Читать книгу Der Henker von Bad Berging - Katja Hirschel - Страница 32

Оглавление

Mittwoch, 12:30 Uhr, Büro, Mädchengymnasium Sankt Olaf

Es war ein schönes Arbeitszimmer, großzügig geschnitten, mit hohen Flügelfenstern und hätte trotz der dunklen Möbel bei Sonnenschein sehr hell und behaglich wirken können. Da es draußen jedoch diesig, grau und ungemütlich feucht war, konnte man sich nur mit viel Fantasie eine solch freundliche Atmosphäre vorstellen. Jens Kessler hatte sich vor dem wuchtigen Schreibtisch neben Rita auf einen der Stühle gesetzt, die vermutlich sonst immer für gramgebeutelte Eltern hoffnungsloser Teenager gedacht waren, deren letzte Möglichkeit, das Ruder noch einmal herumzureißen, ein überteuertes Internat war. Man konnte förmlich ein Gemisch aus Verzweiflung, Angst, Renitenz, Lipgloss und Kaugummi riechen. Nachdenklich beobachtete er Frau Direktorin Melanie Mayr, die sich gerade die Augen tupfen musste. Zu hart waren die Erkenntnis und die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer vom Deutschen Museum um ihren vielgeschätzten Kollegen und Mitarbeiter handelte. Nachdem sie sich anschließend die Nase mit elefantengleichen Tönen geputzt hatte, war sie halbwegs in der Lage, wieder zu sprechen.

»Das …« Ein großer, feuchter Seufzer legte sich dazwischen, als sie wieder auf das Foto vor sich sah. »Das … Ich weiß nicht, aber er könnte es sein. Claus Hahne, unser Sport- und Lateinlehrer. Ungemein beliebt bei den Kindern und Kollegen. Seit den Sommerferien war er der Vertrauenslehrer. Auch hier hat er trotz der kurzen Zeit Großes vollbracht. Wie also? Wie ist es möglich, dass ausgerechnet er …? Oh, mein Gott. Entschuldigen Sie bitte, aber ich kann es einfach nicht fassen … Sind Sie denn sicher? Ist er es wirklich? Wer hat denn mit sowas rechnen können?! Warum er? Ich kann mir … Er war so ein guter Mensch, war so … Sie verstehen …«

»Aber natürlich verstehen wir, Frau Mayr«, dämpfte Rita ihre Stimme sofort auf den Sanft- und Einfühlsam-Modus. »Doch leider können wir dank Ihrer Sekretärin, die zwar etwas SEHR spät das Foto in der Zeitung gesehen hat …«

»Es war der Wasserschaden!«, verteidigte sich die Rektorin schluchzend. »Wir … Wir hatten alle Hände voll zu tun seit Montag. Der Westflügel! Verstehen Sie? Wir mussten den evakuieren. Die Kinder umsiedeln und die Eltern beruhigen. Das Haus ist voller Handwerker, überall Baustelle, Lärm und Dreck! Es tut mir so leid, dass wir deswegen überhaupt nichts mitbekommen haben … Ich weiß gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Oh Gott – Der Kopf! Sein Kopf – Ohhh, es ist so schrecklich!«

»Jetzt mal ganz ruhig. Das ist doch nicht so wild! Wie ich bereits gesagt habe, glücklicherweise war ja Ihre Sekretärin aufmerksam genug, uns zu informieren. Dank ihres Hinweises konnten wir gleich handeln. Die eingeleitete zahnärztliche Überprüfung und Ihre Identifizierung liefern uns die letzten Beweise: Herr Hahne ist definitiv unser bedauerliches Opfer.«

»Identifizierung? Aber ich kann doch gar nicht sagen, ob er das wirklich ist. Vielleicht haben Sie sich ja doch geirrt … Ich meine, man erkennt ihn doch fast gar nicht! Er … Er sieht so anders, so fremd aus«, versuchte die Rektorin ihren Schock zu verarbeiten und klammerte sich an ein letztes bisschen Hoffnung.

