nach Westen vorstießen, desto deutlicher war zu spüren, dass dieses Land nicht mehr zum Herrschaftsgebiet König Durbans gehörte. Über jedem noch so kleinen Dorf, ja selbst über einzelnen Häusern und Höfen, prangte das Sonnenwappen des Westkönigs. Seine Untertanen sprachen einen Dialekt, den Wolf noch nie zuvor gehört hatte. Auch hatte sich die Bevölkerung weiter verändert: Hier gab es kaum noch Streuner und überhaupt keine Scherenschrecken. Dafür gesellte sich zu den Menschen ein Volk, dessen Angehörige stets fein gekleidet und ihnen äußerlich sehr ähnlich waren; lediglich die Gesichter waren schmaler, ihre Ohren liefen spitz zu, und die Augen und das wallende Haupthaar leuchteten in kräftigen, teils absonderlichen Farben wie gleißend blond oder sogar silberblau. Wolf fiel auf, dass es ihm auch bei diesem Volk nicht leicht fiel, auf Anhieb Männer und Frauen zu unterscheiden.

»Elben«, murmelte Balderdachs, als einmal ein gutes Dutzend dieser Leute in edlen, blau-rot und weiß-grün gemusterten Gewändern melodiös plaudernd an ihnen vorüberzogen. »Früher soll es in Orilac viele von ihnen gegeben haben, aber seitdem der Magierrat von Lesh-Tanár die Stadt zu seinem Sitz erklärt hat, sieht man sie dort kaum noch.«

Mit den Bewohnern änderte sich auch das Land. Das Gras schien saftiger und grüner zu sein als im Osten, obwohl es auch hier auf den Winter zuging und trotz strahlender Sonne eine merkliche Kühle herrschte. Bäume und Sträucher standen noch voll im Laub, an manchen von ihnen hingen die letzten Früchte und Nüsse. Die Straße, die streckenweise grasbewachsen, oft genug aber nur ein breiter Streifen schwarzen Morastes gewesen war, ging am übernächsten Vormittag in rohes Steinpflaster über, das mit jeder Meile glatter, feiner und heller wurde.

Stunden später war die Straße so breit, dass vier Kutschen darauf nebeneinander herfahren konnten, außerdem wurde sie auf beiden Seiten durch eine kniehohe, regelmäßig durchbrochene Mauer begrenzt.

Gegen Abend erreichten Wolf und seine Begleiter einen See, dessen Ufer sich zur Linken an die Straße schmiegte. Kurz darauf sahen sie die Stadt. Téan Hu lag zu Füßen eines niedrigen Tafelbergs, auf dem der königliche Palast weiß und prächtig im Abendlicht erstrahlte. Südlich davon säumte ein Ausläufer des Sees die Stadt der Untergehenden Sonne.

»Endlich«, murmelte Wolf, dessen Füße schmerzten. Sie waren stehen geblieben und betrachteten die Silhouette der Gemäuer. Teilweise lag die Stadt bereits im Schatten, wodurch der Palast noch besser zur Geltung kam.

»Ich glaube, dass wir nicht zusammen durch das Tor gehen sollten«, meinte Falbe schließlich.

»Hier kennt uns keiner«, widersprach Balderdachs, »schon gar nicht mit unserer Tarnung.«

»Man wird Zilber erkennen«, beharrte Falbe.

»Angst, Kleiner?«, knurrte dieser.

Wolf musterte ihn. Einer plötzlichen Eingebung folgend, zog er die schwarze Kutte hervor.

»Zieh das über«, befahl er. »Damit fällst du weniger auf.«

»Warum sollte ich?«

»Weil ich es sage«, gab Wolf schroff zurück.

»Hauptsache, du bist immer derjenige, der bestimmt, wo′s langgeht …« Mit sichtlichem Widerwillen – vielleicht nur deshalb, weil Balderdachs ihm auffordernd den Ellbogen in die Rippen stieß – schnappte sich Zilber das Gewand und zog es sich über.

