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Piraten, Tyrannen, Pestilenzen – römischer Alltag?

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Deshalb bin wenigstens ich der Ansicht, dass die jungen Leute in den Hörsälen vollständig verdummen, weil sie nichts von dem, was wir in der Praxis finden, zu hören und zu sehen bekommen: Nur Piraten, die mit Ketten am Strand stehen, nur Tyrannen, die mit schriftlichen Erlassen Söhnen Befehl geben, den eigenen Vätern die Köpfe abzuschneiden, nur Orakel, die gegen Pestilenz ergehen und drei oder mehr Jungfrauen zu opfern heißen, nur süßes Wortkonfekt und lauter Sprüche – lauter Dinge, die sozusagen mit Zimt und Zucker bestreut sind … Mit Verlaub zu sagen, ihr habt der Eloquenz den Garaus gemacht.

PETRON, Satyrica 1,3 - 2,2 (Ü: K. Müller/W. Ehlers)

Cicero hatte im 1. Jahrhundert v. Chr. heftig dafür plädiert, die rhetorische Ausbildung auf eine breitere Grundlage zu stellen. Er wollte nicht den rhetorischen „Fachidioten“38, sondern den „Generalisten“, der über profunde historische, juristische und vor allem philosophische Kenntnisse verfügte.39 Und auch Quintilian setzte sich in seinem großen Werk über die „Ausbildung des Redners“ (institutio oratoria) massiv für eine solche Öffnung ein.40 Beide scheiterten gegenüber dem etablierten Schulbetrieb.

Der setzte zum einen auf ein gründliches theoretisches Studium aller Teile der Redekunst einschließlich der Analyse berühmter Reden etwa von Cicero. Auf der anderen Seite übten die Schüler den rhetorischen „Ernstfall“, indem sie selbst Übungsreden entwarfen, auswendig lernten und vortrugen. Das waren die von Kritikern in Antike und Moderne viel geschmähten declamationes. Dabei nahmen die meisten Skeptiker vorrangig an den weltfremden, theatralisch aufgedonnerten Themen Anstoß, die den Rhetorikeleven vom Lehrer zur Bearbeitung vorgelegt wurden. Schwülstiges Pathos führe zum Niedergang der Beredsamkeit, erregt sich Quintilian. In der Gerichtspraxis kämen Zauberer und Pestilenzen, Orakelworte und verbrecherische Stiefmütter anders als im Mythos doch gar nicht vor – wieso also werde das Deklamieren an solch abwegigen Themen trainiert?41

In der Tat wirken manche Themen weltfremd, peinlich, ja abstrus. Andererseits kann man ja auch an Gegenständen, die keinen Sitz im Leben haben, die Anwendung rhetorischer Prinzipien und praecepta zur Mimik und Gestik des Redners, Tricks und Redeschmuck üben. Die wichtigsten Redegenera wurden in allen Rhetorikschulen ausgiebig behandelt: Nicht nur die controversia, ein fiktiver Fall mit fiktiver Rechtslage, der „deklamiert“ wurde, sondern auch die suasoria, die beratende Rede, und das genus demonstrativum, die Lobrede. Wer das jahrelang unter Anleitung eines erfahrenen Rhetoriklehrers trainiert hatte, hatte sie nach 12 bis 14 Jahren hinter sich gebracht: die römische Schule, die in den folgenden Kapiteln unter verschiedenen Fragestellungen näher beleuchtet werden soll.

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