Читать книгу Mediale Schriften - Karl Nowotny - Страница 54
4. Menschenkenntnis und ihre praktische Anwendung
ОглавлениеIch muß wohl nicht nachdenken über das, was ich schreiben will, weil ich mit geistigem Auge ganz anders sehe als die materiellen Menschen. Ich sehe aber auch was sie unrichtig machen und verkehrt denken, und darauf will ich zu sprechen kommen, weil ich dann sicher meine Betrachtungen auf das irdische Denkvermögen abstelle und nicht in Versuchung komme, geistiges Sehen mit materiellem zu vermengen und zu vertauschen. Es würde ein großes Wirrwarr geben.
Menschenkenntnis heißt: Wissen vom Charakter der Mitmenschen. Es setzt in seiner Bezeichnung schon voraus, daß ein Erkennen gegeben ist. Wir wollen aber nicht von hinten anfangen sondern aufzeigen, was notwendig ist, um richtige Menschenkenntnis – also Kenntnis vom Menschen – zu erlangen. Wie sollen wir einen anderen Menschen erkennen, seinen Wert zu schätzen wissen, wenn wir uns nicht erforscht und in allen Einzelheiten erkannt haben? Damit beginnt schon der erste große Irrtum.
Menschenkenntnis – welche Bezeichnung ich nun auch im irdischen Sinn gebrauche – als das Streben nach Erkennen der menschlichen Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften und nicht als die bereits erworbene Kenntnis setzt voraus, daß man sich selbst sehr genau kennt und prüft und im Zusammenhang damit erst feststellt, ob man ein Idealbild darstellt, von dem man zur Prüfung anderer ausgehen, das man zum Vergleich heranziehen kann.
Was will man damit überhaupt erreichen? Man sagt sehr oft – und diese Ansicht ist weit verbreitet – Menschenkenntnis sei das Wichtigste im Umgang mit seinen Mitmenschen. Das trifft wohl vielfach zu, ist aber bestimmt nicht in dem Grade und in der Weise wichtig, wie es meist aufgefaßt wird. Um die Handlungen, Taten und den Charakter eines Menschen richtig beurteilen zu können und um jeden Irrtum daher auszuschalten, müßte jeder mit geistigen Augen sehen können. Der materielle Körper verhindert die Durchsicht – möchte ich sagen – in das Innere der Mitmenschen und läßt daher niemals ein einwandfreies Urteil zu.
Da wir aber nur nach ganz unumstößlichem Wissen und Beweisen urteilen sollen, müßten wir auf die Forderung nach Menschenkenntnis in diesem Sinn verzichten.
Es kann im irdischen Leben jeder nur das Bild vom Mitmenschen bekommen, das er sich nach seiner eigenen geistigen Reife ausmalen oder zeichnen kann. Es wird also jeder ein anderes Bild von ein und demselben Menschen haben, wenn auch in Grundzügen und sehr markant ausgeprägten Eigenschaften vielleicht in der gleichen Richtung.
Trotzdem ist es im menschlichen Leben notwendig, sich von der Umwelt ein möglichst genaues Bild zu machen. Es kann der Wahrheit mehr oder weniger nahekommen. Es kann in bestimmter Richtung – abgestellt auf besondere Fähigkeiten und Eigenschaften – richtig sein und zu menschlicher Verbindung und Zusammenarbeit den Weg weisen. Ein einwandfreies Gesamtbild wird man niemals erhalten können.
Auch kommt es dabei darauf an, welche Ausstrahlungen sich bei dieser Erforschung treffen mögen, ob ein Gefühl der Harmonie entsteht oder das Bedürfnis nach Trennung und Abstand.
Ein objektives Bild gibt es nicht dafür, weil jede Forschung in dieser Hinsicht subjektiv beeinflußt ist. Was aber der Arzt als Menschenkenntnis braucht und zu erlangen sucht, ist ein einwandfrei objektives Bild. Er versucht deshalb, nach einem Schema, das die Wissenschaft dazu geschaffen hat, die Regungen und Verhaltensweisen zu analysieren, zu abstrahieren und mit allgemeinen Erkenntnissen zu vergleichen.
Es sind gewiß der gute Wille und die löbliche Absicht zu begrüßen. Ein bescheidener Anfang ist es zudem, was ich dazufügen will, um diesen noch so bescheidenen Grundlagen ein entsprechendes Gewicht zu verleihen und sie zu einem Fundament zu machen für eine fortgeschrittene und erfolgreiche Forschung. Ich sagte schon an anderer Stelle, daß der Mensch ein Einzelindividuum ist, daß es nicht zwei gleiche Geistwesen im Weltall gibt, jedenfalls nicht in den Sphären, die wir imstande sind zu überblicken. Es kann kein Idealbild für das irdische Leben aufgestellt und gefunden werden, dem jeder versuchen oder bestrebt sein müßte, nachzueifern.