»Äh, tja, das liegt wohl daran, dass wir auf die Schnelle nur diese Aufnahme hier hatten«, erklärte Rita bedauernd. »Tut mir Leid, aber wir konnten noch keine anschauliche Rekonstruktion machen und so. Da sieht man mal wieder, wie sehr sich das Bild eines Menschen ändert, wenn er so verstümmelt ist. Äh, also, so ohne Körper und halt keine Augen mehr …«

»Seine … seine wunderschönen blauen Augen!«, heulte die Internatsleiterin gleich weiter. »Auuuuusgestochen!?«

Rita war aufgesprungen, um den Schreibtisch geeilt und strich der erschütterten Frau über den Rücken, während Jens Kessler ihren Anblick einfach nicht mehr länger ertrug und ebenfalls aufstand, um so schnell wie möglich Abstand zu diesem Springbrunnen an Emotionen zu bekommen. Die Bewegung tat ihm gut. Der Raum war glücklicherweise auch groß genug, sodass er seine Schritte die Wand entlanglenkte, an den Aktenschränken vorbei. Vor einer Glasvitrine blieb er stehen. Dort sah er ein paar ausgestopfte Vögel, sowie ein marderähnliches Tier, das ihn aus starren Glasaugen vorwurfsvoll-böse anfunkelte. Einige zerzauste Federn lagen verstreut zwischen verschiedenen Knochen. Drei bleiche Schädel mit höhnisch gebleckten Gebissen befanden sich links vor mehreren, mit Nadeln aufgespießten und schon leicht angestaubten, Schmetterlingen. Der Hintergrund wurde von einigen Gläsern abgerundet, in denen eingelegte Amphibien bleich und wächsern in ihrer Brühe schwebten. Das Gruselkabinett eines verrückten Naturwissenschaftlers, schoss es ihm durch den Kopf. Ekelhaft!

»Sie sind für die Biologie zuständig?«, fragte er barsch und da der Ton bekanntlich die Musik macht, war es nicht weiter verwunderlich, dass Frau Direktorin Mayr erst einmal zusammenschrak, bevor sie überhaupt begriff, dass er mit ihr gesprochen hatte.

»Äh, nein, eigentlich nicht. Das hier sind nur die Exponate von meiner … äh, meinem …«

»Versuch es mal mit Geschäftspartnerin und Schwägerin!«, rief jemand klar und gleichzeitig vorwurfsvoll durch den Raum. Jens Kessler drehte sich verwundert zur Tür, durch die eine Frau mit flammendrotem Bubikopf und raschen energischen Schritten auf ihn zukam.

»Das verdrängt sie manchmal gerne. Aber ist es denn meine Schuld, wenn sie nicht wirtschaften kann und mein Bruder testamentarisch verfügt hat, dass ich ihr zur Seite stehe und daher seit einem Jahr auf die Finger schauen muss?«, raunte sie ihm verschwörerisch zu, als sie vor ihm stand. »Die gute Melli hat wohl vergessen mich zu erwähnen, nehme ich mal an.«

Böse blickte sie zu dem Schreibtisch, hinter dem die gute aber so vergessliche Melli saß und ein frisches Papiertaschentuch von Rita entgegennahm.

»Verzeihen Sie bitte meine Verspätung, aber man hat mich eben erst davon unterrichtet, dass Sie hier sind. Es geht also um unseren Claus?! Tja, was soll ich dazu sagen? Das ist wirklich schrecklich, was mit ihm passiert sein soll. Vermutlich möchten Sie jetzt gerne wissen, was für ein Mensch er ist – äh – war. Nun, ich für meinen Teil würde ihn als einen rechten Treibauf bezeichnen. Ferner und trotz seiner nicht mehr ganz so jungen Jahre ein unverbesserlicher Hallodri. Naja, für einen Mann spielt das Alter ja bekanntlich keine so große Rolle, nicht wahr?! Er sah auch ganz gut aus, wenn man auf so einen Stenz steht. Zumindest war er sehr erfolgreich in den Disziplinen schlaflose Nächte und gebrochene Herzen.«

Wider Erwarten musste sie lächeln, was vermutlich hauptsächlich auf Jens Kesslers verwirrten Gesichtsausdruck zurückzuführen war, den einerseits ihre Direktheit verblüffte, anderseits aber auch die Begriffe, mit denen sie den Kollegen gerade beschrieben hatte, offenbar nicht viel sagten.