»Wir gehen zusammen«, kommandierte Wolf, »aber in lockerem Abstand. Falls die Wachen Fragen stellen sollten, erzählt ihnen irgendeine Geschichte. Und verhaltet euch unauffällig. Sagt nur das Nötigste, und lasst euch nicht provozieren, klar?«

»Schon gut, schon gut«, sagte Balderdachs und klopfte sich auf den Gürtel, wo das bewährte Beil aus dem Heulenden Elend steckte. »Wie gesagt, uns kennt hier sowieso niemand. Wird schon schiefgehen.«

Das Stadttor war offen. Menschen, Elben und Streuner kamen und gingen, flanierten am Seeufer entlang oder transportierten auf der Straße Vieh oder Waren. Gedränge gab es nicht, da zu dieser Tageszeit wenig Verkehr herrschte. Die Wachhabenden, ein gutes Dutzend schwerbewaffneter Streunersoldaten in Lederrüstungen und Kettenhemden, standen beidseitig des Torbogens herum und musterten gelangweilt die Passanten.

Manche von ihnen würfelten oder steckten die Köpfe zusammen, um in unregelmäßigen Abständen in grölendes Gelächter auszubrechen. Ab und zu bemühten sie sich auch, einen Schwarm Tauben, die sich in der Nähe niedergelassen hatten, mit Gebrüll und ausladenden Gesten zu verscheuchen.

Vielleicht ist es doch gut, dass ich Tischler geworden bin , dachte Wolf mitleidig.

Sie schlenderten durch das Tor und an den Wachen vorbei. Auf Wolf folgte Zilber. Kaum hatte er einen Fuß ins Innere des Torbogens gesetzt, erhob einer der Wachleute barsch die Stimme.

»He, du da!«

Wolf wandte mit gespieltem Desinteresse den Kopf und sah, dass Zilber anhielt.

»Was ist?«, drang seine Stimme dumpf unter der Kapuze hervor. »Das würden wir gern von dir wissen, Fremder!«, herrschte ihn die Wache an und packte ihn am Unterarm. »Zeig uns gefälligst dein Gesicht, oder hast du was zu verbergen?«

Zilber stand einen Augenblick da, ohne sich zu rühren. Dann riss er sich die Kapuze so ruckartig vom Kopf, dass der Wächter einen Schritt zurück machte und die Hand an den Griff seines Schwertes legte.

»Hast du ein Glück, dass ich kein Aussätziger bin«, schnappte Zilber mit gefletschten Zähnen. »Sonst hättest du dich nämlich jetzt bei mir angesteckt. Kann ich weitergehen, bei der Mondgöttin?«

Der Wächter, dem mittlerweile zwei Kameraden zur Seite standen, versuchte erfolglos zu verbergen, dass er eingeschüchtert war. Den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, heftete er den Blick auf Zilbers Kinn.

»Nicht ehe du uns gesagt hast, was du in Téan Hu willst«, verlangte er unsicher.

»Die Stadt ansehen, viel Bier trinken und den König des Westens vor seinem Mörder warnen«, entgegnete Zilber prompt.

Wolf blieb wie angewurzelt stehen. Zu seiner Verblüffung brachen die drei Wachleute in bellendes Gelächter aus.

»Machst du Witze?«, sagte ein anderer von ihnen. »Der König ist längst gewarnt, und es wurden entsprechende Vorkehrungen getroffen. Du bist zu spät, Fremder. Pass bloß selber auf, hier in Téan Hu sind nämlich Pelzjäger unterwegs, die es auf Streuner abgesehen haben. Je heller dein Fell, desto begehrter ist es bei ihnen, von daher ist das mit dem Mantel schon mal keine schlechte Idee. Jetzt mach, dass du weiterkommst, los!« Die Wachleute wandten sich ab und scherten sich nicht mehr um Zilber.

»Ist das nicht großartig?«, murmelte dieser, nachdem er Wolf eingeholt hatte.

»Mir macht es eher Sorgen. Wer kann dahinterstecken?«

»Ist doch egal.« Zilbers Tonfall wurde grimmig. »Sollte ich das Glück haben, einem zu begegnen, wird er sein blaues Wunder erleben. Ich kann′s kaum erwarten!«

Wolf schaute ihn entgeistert an. »Wovon redest du?«

»Na, von den Pelzjägern.«

»Was kümmert mich dieses dämliche Geschwätz!«, blaffte Wolf.

»Es geht um den Westkönig, klar? Irgendjemand hat ihn offenbar gewarnt, aber das kann auch ein Trick sein!«

»Schrei am besten noch lauter herum.« Zilber hatte die Arme verschränkt und tappte mit einem Fuß abwartend auf und ab.