Es gibt aber Merkmale im irdischen Dasein, Lebenslagen und Zustände, die für alle Menschen im gleichen Maß gelten und geboten sind. Es darf aber nicht deshalb, weil der eine oder andere nur auf einem Teil solcher gemeinsamen Verhältnisse Erfolg zeigt – oder überhaupt menschliche Beziehungen – der Schluß gezogen werden, daß er einer Forderung im Leben der menschlichen Gesellschaft nicht gerecht wird, also in dieser Hinsicht einen Mangel aufzuweisen hat.
Es gibt wohl solche Forderungen, die ich hier nicht eingeschlossen habe, und das sind die selbstverständlichen Forderungen der Zivilisation und Kultur, nicht aber Lebensbereiche, die jeder selbst zu wählen hat, Taten solcher Art, wie sie nur den eigenen Charakter zeichnen und bilden und die in der menschlichen Gesellschaft von der Allgemeinheit unabhängig, nur dem freien Willen jedes Einzelnen überlassen sind.
Die Individualpsychologie stellt drei Bereiche als richtungsweisend für die Menschenkenntnis auf: Ehe, Beruf und Freundschaft. Nach dem, was ich in vorhergehenden Abschnitten schon ausgeführt habe, muß ich nur wiederholen, daß diese Rahmengebung auf dem großen Irrtum beruht, der heute noch in der Wissenschaft so hemmend wirkt, nämlich die Ansicht oder der Glaube, der Mensch sei nur einmal im materiellen Bereich und habe daher alle Voraussetzungen zur Erfüllung des Idealbildes eines Menschen, wie es eben die materielle Lebensauffassung verlangt, anzustreben.
Wie oft mag es nun bei genauester Betrachtung gelungen sein, ein solches Idealbild zu finden. Vielleicht öfter als wir zugeben werden, aber wir haben oft daneben gegriffen.
Es ist für uns nicht leicht, ein richtiges, objektives Urteil über einen Menschen zu finden. Der Wert oder Unwert des Charakters ist von so vielen Komponenten abhängig. Bedenken wir doch, wie viele Menschen nur deshalb gut erscheinen, weil sie einfach nicht in die Gelegenheit kommen, ihre vielleicht bösen Charakterzüge zur Geltung zu bringen. Wie oft erleben wir, daß Menschen, die in ihrer Kindheit behütet waren auf Schritt und Tritt und die von allen vermutlich schlechten Einflüssen ferngehalten wurden, in ihrem späteren Leben, wenn jeder Schutz wegfällt und sie plötzlich mit dem Ernst des Lebens konfrontiert sind, restlos versagen, allen ihren niederen Instinkten und Trieben freien Lauf lassen und nicht im geringsten den Wunsch haben, zu einem geordneten Lebenswandel zurückzukehren.
Solange also der Mensch unter fremdem Einfluß steht oder die Schranken, die ihm das Milieu auferlegte, noch nicht durchbrochen hat, so lange wird es schwer sein, die in ihm schlummernden Charaktereigenschaften zu ergründen. Es ist natürlich richtig, daß die Individualpsychologie ihre Untersuchungen auf die Bereiche des menschlichen Lebens abstellt, die in der menschlichen Gesellschaftsordnung die größte Rolle spielen oder eben aus der menschlichen Gemeinschaft in ihrem Zusammenwirken nicht wegzudenken sind.
Die Ehe ist die notwendige Verbindung zur Erhaltung der irdischen Menschheit, zu ihrer Fortpflanzung oder Vermehrung. Das ist nicht zu leugnen und in bezug auf die Forderungen der Zivilisation sicher in ihrer gesetzmäßigen Regelung anzuerkennen. Warum soll aber ein Mensch, der nicht den Bund der Ehe eingeht und an der Fortpflanzung und Erhaltung der Menschheit in diesem Leben gerade keinen Anteil hat, weniger wert sein als der, der zwar der Forderung nach der Ehe gerecht wird, der Menschheit damit aber trotzdem keinen großen Dienst erweist. Ich habe ja schon dargelegt, daß das Idealbild eines Menschen nicht in seinem augenblicklichen Dasein gefordert und erreicht werden kann und daß ein solches im irdischen Sinn überhaupt nicht aufgestellt werden kann.
