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38. Verstehen und Verzeihen, die wichtigsten Grundlagen in der Erziehung des Kindes und in der Behandlung der kranken Seele

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Heute will ich fortsetzen, wo wir gestern geschlossen haben. Es ist das Thema „Verstehen“ und ich möchte damit verbinden das Verzeihen. Es spielt im Leben der Menschen die größte Rolle und beeinflußt die Seele in einem Maße, wie es die Menschen kaum erkennen können.

Jede Verzeihung, die wir einem irrenden Menschen von Herzen angedeihen lassen, bringt ihn um einen Schritt weiter. Verstehen und Verzeihen liegen nahe beisammen, denn eine Fehlhaltung verstehen, heißt zugleich sie verzeihen. Hat ein unrichtiges Verhalten seine Begründung gefunden, dann gibt es nur ein Verzeihen dafür.

Der Fehler, den die Menschen begehen, liegt vor allem darin, daß sie der Meinung sind, jede unrechte Tat müsse gesühnt und bestraft werden. Was will man denn damit erreichen? Doch eine Besserung des Verirrten und Fehlenden, wenn es nicht Rache sein soll für einen zugefügten Schaden. Ich brauche dazu kaum etwas zu sagen, wenn diese Zeilen an guten Willen gerichtet und mit solchem aufgenommen werden, denn da ist Rache ein Begriff, der gewiß nicht anerkannt wird für die Entwicklung der Menschheit. Niemals würden Morden und Brennen ein Ende nehmen, gäbe es nicht das kleine Wort Verzeihung. Wie sehr die Seele davon berührt wird, kann mancher aus eigener Erfahrung feststellen.

Es ist das oberste Gesetz der psychischen Pflege und Behandlung. Ein Patient, der wegen einer großen Fehlleistung aus Angst vor Rache und Strafe im Begriffe steht, seinem irdischen Dasein ein Ende zu machen, kann nur dadurch genesen, daß ihm Verstehen und Verzeihung zuteil wird. Keine Strafe kann ihn davon abhalten, es sei denn, man nimmt ihm systematisch alle Möglichkeit, sein Vorhaben auszuführen.

Ich will damit zeigen, daß weder für den Kranken – denn jede Fehlhaltung beruht auf einer Krankheit oder mangelhafter Entwicklung und Pflege der Seele – noch für die Mitmenschen, ob in enger oder weiterer Bindung zu dem Patienten, ein Nutzen daraus gezogen werden kann.

Aber immer wieder muß ich dabei zurückgreifen auf bereits Gesagtes, und zwar, daß das Leben auf der materiellen Welt nicht nur einmal geschenkt wird, sondern, das ist wichtig, in unendlicher Folge so lange, bis geistige Reinheit erreicht ist, und das im Interesse und zum Wohle der ganzen Menschheit. Es ist notwendig, immer wieder vor Augen zu führen, daß der Mensch nicht nur für sich selbst und seine Entwicklung verantwortlich ist, er ist es in gleichem Maße für seine Umgebung und, soweit es in seinen Bereich in irgendeiner Form hineinragt, für die ganze Menschheit. Keiner kann einen geistigen Fortschritt erzielen ganz auf sich allein gestellt und nur zu seinem eigenen Nutzen. Er ist auf die Mithilfe seiner Umgebung genauso angewiesen wie diese auf die seine.

Gemeinschaft ist alles. Das heißt nicht, daß man täglich und stündlich nur anderen dienen soll. Auch hier gibt es einen goldenen Mittelweg, den man suchen muß. Bevor man einem Mitmenschen helfen und dienen will, mit Erfolg und zu seinem Nutzen, muß man selbst an sich erproben und erforschen, wohin der Weg führt und welcher der richtige ist.

Helfen setzt ein Können voraus und das muß gelernt sein, auch dann, wenn große Anlagen vorhanden sind und Befähigung im Innersten schlummert. Der eine muß aufbauen und lernen, der andere braucht nur zu öffnen und seinen Fähigkeiten freien Lauf lassen, aber er muß den Willen haben, es zu tun.

Ich begann also mit der Pflege der Seele durch Verstehen und Verzeihen. Mag jeder selbst erkennen, wie viel Wohltat er damit sich selbst und einem anderen erweist. Frohsinn und Ruhe strahlt jeder aus, der Verzeihung gewährt und der Empfänger desgleichen. Nur auf einen Versuch kommt es an. Nach der ersten Tat in dieser Richtung wachsen das Vertrauen zu sich selbst und die Sicherheit der eigenen Persönlichkeit, denn Verurteilung, Schmähung und Verunglimpfung erzeugen nur Unsicherheit im eigenen Seelenbereich, weil der Zweifel an ihr nagt, ob das Verhalten auch gerecht war oder ob man etwa übers Ziel hinausgeschossen ist. Daraus entsteht oft die Übertreibung in der Vorstellung von der Fehlleistung des andern, einzig und allein deshalb, weil man nach Rechtfertigung für die negative Beurteilung sucht. Glücklich macht sie keinen und wäre sie noch so gerecht.

Es ist nicht nur, wenn auch in erster Linie vielleicht, Aufgabe der Kirche, solche versöhnliche Haltung zu predigen. Es ist auch eine unerläßliche Aufgabe des Arztes, der nicht früher seinen Patienten wahrer Helfer sein wird, als bis er sich auf den Weg zu Verstehen und Verzeihen eingestellt hat und als leuchtendes Vorbild die Überzeugung vom guten Denken über die Mitmenschen auf andere wird übertragen können. Wie viele schwere Depressionen könnten auf so einfache Weise geheilt werden.