»Ich jedenfalls bin nicht taub.«

Balderdachs und Falbe stießen zu ihnen.

»Wir auch nicht«, sagte Ersterer grinsend. »Worum geht′s?«

»Wir können wieder abreisen«, entgegnete Wolf kurz, lenkte seine Schritte jedoch halbherzig in Richtung Stadtmitte.

»Offenbar werden wir hier nicht mehr gebraucht. Wir hätten früher kommen müssen.« Er erzählte ihnen in knappen Worten,

was die Wachen gesagt hatten.

»Mach dir nichts draus«, meinte Balderdachs und klopfte ihm auf die Schulter. »Jetzt lass uns erst mal irgendwo einkehren und unseren Durst löschen. Danach finden wir bestimmt heraus, was es mit dieser seltsamen Geschichte auf sich hat.«

Sie hatten die nächste Straßenecke erreicht. Die niedrigen Steinhäuser in diesem Viertel waren heruntergekommen und schienen kaum bewohnt zu sein. Manche hatten keine Fenster und Türen mehr; an ihrer Stelle gähnten schwarze Löcher in den Mauern. Aus anderen strömte betäubender Gestank hervor. Die groben Schindeln waren an vielen Stellen verfault oder weggebrochen.

»Aber schon morgen soll dieses Treffen stattfinden«, sagte Wolf und blieb stehen. »Der Schnitter wird bestimmt …«

»Er wird es absagen«, unterbrach ihn Falbe. »Ich meine, einer der beiden, die du belauscht hast, ist tot. Und hier in Téan Hu hat uns jemand die Arbeit abgenommen. Was hätte es jetzt noch für einen Sinn, sich …«

»Was verstehst du schon davon!«, schnitt ihm Wolf ärgerlich das Wort ab. »Glaubst du im Ernst, ich gebe mich mit dem Gerede der Torwächter zufrieden und reise wieder ab? Was meinst du, Zilber?«

Dieser schien angestrengt nach zu denken und schwieg. Seine Ohren zuckten.

»Wir werden beobachtet«, sagte er schließlich ruhig.

Wolf biss die Zähne zusammen und versuchte vergeblich, die Anwesenheit eines Fremden zu erschnüffeln. Zu sehen war niemand.

»Von wo aus?«

»Keine Ahnung. Irgendwo hinter mir.«

»Da!«, rief Falbe und deutete schräg nach oben. »Auf dem Dach!«

Wolf wollte etwas erwidern und den Jungstreuner für seinen lautstarken Hinweis tadeln, doch er kam nicht dazu. Eine dunkle Gestalt sprang hinter einem First hervor, blickte für Sekundenbruchteile zu ihnen hinunter und ergriff dann die Flucht.

»Diese Schwarzkutten werden langsam lästig«, knurrte Wolf.

»Ihm nach, worauf warten wir!«

Mit einem Salto sprang der Vermummte auf das nächste Dach und schlug einen Haken in Richtung Stadtmitte. Am Boden war ihm Zilber auf den Fersen, dicht gefolgt von den drei anderen. Sie rannten die Straße entlang, drückten sich zwischen zwei engstehenden Häusern hindurch und überrannten in der nächsten Seitengasse fast einen alten Mann mit einem Korb Äpfel im Arm, der nur mit Mühe das Gleichgewicht halten konnte. Schimpfend stapfte er weiter. Sie sahen sich um, doch die Gestalt schien den Augenblick der Verwirrung genutzt zu haben, um zu verschwinden. Die Gasse war menschenleer.

Zilber blieb stehen. Seine Nase verriet, dass er versuchte, Witterung aufzunehmen, seine Ohren waren steil aufgerichtet.

Schließlich sah er seine Gefährten an und deutete, noch immer schweigend, mit den Armen in zwei entgegengesetzte Richtungen. Er nickte Balderdachs zu, der ihm nach links folgte.