Wenn wir aber davon ausgehen wollen, daß die Menschheit eines Tages eine so große Reife erreicht haben wird, daß alles Böse und Häßliche verschwindet, dann können wir von einem Bild sprechen, das einem Idealbild im irdischen Sinn gleichkommt. Die heute aufgestellten Forderungen zielen in der Hauptsache auf materiellen Erfolg, und der Mensch weiß noch nicht, wie das wahre Ziel seiner verschiedenen Leben aussieht. Nun ist es aber notwendig, die Grenzen kennen und feststellen zu lernen, die jedem einzelnen gezogen sind für sein Erdenleben, und das Gebiet zu erkennen, auf dem er seinen Fortschritt suchen muß.
Menschenkenntnis ist alles andere als die Untersuchung, ob ein Mensch den allgemeinen Forderungen der Zivilisation und des Gemeinschaftslebens entspricht. Wenn er nicht geneigt oder gewillt ist, zum Beispiel den Bund der Ehe einzugehen, so mag es oft für die Menschheit ein Vorteil, ja manchmal sogar ein Segen sein. Ihn aber dazu erziehen zu wollen, ist ganz verkehrt. Gerade auf diesem Gebiet ist die Einmischung Außenstehender sicher nicht gut und erforderlich, denn es ist kein Schaden und kein Mangel und tut der Persönlichkeit keinen Abbruch, wenn die irdische Ehe nicht zustande gebracht wird. In dieser Hinsicht ist Zwang ein großer Fehler.
Die Mütter müssen erkennen lernen, daß nicht jede Frau bestimmt und auserkoren ist, Kinder zu gebären oder nur einem Manne zu dienen. Das Leben bietet so viele Möglichkeiten, mütterliche Fähigkeiten zu entfalten. Es sind oft gerade unverheiratete Frauen, die eine Begabung in dieser Richtung an den Tag legen, die manche Mutter glücklich wäre, zu besitzen.
Erzeugt deshalb in den Menschen nicht durch unrichtige Auffassung ein Gefühl der Minderwertigkeit dadurch, daß ihr die Mutter über die allein gebliebene Frau stellt. Sucht lieber danach zu ergründen, worin ihre Aufgabe für dieses Leben in der materiellen Welt besteht und ihr die Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die sie hindern, Pflichten zu erfüllen, die sie auf sich genommen hat.
Es muß also ein Weg gefunden werden, den Lebensweg jedes Menschen zu erkennen die gegebenen Fähigkeiten, die bereits vorhandene geistige Reife. Dann wird man erkennen, welche Hindernisse der freien Entfaltung im Wege stehen inwieweit noch eine höhere Reife des Geistes erforderlich ist, um bestehen zu können, oder wie das Milieu beeinflußt oder erst geschaffen werden muß, das die äußere Grundlage dafür bieten soll.
Ein Mensch, mit einem Beruf, der ihm von seiner Umgebung aufgezwungen wurde, der seinen mitgebrachten Fähigkeiten völlig oder weitgehend widerspricht, wird so lange unbefriedigt und unglücklich sein, bis man ihm aus der Sackgasse heraushilft oder er eine seiner wahren Berufung entsprechende Nebenbeschäftigung gefunden hat.
Vielfach fehlt es den Menschen an Mut, den einmal eingeschlagenen Weg aufzugeben und sich gegen den Willen seiner Umgebung abzuwenden. Da muß die ärztliche oder seelsorgerische Tätigkeit einsetzen. Nicht blinder Gehorsam ist es, der verlangt werden darf, sondern mutiges Beschreiten des selbst gewählten Lebensweges. Kein Mensch darf für sich das Recht in Anspruch nehmen, für einen anderen Wegbereiter zu sein, oder besser gesagt, das Recht, einem anderen einen Lebensweg vorzuschreiben oder zu wählen, ohne ihn genau erforscht zu haben. Das aber kann kein irdischer Mensch. Man darf den von einem Menschen gewählten Weg bereiten helfen und, wie gesagt, behilflich sein, Hindernisse zu beseitigen, welcher Art immer sie auch sein mögen. Aber Zwang gegen den freien Willen eines Menschen ausüben darf man in so wichtigen und für den Fortschritt bedeutenden Dingen niemals. Auch dann nicht, wenn nach Ansicht „Gescheiterer“ der Weg verfehlt ist oder keinen materiellen Nutzen bringt.