Das Denken des irrenden Patienten muß umgelenkt werden auf die Bahn des Friedens und der Versöhnung. Man darf diesen letzten Satz ruhig bezweifeln, eine Depression entsteht oft daraus, daß der Mensch sich nicht in der Lage sieht, gegen seine äußeren und inneren Feinde aufzukommen. Es ist ein aussichtslos scheinender Kampf gegen die Umwelt, gegen Irrtum und Verfehlung. Jeder Kampf ist aber verwerflich und abzulehnen. Was wir Kampf in diesem Zustand nennen, ist das Ankämpfen gegen die falsche Vorstellung, also das Bemühen, zum richtigen Verstehen zu gelangen.

Der Mensch versteht sich selbst oft nicht und erkennt nicht den Wert oder Unwert seiner Lage. Er muß auch in erster Linie lernen, sich selbst zu verstehen, seine Handlungen und Taten unter die Lupe zu nehmen und rückhaltlos und ehrlich zu kritisieren. Es hat aber ebensowenig Wert, sich selbst zu verurteilen und womöglich für unfähig und verloren zu betrachten, wie es unrichtig ist, über andere den Stab zu brechen.

Auch sich selbst verstehen und sich verzeihen gehört zu einem gedeihlichen Fortschritt. Aber nicht dabei stehenbleiben darf der Mensch, der zur Einsicht kommt, daß er geirrt oder gefehlt hat, sondern mit aller Kraft und inneren Überzeugung, mit ehrlichem Willen muß die Verpflichtung auf sich genommen werden, sich zu ändern, den richtigen Weg einzuschlagen. Nicht zurückblicken darf man, sondern immer nur voraus und nach oben. Wie beglückend ist der Erfolg, wieviel Kraft erwächst einem solcherart krank gewesenen Menschen aus dem Sieg über sich selbst. Also noch einmal: Erkennt die wichtigste Grundlage für die Heilung einer kranken Seele. Verstehen und verzeihen, sich selbst und seinen Mitmenschen.

Wieviel mehr muß dieser Weg beschritten werden in der Erziehung der Kinder, die, in ein Milieu geboren, unerfahren und unreif, gezwungen sind, sich gegen alle Anfechtungen des irdischen Daseins zur Wehr zu setzen. Auch sie müssen in frühester Kindheit lernen, zu verstehen und zu verzeihen. Aber auch nicht nur in bezug auf ihre Umgebung, sondern insbesondere sich selbst gegenüber. Wie dankbar ist ein Kind, das einem nach Meinung der Eltern und damit nach seiner eigenen – ich möchte sagen – ihm eingegebenen Meinung sieht, daß ein begangener Fehler nicht beachtet wird. Es weiß genau, daß es so oder so nicht sein soll oder daß eine Handlungsweise verboten ist, aber es wird nicht davon abgehen, wenn es kritisiert und bestraft wird, es sei denn, daß Rabeneltern, wie man fälschlich sagt, so drakonische Methoden an den Tag legen, daß die Angst vor qualvoller Strafe darauf verzichten lässt. Das Kind wird bei jeder Gelegenheit bemüht sein, sich nach eigenem Gutdünken zu verhalten. Denn auch ein Kind hat einen freien Willen und muß ihn erhalten, ungehindert bis an sein Lebensende.

Das wird den Eltern leicht gelingen, wenn sie nur mit Verstehen und Verzeihen ihrem Kind entgegenkommen, ihm Freiheit im Denken und Handeln gewähren und sich darauf beschränken, es zu pflegen und zu ernähren, es vor Gefahren zu beschützen und sich bemühen zu ergründen, in welcher Richtung die Fähigkeit gefördert und geweckt werden können.

Ich sagte schon einmal, daß es eine große, heilige Aufgabe ist, zu der die Eltern in ausreichendem Maß unterrichtet werden müßten. Freilich ist es heute noch nicht so weit auf der materiellen Welt, daß man von jedem Elternpaar erwarten könnte, daß es sich der Erziehung der Kinder in der geschilderten Weise annehmen wird.

Dafür müssen eben noch soziale Einrichtungen geschaffen sein, wie sie ja bereits zum Teil vorhanden sind. Man erkennt immer mehr, daß es nicht ganz leicht ist festzustellen, ob ein Kind seinen Weg aus eigenem Antrieb gehen wird oder ob es fremder Hilfe bedarf. Verhältnismäßig selten sind Kinder so ganz allein auf sich gestellt und haben dadurch die Möglichkeit, sich geistig zu entfalten nach ihrem mitgebrachten Programm. Das Milieu übt einen starken Einfluß auf die Entwicklung aus und läßt oft die ureigenen Anlagen nicht zum Ausreifen kommen. Die Seele ist es in allen Fällen, die da ihre Vermittlerrolle nicht in ausreichendem Maß versehen kann, und weshalb sie es nicht imstande ist, haben wir in groben Zügen schon festgestellt.

Wir wollen aber auf die einzelnen Arten der Behinderung noch in den nächsten Abschnitten genau eingehen. Für heute schließe ich mit dem Wunsch, daß alle, die dieses Kapitel gelesen oder gehört haben, einmal versuchen, meinen Rat zu befolgen und ihren Mitmenschen und sich selbst mit Verstehen und Verzeihen zu begegnen. Ich bin überzeugt, sie würden es mir danken und bemüht sein, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzuwandern. Glaubt mir, er ist der klügere, gesündere und bequemere Weg als aller Kampf und Streit, als Verurteilung und Haß.

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