»Komm«, befahl Wolf und packte Falbe an der Schulter. Sie wandten sich nach rechts. Kaum zwanzig Schritt von den anderen entfernt hörte Wolf irgendwo über sich ein Kratzen wie von plötzlich Anlauf nehmenden Füßen. Er hob den Kopf und entdeckte den Vermummten auf dem Dach. Der Apfelmann, der mittlerweile aufgeholt hatte, musterte die Szene argwöhnisch. »Eine militärische Übung!«, bellte ihm Wolf zur Erklärung entgegen und hechtete hinter Falbe her, der bereits weiterrannte.

Der Flüchtende war auf das nächste Dach gesprungen und rannte leichtfüßig darüber hinweg. Auf einmal aber gaben die morschen Schindeln nach. Mit einem unterdrückten Schrei brach er ein und stürzte ins Innere des Hauses – wohl eine ehemalige Gerberei, denn aus der Außenmauer ragten lange, spitze Eisenstäbe hervor, an denen man früher Tierhäute getrocknet hatte.

»Jetzt haben wir ihn!«, rief Falbe triumphierend. Er überhörte die Warnung, die ihm Wolf hinterherrief, und eilte ohne Rücksicht auf Verluste auf das Haus zu. Die Tür flog auf, die Kante traf ihn mit einem Knall an der Schnauze. Jaulend vor Schmerz fiel er rücklings zu Boden.

Wolf zog sein Schwert. Für die Dauer eines Wimpernschlags sah er zwei wache Augen unter der Kapuze aufblitzen, als sein Gegner an ihm vorbeistürmte. Er vollführte einen weiteren Salto, um Wolf auszuweichen, übersah den Apfelmann hinter ihm und stieß ihn mit den Füßen vor die Brust. Der Korb fiel zu Boden, das Obst kullerte über die Gasse, und der Alte wurde an die stachelbewehrte Mauer geschleudert. Schlaff blieb sein Körper daran hängen.

Der Schwarzgewandete hielt sich nicht mit ihm auf, sondern rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. Von dort kamen gerade Balderdachs und Zilber angehechtet. Der Vermummte bremste abrupt ab und kletterte geschmeidig wie eine Katze über die aus der Mauer ragenden Stangen auf das Dach. Von dort spannte sich ein Drahtseil, das vielleicht einmal als Wäscheleine gedient hatte, über die Gasse hinweg zu einem beträchtlich höheren Dachfirst. Mit geübter Sicherheit schickte der Vermummte sich an, auf die andere Seite hinüber zu balancieren.

Wolf war klar, dass er ihm dorthin nicht folgen konnte. Gleich wäre sein Gegner außer Reichweite. Doch Medimóntier brachte ihn auf die rettende Idee. Er holte weit aus und hieb die Klinge mit aller Kraft gegen die Wäscheleine. Es klang wie ein Peitschenknall, als das Drahtseil riss. Die losen Enden zischten durch die Luft, und Wolf zog den Kopf ein. Der Vermummte stürzte ab und landete, ohne einen Laut von sich zu geben, mit dem Rücken zuerst auf dem Kopfsteinpflaster.

Er rollte sich ein, schnellte in die Höhe und stand blitzschnell wieder auf den Füßen. Wolf glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Dieser Gegner schien unverwundbar zu sein! Doch er saß in der Falle. Zilber wirbelte heran, packte die schwarze Gestalt mit einer Hand an der Kehle und drückte sie gegen die glatte Wand des Hauses, das der Gerberei schräg gegenüberlag.

»Haben wir dich endlich, Freundchen!«

Der Kuttenträger verlor den Boden unter den Füßen, als er an der Wand in die Höhe gestemmt wurde. Ächzend und röchelnd versuchte er, nach Zilber zu treten, packte dessen muskulösen Arm und rüttelte daran, schlug auf ihn ein. Davon unbeeindruckt, reckte Zilber witternd die Nase. Er schien verwirrt. Auch Wolf wunderte sich. Der Vermummte roch eindeutig nach Mensch – aber nicht nach Mann.

Zilber setzte ein boshaftes Grinsen auf. »Wollen doch mal sehen, wer sich diesmal darunter verbirgt.« Mit der freien Hand riss er die Kapuze herunter, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass dabei der Kopf des Gefangenen an die Mauer schlug.

Wolf erstarrte. Er hatte es geahnt.