Das sind die Grundgedanken zur Menschenkenntnis, die nicht nur eine theoretische Phrase und ein bloßes Erkennen sein sollen, sondern praktische Hilfe auf dem Weg nach oben, eine Mithilfe zur Meisterung aller menschlichen Probleme.
Es ist jedermanns eigene Sache, welchen Weg er einschlagen will, die Sache der Mitmenschen, vor allem der Ärzte und Seelsorger ist es, materielle Hindernisse zu erkennen und zu entfernen. Welche Hindernisse es sind, werden wir im Einzelnen besprechen und erkennen, daß die Auffindung derselben eben praktische Menschenkenntnis bedeutet.
Und damit sind wir an dem Punkt angelangt, von dem ausgegangen werden muß, will man ein geeignetes Schema erstellen, das gewissermaßen der Rahmen für die Praxis sein soll.
Wie gesagt, ist die Menschheit in bezug auf eine richtige, gesunde Lebensauffassung noch sehr in den Kinderschuhen, und sie wird so lange nicht darüber hinauswachsen, als sie über den begrenzten Horizont der materiellen Welt nicht hinausblicken will oder darf. Nicht wollen deshalb, weil die materiellen Genüsse davon abhalten und die Befürchtung naheliegt, daß man darauf verzichten müsste. Nicht dürfen deshalb, weil es die Kirche verbietet und nur in den seltensten Fällen der richtige Weg gefunden wird.
Man kann sich leicht vorstellen, wie groß die Schwierigkeiten sind, die daraus entstehen, daß entgegen allen Erwartungen und logischen, aber materiellen Schlußfolgerungen ein Kind andere Eigenschaften und Fähigkeiten zeigt, als in der ganzen Umgebung festgestellt werden können. Ist es ein über seine Umgebung hinausragender Geist, so kann die größte Verwirrung daraus entstehen, weil man einfach keine Begründung dafür finden kann, oder aber die bitterste Enttäuschung, weil trotz aller Bemühungen keine Anpassung an die Umgebung erzielt wird.
Grundsätzlich muß also davon eben ausgegangen werden, daß es im Geistigen keine Vererbung gibt, sondern nur einen Einfluß von außen, vom Milieu, den Eltern, dem Beruf, den Freunden und so weiter. Diese Einflüsse sind es, die man betrachten und erkennen muß, wobei es auf die Kraft der Seele ankommt, die den Einflüssen ausgesetzt ist und damit auf die Kraft, sie abzuweisen oder aufzunehmen und sich zu eigen zu machen.
Man mag daraus schon die Schwierigkeiten erkennen, die sich dem forschenden Psychologen entgegenstellen. Wie oft wird man geneigt sein, eine Eigenschaft als eine der Persönlichkeit eigene anzusehen, obwohl sie nur anerzogen und in der Persönlichkeit selbst nicht verankert ist. Da klar zu unterscheiden, was Merkmal der Persönlichkeit und was anerzogene Eigenschaften sind, ist sehr schwer und in vielen Fällen fast unmöglich.
Erst in höherem Alter ist es leichter, die wahre Persönlichkeit zu erfassen, da der Einfluß oder die Erziehung und so weiter nicht mehr so nachhaltig wirken können und das eigene Urteil aus der Erfahrung gereift ist. Darum ist Sicherheit im Auftreten, im Unternehmen und in der Ausführung aller Handlungen in der Jugend so selten zu finden, weil die fremden Einflüsse, die Kritik und die oft zu hoch gespannte Erwartung der Umgebung hemmend auf den freien Willen wirken.
Wird man erst so weit sein, daß man der Überzeugung vom fertigen Programm, das in jedem Neugeborenen ruht, einen größeren Raum läßt und damit die Überlegenheit der Erwachsenen den Kindern gegenüber wie Schnee in der Sonne schmelzen wird, dann wird man als Forscher an der Wiege des Kindes stehen und bemüht sein, seinem freien Willen ungehindert Ausdrucksmöglichkeit zu bieten. Die richtige Lebensauffassung allein schon würde auf dem Weg zu richtiger Menschenkenntnis einen Markstein bedeuten und eine hohe und höhere Verpflichtung erkennen lassen, die in der Erziehung der Menschen ihren ehernen Platz einnimmt.
Das nächste Mal will ich aber noch darauf eingehen, welche Fehler oder besser gesagt Irrtümer heute noch in Anbetracht der einseitig materiellen Lebensauffassung begangen werden und wie man ihnen auch ohne den Glauben an das ewige und immer wiederkehrende Leben auf der Erde begegnen müßte.