»Ich meine damit, dass er immer auf Achse war, nichts anbrennen ließ und dabei viel zu viel Wert auf sein Äußeres legte – also, geschleckt vom Scheitel bis zur Sohle. Halt so ein Pullover-lässig-über-die-Schulter-Typ. Er war immer braungebrannt und sehr durchtrainiert und hielt sich für unwiderstehlich«, dolmetschte sie zuvorkommend.

»Soso«, sagte Jens. »Ein gepflegter Casanova würd ich es jetzt mal so ad hoc übersetzen. Hm, da ist natürlich dieser Ort hier, wo fast nur weibliches Personal und junge Mädchen sind, ein gutes Jagdrevier, Frau …?«

»Dr. Tanja Beck«, stellte sie sich nachträglich vor. »Und fürs Protokoll, auch mein verstorbener Gatte war hier als Lehrer tätig. Claus Hahne hat quasi seine Nachfolge angetreten. Melli und ich sind also auch durch unseren Witwenstatus miteinander verbunden, obwohl mein Hans-Jürgen nicht so ein toller Mann wie mein Bruder gewesen ist – einer, der mir nach seinem Tod ein beträchtliches Erbe in Form dieser Privatschule hinterlassen hätte, versteht sich natürlich.«

Ihr Mund verzog sich bitter. Die Erinnerung an die Toten – ob gut oder schlecht – war wohl etwas zu viel gewesen. Jens Kessler beobachtete sie misstrauisch. Würde sie jetzt auch auf die emotionale Schiene wechseln?

»Hauptberuflich bin ich die Biologielehrerin«, hatte sie sich zum Glück wieder in Griff. »Wobei diese traurigen Ausstellungsstücke hier in der Vitrine noch von meinem Vater stammen. Ich konnte sie nicht entsorgen. Dazu bin ich einfach zu nostalgisch und gleichzeitig zu faul. Der Iltis hier ist mein ganz besonderer Liebling. Er hat so einen fiesen Gesichtsausdruck, finden Sie nicht?!«

»Naja, den hätten Sie vermutlich auch, wenn Sie wie er unter Fellräude leiden würden«, bemerkte er trocken und Frau Dr. Beck lachte gleich laut, schrill und etwas zu gekünstelt auf.

»Außerdem unterrichte ich noch Chemie und Physik«, fügte sie an, als sie sah, dass ihm nicht nach weiterführenden Scherzen zumute war. »Ich bin sozusagen der Naturfreak des Kollegiums und wie bereits schon erwähnt die zweite Leiterin der Anstalt für besonders gehobene Ansprüche in aussichtslosen Fällen.«

Jens Kessler nickte, aber er merkte gleich, dass sie immer noch nicht fertig war. Irgendwie schien sie noch etwas auf dem Herzen zu haben.

»Hm, was jetzt Claus betrifft. Ich hoffe, Sie haben mich da nicht falsch verstanden. Ich wollte ihn nicht ganz so … Nun, wie soll ich sagen? Also nicht ganz so negativ und eindimensional darstellen. Für sein Aussehen konnte er ja nichts. Wenn man also dafür unempfänglich ist – so wie ich – dann war er wirklich ein ganz feiner Mensch, ein guter Kumpel, einer, der loyal und zuverlässig zu seinen Kollegen und zum Internat stand. Nur die kleine Tatsache, dass er bei mehr als nur einer Dame hier einen Stein im Brett hatte, wollte ich Ihnen nicht vorenthalten – nicht wahr, Melli?«

Die Gefragte nickte nur und versuchte dabei tapfer ihr Schluchzen auf Zimmerlautstärke zu halten.