»Eine Frau!«

Unter der schwarzen Verkleidung steckte ein Menschenmädchen von höchstens siebzehn Jahren. Langes tiefschwarzes Haar umrahmte ihr feines Gesicht, dessen Züge ohne Zilbers zupackenden Griff äußerst hübsch sein mussten. Ihre Augen schienen ebenfalls von schwarzer oder nachtblauer Farbe zu sein. Wolf starrte sie sekundenlang an, verwundert und fasziniert zugleich angesichts der Tatsache, dass dieses wunderbare Geschöpf nicht nur über eine außergewöhnliche Körperbeherrschung verfügte, sondern auch vier kampferprobte Streuner dermaßen hatte zum Narren halten können.

Wunderbar? Geschöpf? , dachte Wolf verwirrt. Was ist mit mir los?

Das Röcheln der Gefangenen wurde lauter und verzweifelter. Ihre Augen schienen in Todesangst hervorzutreten, und ihr Gesicht war rot angelaufen.

»Steht nicht rum wie die Ölgötzen«, blaffte Zilber mit seiner rauen Jägerstimme. »Bindet sie fest!«

»Womit denn?«, fragte Wolf ratlos, während er sein Schwert umständlich zurück in die Scheide steckte.

»Der Draht«, rief Balderdachs. In Windeseile hatte er das vom Dach herabhängende Ende der ehemaligen Wäscheleine zu einer Schlinge gebogen, die er dem Mädchen um beide Knöchel legte und festzurrte.

»Lass sie sofort runter!«, befahl jemand hinter ihnen.

Nach einer Schrecksekunde erkannte Wolf die Stimme: Falbe war hinzugekommen. Blut lief ihm aus der Nase. Sein Blick war auf das Mädchen geheftet.

Das Gesicht der Gefangenen hatte mittlerweile eine blassviolette Färbung angenommen, das Strampeln ihrer Arme und Füße wurde träger. In aller Seelenruhe wandte Zilber den Kopf. »Dann lass ich sie jetzt los, oder gibt es irgendwelche Einwände?«

»Worauf wartest du noch, du hirnloser Folterknecht!« Falbes Stimme überschlug sich beinahe.

Zilber machte sich nicht die Mühe, das Mädchen auf die Füße zu stellen, sondern zog den Arm so abrupt zurück, dass sie, nach Luft schnappend, zu Boden fiel. Dort kauerte sie sich hin und hustete und röchelte leise. Ihre Widerstandskraft schien endgültig gebrochen.

»Ähu, ähu, ähu«, ahmte Zilber sie boshaft nach. »Gute Vorstellung. Ich wette, die Kleine ist viel zäher, als sie aussieht. Sollen wir es ausprobieren?«

Falbe warf ihm einen wütenden Blick zu, doch bevor er etwas sagen konnte, schlug Balderdachs vor: »Fragen wir sie lieber nach dem Schnitter.«

Ruckartig hob das Mädchen den Kopf.

»Ihr kennt den Schnitter?«

Der Klang ihrer Stimme überraschte Wolf. Sie war viel tiefer, als er erwartet hatte, und von warmem, vollem Ton, ähnlich einer großen alten Glocke. Mit einem flüchtigen Blick bedeutete er seinen Freunden zu schweigen.

»Nein, aber scheinbar kennt er uns«, antwortete er.

Das Mädchen starrte ihn an und sagte nichts. Der Blick aus ihren dunklen Augen sorgte dafür, dass sich sein Nackenfell aufstellte. Plötzlich lächelte sie zaghaft. In der Tat, er hatte noch niemals zuvor ein schöneres menschliches Wesen gesehen.

»Ihr seid ihm unbequem, nicht?«

»Ja, und deshalb schickt er Leute wie dich aus, um uns aus dem Weg zu räumen!«, blaffte Balderdachs.

»Beseitigen wir sie, bevor sie uns an ihn verrät«, ergänzte Zilber und knetete genüsslich seine knackenden Fäuste.

Wolf sah, wie das Mädchen den beiden einen ratlosen Blick zuwarf. Ihre Stirn zuckte; blitzschnell schien sie Entscheidungen zu treffen. Ihr Atem ging rasch und flach. »Mich beseitigen? Das wäre ein Fehler«, sagte sie leise. »Warum?«, fragte Wolf.

