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Lehrmeister Vergil – Literatur-Lektionen beim „grammaticus“

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Für die meisten Kinder endete der Schulbesuch, wenn sie die für den Alltag wichtigen elementa beigebracht bekommen hatten. Das war Rüstzeug für das praktische Leben, während auf der nächsten Vermittlungsstufe literarisch-grammatische Bildung dominierte. Nun ging es weitgehend um Zugehörigkeitsbildung – zum einen in dem Sinne, dass die soziale Zugehörigkeit der Eltern zur Oberschicht und oberen Mittelschicht die finanziellen Mittel für den weiteren Schulbesuch der Kinder ermöglichte und zugleich das wesentliche Motiv dafür darstellte und dass zum anderen der Unterricht beim grammaticus die Mindestvoraussetzung für die Zugehörigkeit zur besseren, weil gebildeteren Gesellschaft war. Für die Honoratiorenschicht in den Provinzen bedeutete die Teilhabe an dieser Bildung die Chance, zur Elite zu gehören, Anteil an wahrhaft römischer humanitas demonstrieren zu können. litterae waren in der Formulierung K. Vössings „ein anerkanntes Signum sozialer Superiorität“27.

Das betraf natürlich auch und erst recht die nachfolgende rhetorische Ausbildung, wobei die grammatische und die rhetorische Unterweisung in der Praxis oft genug ineinander übergingen. Jedenfalls ist die Vorstellung von einer starren Grenze zwischen beiden problematisch – zumal wenn man die römische Abfolge der Lerngegenstände mit einer Art von dreigliedrigem Schulsystem vergleicht. Der private Charakter des römischen Schulwesens erlaubte eine Flexibilität, die sich auch in den Unterrichtsstoffen je nach lokalen Traditionen, Vorlieben des Lehrers und Wünschen der Eltern zeigen konnte.

Es gab deshalb auch keine festen Curricula und keine Lehrbücher mit mehr oder minder verbindlichen Basistexten, die von allen Schülern durchgearbeitet und auswendig gelernt werden mussten – wenn man einmal von Vergils „Aeneis“ absieht. Das römische Nationalepos war de facto Pflichtlektüre bei jedem grammaticus Latinus. Daneben wurden die Komödien des Terenz in den meisten Schulen gelesen. Horaz und Ovid gehörten ebenso zu den wichtigen Autoren, standen aber gewissermaßen in der zweiten Reihe. Auch Statius ist stolz darauf, dass „die Jugend Italiens dich“ – sein Epos „Thebais“ – „schon mit Eifer studiert und auswendig lernt“ – wobei es freilich auf keinen Fall wagen solle, mit der „göttlichen Aeneis“ in Wettstreit zu treten (nec tu divinam Aeneida tempta!)28.

Wenn er es wollte, nahm der grammaticus auch zeitgenössische Dichter in sein Lehr-Repertoire auf. Allerdings waren viele Lehrer Traditionalisten. Sie hielten sich an die bewährten veteres, die „Alten“, sodass auch die „Annalen“ des Ennius aus dem 3./2. Jahrhundert v. Chr. nicht in Vergessenheit gerieten.29 Natürlich wechselten die Geschmäcker und literarischen Moden von Zeit zu Zeit, aber Klassiker wie Vergil, Terenz und Horaz blieben über Jahrhunderte hinweg unangefochtene Schullektüre. Sie waren selbstverständlicher Inbegriff literarischer Bildung und wurden in langen Partien auswendig gelernt. In gebildeter Gesellschaft war es üblich, Klassiker-Verse in das Gespräch einzustreuen. Man brauchte keine Sorge zu haben, dass die anderen sie nicht verstanden. Und manch einer dokumentierte seine literarische „Mitwisserschaft“ auch schon einmal stolz durch – mehr oder weniger – korrekte Graffiti-Zitate.

Lernen und Leiden

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