»Aber … «, knüpfte Rita, der es neben der Heulsuse jetzt langsam sichtlich zu feucht wurde, schnell an. »Aber warum wurde er denn dann nicht schon früher als vermisst gemeldet? Ich meine, in Hinblick darauf, dass ihn hier alle so lieb gehabt haben und mit der Katastrophe im Westflügel, muss es doch aufgefallen sein, dass er nicht anwesend war. Weder im Unterricht noch beim Evakuieren!? Wieso also mussten wir so lange warten?«

»Oh, das ist schnell erklärt«, entgegnete Frau Dr. Beck. »Claus hatte sich, ganz plötzlich und noch dazu eine Woche vor Herbstferienbeginn – also vom vergangenen Dienstag an – frei genommen, was schon ein bisschen ärgerlich war, weil wir auf die Schnelle eine Vertretung finden mussten. Hm, angeblich hatte er familiäre Probleme, wobei ich glaube, dass er eher einer gewissen Dame nachgereist ist, die sich seit über vier Monaten nicht mehr in unserem Kollegium befindet und …«

»Ja spinnst du denn jetzt völlig?«, weinte Frau Direktor Mayr laut dazwischen. »Was erzählst du da für einen Blödsinn? Nur weil du nie bei ihm landen konntest, brauchst du jetzt nicht gegen ihn zu hetzen und ihn mit Schmutz zu bewerfen! Er ist ihr ganz bestimmt nicht nachgereist. Das hatte er doch gar nicht nötig. Außerdem waren die beiden nur Freunde und nicht mehr. Das weißt du ganz genau!«

»Von wem sprechen Sie gerade?«, spielte Jens der Unterbrochenen den Ball wieder zu, doch diese schüttelte nur leicht den Kopf. Hatte sie tatsächlich zu viel gesagt, oder war ihr aufgegangen, dass ihre Schwägerin Recht hatte, und sie jetzt wirklich über das Ziel hinausgeschossen war?

»Wohin wollte er denn fahren?«, griff Rita nach dem fallen gelassenen Faden und brachte das Gespräch wieder in Gang.

»Das hat er nicht gesagt«, kam eine pampige und sehr verrotzte Antwort von Direktorin Mayr. »So etwas geht uns auch nichts an. Ich habe ihm frei gegeben und damit hatte es sich auch … Oh Gott – NEIN, hätte ich doch nur …«

»Mensch Melli! Jetzt reiß dich mal zusammen!«, wies Tanja Beck sie zurecht, doch weil das nicht viel nützte, blieb ihr nichts anderes übrig, als nun ihrerseits zu ihrer Schwägerin zu gehen und mit halbherzigem Schultertätscheln zu versuchen, deren Tränenflut einzudämmen.

»Haben Sie irgendwelche Adressen? Also die von seiner Familie mit dem angeblichen Problem?«, bohrte Jens Kessler weiter, aber er sollte darauf keine Antwort mehr bekommen, denn die Tür wurde aufgerissen und eine kleine, runde und vor allem atemlose Frau stürzte in den Raum.

»Die Elektriker sind da!«, platzte sie auch gleich heraus. »Wo sollen die denn jetzt anfangen? Außerdem hat die Firma Bockinger die neuen Maschinen zum Trocknen an der falschen Wand aufgestellt, sagt der Handwerksmeister Schüssler. Jetzt haben sie sich deswegen in der Wolle. Auch ist Kollege Renner im Büro. Er hat vorhin die Hübner Isolde und die Stoppelberg Hanna beim Rauchen erwischt. Das ist schon das vierte Mal seit Schulbeginn, sagt er und er möchte, dass Sie sich der Sache persönlich annehmen. Die Mädchen sind natürlich auch da. Und was soll ich mit unserer Steuerberaterin auf Leitung drei machen? Sie besteht auf höchste Dringlichkeitsstufe! Kann ich die jetzt durchstellen? Ich …«

»Ja ist denn das die Möglichkeit!?«, donnerte Jens Kessler in gerechtem Zorn ob dieser impertinenten Störung seiner wichtigen Arbeit durch Belanglosigkeiten. »Was erlauben Sie sich eigentlich? Wie können Sie es wagen, hier einfach hereinzuplatzen und uns zu unterbrechen, ohne die Höflichkeit zu besitzen, wenigstens vorher anzuklopfen und dann …«

Das erschrockene Aufquieken der Frau unterbrach in seiner schrillen Intensität Kesslers Standpauke, brachte ihn aus dem Konzept und verhedderte seine Gedanken und Worte. Das wiederum gab Rita die Möglichkeit, sich einzumischen und sofort alles an sich zu reißen.