»Weil ich die Einzige bin, die Euch helfen kann.«

»Den Schnitter kennenzulernen?«

»Ihm zu entgehen.«

»Wie?«

Sie öffnete den Mund, um ihm zu antworten, doch Zilber kam ihr zuvor.

»Wo sind wir hier, in einer Wanderkomödie? Wolf, hör nicht auf sie. Stell ihr lieber die richtigen Fragen!«

»Wolf?«, wiederholte die Gefangene langsam. »Wolf von Tanár?« »Ja«, erwiderte er. »Woher kennst du meinen Namen?«

»Woher wird sie ihn wohl kennen«, rief Zilber, der wütend die Zähne fletschte. »Der Schnitter hat ihr gesagt, wie du heißt. Er und seine Schergen wussten ja sogar, wo du wohnst!«

»Der Schnitter kann mir nichts gesagt haben«, widersprach sie, ohne den Blick von Wolf abzuwenden. »Ich gehöre nämlich nicht zu seinen Leuten. Ich arbeite gegen ihn. Wenn er überhaupt weiß, dass ich existiere, dann kennt er mich nur unter dieser Verkleidung.«

»Was für ein rührendes Märchen.«

»Halt die Klappe, Zilber«, murmelte Wolf, der die Augen nicht mehr von dem Mädchen lassen konnte. »Ich frage dich noch einmal: Woher kennst du meinen Namen?«

»Ich habe ihn erraten. An Eurer Redeweise ist leicht zu erkennen, dass Ihr aus Tanár stammt.«

Zilber schnaubte zornig.

»Wenn du nicht für den Schnitter arbeitest«, fuhr Wolf fort, »warum hast du uns dann aufgelauert? Und warum hast du versucht zu fliehen, als wir dich entdeckt hatten?«

»Ich habe nicht Euch aufgelauert«, entgegnete sie, »sondern den Schergen des Schnitters, die dieser Tage in Téan Hu eintreffen sollen. Ich war mir nicht sicher, ob Ihr zu ihnen gehört, weil Ihr so offen über unseren König gesprochen habt. Also bin ich Euch ein bisschen länger gefolgt als nötig.

Vergebt mir.« Sie lächelte flüchtig.

»Wer bist du?«, fragte Wolf nach einer Pause, während der Zilber unruhig mit den Füßen scharrte.

Das Mädchen wurde sehr ernst und blickte ihn an, ohne zu blinzeln.

»Mein Name lautet Lacríma von Táegaran.«

»Nie gehört von diesem Land«, bemerkte Zilber. »Und ich bin ziemlich herumgekommen in der Welt.«

»Es ist unvorstellbar weit weg«, entgegnete Lacríma, »und ich würde Euch bitten, mich wenigstens ausreden zu lassen, bevor Ihr mit beklagenswertem Nichtwissen glänzt, unbekannter Fremder.« Wieder lächelte sie.

Zilber starrte sie an und machte eine wütende Bewegung auf sie zu – Wolf hielt ihn energisch zurück.

»Ich bin vor langer Zeit nach Téan Hu gekommen und lebe seitdem hier. Früh schloss ich mich einer Gruppierung an, die im Untergrund für Gerechtigkeit sorgt, wann immer die Senatoren, die königlichen Wachen und Soldaten damit überfordert sind.«

»Also einer Bande von Dieben und heimtückischen Mördern«, kommentierte Zilber mit eisiger Verachtung. »Alles übrigens Leute, die eines gemeinsam haben: Sie sind über die Maßen schlau.«

»Als meine Leute und ich von den Plänen des Schnitters Wind bekamen«, fuhr Lacríma ungerührt fort, »beschlossen wir, alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um ihn aufzuhalten.« Sie musterte die vier, einen nach dem anderen. »Wir könnten Eure Hilfe brauchen.«

»Das wird ja immer toller!«, rief Zilber. »Wolf, fall bloß nicht auf ihre Lügen herein. Sie arbeitet für den Schnitter, das ist ganz klar. Schau sie dir doch an, sie trägt die gleiche Kutte wie alle seine Schergen!«

»Das müsst Ihr gerade sagen, Unbekannter«, sagte Lacríma prompt. »Warum wohl hüllt auch Ihr Euch in das Gewand seiner Getreuen, könnt Ihr mir das erklären?«

»Ich könnte, aber ich will nicht«, sagte Zilber kalt.

