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a) Allgemeiner Aufschubgrund: Berechtigtes Interesse
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Eine Selbstbefreiung setzt zunächst ein berechtigtes Interesse des Emittenten an dem Aufschub der unverzüglichen Veröffentlichung der Insiderinformation voraus (Art. 17 Abs. 4 MAR). Die MAR enthält keine Definition dieses Tatbestandsmerkmals. Nach bisherigem Recht lag ein berechtigtes Interesse des Emittenten vor, wenn die Interessen des Emittenten an der Geheimhaltung der Information die Interessen des Kapitalmarktes an einer vollständigen und zeitnahen Veröffentlichung überwiegen (§ 6 S. 1 WpAIV). Aufgrund des Wortlauts der MAR, der in Art. 17 Abs. 4 MAR lediglich erfordert, dass die Veröffentlichung geeignet ist, die legitimen Interessen des Emittenten zu gefährden, und der Tatsache, dass die ESMA im Zusammenhang mit Art. 17 Abs. 4 MAR an keiner Stelle von einer Abwägung des Geheimhaltungsinteresses des Emittenten mit dem Informationsinteresse des Marktes spricht, wird die Ansicht vertreten, dass eine derartige Interessenabwägung nicht mehr notwendig sei.[94] Aufgrund der im Nachgang erlassenen WpAV, die den Wortlaut von § 6 WpAIV in § 6 WpAV wiederholt, ist diese Sichtweise abzulehnen und es bedarf weiterhin einer Interessenabwägung.
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Fallkonstellationen eines berechtigten Interesses legt Erwägungsgrund Nr. 50 der MAR nicht abschließend dar. Hierbei handelt es sich z.B. um laufende Vertragsverhandlungen, – insbesondere bei Verhandlungen bei drohender Überschuldung eines Emittenten, die durch die Veröffentlichung der Information beeinträchtigt würden und Entscheidungen eines Geschäftsführungsorgans, die im Falle dualer Gesellschaftsstrukturen der Zustimmung eines anderen Organs bedürfen.[95]
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Zudem können sich gem. ESMA-Leitlinien die Fälle, in denen die unverzügliche Offenlegung von Insiderinformationen geeignet wäre, die berechtigten Interessen des Emittenten zu beeinträchtigen, auf folgende nicht abschließende Umstände beziehen:[96]
– | Der Emittent führt Verhandlungen, deren Ergebnis durch die unverzügliche öffentliche Bekanntgabe wahrscheinlich gefährdet würde. Beispiele für solche Verhandlungen sind Verhandlungen über Fusionen, Übernahmen, Aufspaltungen und Spin-offs, Erwerb oder Veräußerung wesentlicher Vermögenswerte oder Unternehmenszweige, Umstrukturierungen und Reorganisationen. |
– | Die finanzielle Überlebensfähigkeit des Emittenten ist stark und unmittelbar gefährdet – auch wenn er noch nicht unter das geltende Insolvenzrecht fällt – und die unverzügliche Bekanntgabe von Insiderinformationen würde die Interessen der vorhandenen und potenziellen Aktionäre erheblich beeinträchtigen, indem der Abschluss der Verhandlungen gefährdet würde, die eigentlich zur Gewährleistung der finanziellen Erholung des Emittenten gedacht sind. |
– | Der Emittent hat ein Produkt entwickelt oder eine Erfindung getätigt, und die unverzügliche Offenlegung dieser Information würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Rechte des geistigen Eigentums des Emittenten gefährden. |
– | Der Emittent plant den Erwerb oder Verkauf einer wesentlichen Beteiligung an einem anderen Unternehmen, und die Offenlegung dieser Information würde aller Wahrscheinlichkeit nach die Durchführung dieses Plans gefährden. |
– | Ein zuvor angekündigtes Geschäft unterliegt der Genehmigung durch eine staatliche Behörde, wobei diese Genehmigung von weiteren Anforderungen abhängt, und die unverzügliche Offenlegung dieser Anforderungen wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Fähigkeit des Emittenten, diese Anforderungen zu erfüllen, auswirken und somit den Erfolg des Geschäfts letztendlich verhindern. |
– | Die Insiderinformationen beziehen sich auf vom Geschäftsführungsorgan eines Emittenten getroffene Entscheidungen oder abgeschlossene Verträge, die gem. dem innerstaatlichen Recht oder den Statuten des Emittenten der Zustimmung durch ein anderes Organ des Emittenten (abgesehen von der Hauptversammlung der Aktionäre) bedürfen, um wirksam zu werden, sofern die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: |
– | Die unverzügliche Offenlegung dieser Informationen vor einer endgültigen Entscheidung würde die korrekte Bewertung der Informationen durch das Publikum gefährden und |
– | der Emittent hat dafür gesorgt, dass die endgültige Entscheidung so schnell wie möglich getroffen wird. |
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Insbesondere für gestreckte Sachverhalte wird der letztgenannte Punkt von Relevanz sein, wenn eine Maßnahme zu ihrer Wirksamkeit noch der Zustimmung des Aufsichtsrates bedarf.
Mit der ersten Voraussetzung, d.h. die Gefahr der falschen Bewertung der Information durch das Publikum bei einer Offenlegung vor Zustimmung des anderen Organs, soll die Selbstbefreiung auf solche Fälle begrenzt werden, in denen der Vorstand Zweifel an der Zustimmung des Aufsichtsrates hat.[97] Mit der zweiten Voraussetzung soll der Emittent sicherstellen, dass eine Entscheidung des Aufsichtsrates so bald als möglich über die Maßnahme herbeigeführt wird.[98]
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War im Rahmen des Konsultationsprozesses durch die ESMA noch vorgesehen, dass eine Entscheidung des Aufsichtsrates binnen eines Tages zu erfolgen hat, ist die nun erfolgte Regelung deutlich weniger restriktiv und dürfte der bisherigen Verwaltungspraxis der BaFin unter § 15 Abs. 3 WpHG a.F. entsprechen, wonach eine möglichst zügige und gegebenenfalls auch außerhalb der nächsten turnusmäßigen Sitzung gefasste Entscheidung des Aufsichtsrates erfolgen soll.[99]