»Übrigens trage ich unter dem Gewand kein Cataclým um den Hals, aber ich verwette meinen Pelz darauf, dass unsere schlaue Füchsin es tut. Vorhin habe ich deutlich die Kette gespürt.« Zufrieden rieb er sich die Innenfläche seiner rechten Hand.

Für einen Augenblick schien Lacríma blass zu werden. Ihre Lider zuckten, und sie hielt ihren Blick gesenkt, als sie weitersprach.

»Es ist wahr, dass auch wir Cataclým verwenden, wenn es keinen anderen Ausweg gibt, genau wie die Untergebenen des Schnitters. Allerdings hätte ich es schon die ganze Zeit benutzen können, anstatt Euch von meiner Mission zu erzählen.« Sie blickte auf.

»Ich glaube dir«, ließ sich auf einmal Falbe vernehmen. Wolf sah erst jetzt, dass dem Jungstreuner ein Stück des rechten Eckzahns fehlte. Die Tür musste ihn übel erwischt haben.

Er selbst zögerte mit einer Antwort. Lacríma schien nicht zu lügen, andererseits sprach vieles gegen sie. Doch je länger Wolf sie betrachtete, desto deutlicher spürte er tief in sich ein Vertrauen zu ihr, das stärker war als jedes noch so plausible Argument. Sie wirkte nicht wie eine Untergebene des Schnitters. Dazu war ihr Wesen niemals hinterhältig und böse genug – und ihre Gestalt obendrein viel zu lieblich. Sie sollte ihre Chance bekommen.

»Du sagtest, du könntest uns helfen, dem Schnitter zu entgehen«, sagte er schließlich. »Wie?«

»Indem ich Euch erst einmal vor ihm verstecke«, erwiderte Lacríma mit einem gewinnenden Lächeln. »Dazu müsst Ihr mich allerdings losbinden.«

»Kommt nicht in Frage!«

»Ich sagte, du sollst die Klappe halten«, fuhr Wolf Zilber an. Dann wandte er sich wieder an die Gefangene. »Wirst du uns dein Wort geben, uns zu helfen, wenn wir dich freilassen?« Lacríma senkte bejahend den Kopf und musterte Wolf darauf ernst und erwartungsvoll.

»Das Wort einer Frau hat unter Streunern noch nie viel gegolten«, knurrte Zilber. »Ich sage, wir …« Er brach ab, weil Wolf mit gefletschten Zähnen so nahe an ihn herantrat, dass sich ihre Nasenspitzen berührten.

»Entweder bist du jetzt mucksmäuschenstill, bis ich das hier geregelt habe«, stieß Wolf hervor, »oder du gehst dahin zurück, wo du hergekommen bist, Zilberpardel von Orilac, und zwar auf der Stelle! Haben wir uns verstanden?«

Zilber hatte die Ohren angelegt und die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Seine Mundwinkel hoben sich leicht, was ihm den Anschein verlieh zu grinsen, doch tatsächlich sah er wütender und gefährlicher aus als jemals zuvor. Sein Schwanz zuckte unkontrolliert.

»Du machst einen Fehler, mein Freund«, flüsterte er. Dann trat er langsam ein paar Schritte zurück, ließ Wolf jedoch dabei nicht aus den Augen. Balderdachs legte ihm die Hand auf die Schulter und begann, leise auf ihn einzureden.

»Mach sie los, Falbe«, befahl Wolf. »Nein, warte, ich mache es selber.«

Lacríma lächelte spöttisch, während er sich neben ihr hinkniete und mit ungeschickten Fingern den Knoten in dem Drahtseil zu lösen versuchte. Mit den Augen verfolgte sie jede seiner Bewegungen. Als er fertig war, erhob sie sich und richtete den Blick auf Falbe, dessen Miene sich sofort aufhellte.

»Verzeiht, dass ich Euch verwundet habe, junger Fremder. Es war nicht meine Absicht. Ich werde mich gleich um Euch kümmern, doch zuerst sollten wir Euch eine sichere Bleibe für die Nacht suchen.« Zu ihnen allen gewandt, fuhr sie fort: »Zum Glück kenne ich mich in Téan Hu gut aus. Wir müssen nicht weit gehen. Folgt mir!«

Fantasy Collection III

Подняться наверх