»Mein Partner hat vollkommen Recht! So geht das wirklich nicht!«, begann sie ihre Kompetenz und Autorität strahlen zu lassen. »Jetzt aber alle mal aufgepasst! Wir sind hier schließlich nicht zum Vergnügen. Da draußen läuft ein Serienkiller frei herum und wir erwarten deshalb endlich Kooperation von Ihnen. Was heißt, dass Sie uns jetzt alles, aber auch wirklich alles über Claus Hahne erzählen werden. Jeder Hinweis ist wichtig, auch wenn er Ihnen noch so unbedeutend erscheinen mag. Was derweil im restlichen Internat passiert, wer mit wem und wo im Klinsch liegt, wer in der Leitung wartet und wer raucht, ist uns scheißegal. Ich gehe davon aus, dass diese Dame hier Ihre Sekretärin ist, Frau Direktor!? In Ordnung, da sie schon einmal hier ist, kann sie auch gleich bleiben!«

»Aber …«, versuchte die kleine, runde Frau einen Einspruch.

»Nix aber! Nehmen Sie sich gefälligst einen Stuhl und setzen Sie sich! Ihr Name war doch Annegret Meier mit EI, nicht wahr? Gut, dann mal los! Nasen geputzt und angefangen, meine Damen. Ich möchte jetzt sofort wissen, wie lange Herr Hahne hier schon gearbeitet hat, wo er vorher war, mit wem er Kontakt hatte, wie seine Freizeitgestaltung war, seine Familienverhältnisse, seine Vorlieben und Abneigungen. Alles, hören Sie? Einfach alles! Selbst wie oft er aufs Klo ging und was seine Lieblingsfarbe und seine Schuhgröße waren, ist für mich interessant.«

Jens Kesslers Mundwinkel machten einen abweisenden Bogen nach unten, während er zusah, wie Rita, einer Zirkus-Dompteurin gleich, die drei Frauen zur Ruhe, Konzentration und auf ihre Plätze zwang.

»War er verheiratet?«

»Äh, ja. Aber er ist schon seit einer Ewigkeit geschieden.«

Er bohrte seinen Blick in die unverschämte Sekretärin, die für ihn mittlerweile als Sinnbild aller Stolpersteine in dieser unsäglichen Untersuchung stand. Wie die schon dasaß: verkrampft auf der Stuhlkante, sprung- und fluchtbereit. Was hatte sie zu verbergen? Warum schielte sie immer wieder zu der offen stehenden Tür? Was gab es denn da draußen Wichtigeres als seinen Fall?

»Die Alimente, die er dieser Hexe bezahlen musste, haben ihm fast das Genick gebrochen.«

Jens Kessler ging jetzt kurzentschlossen selbst zur Tür. Im Vorraum saß ein hagerer Mann mit Brille auf der spitzen Nase, der resigniert zwei bockig dreinblickende Mädchen um die sechzehn im Auge behielt.

»Aber das hat ihn nicht runtergezogen. Im Gegenteil. Er war ein solcher Optimist, ein Steh-auf-Männchen – immer fröhlich und guter Dinge. Er hat auch so viel für die Schule getan, hat unsere Krocket- und Polo-Teams ganz nach oben gepuscht. Selbst vor exotischen Kursen wie Rhönradturnen, Lacrosse oder Limbo hat er nicht halt gemacht. Er liebte die Herausforderung und für ihn war es immer das Schönste, wenn die Kinder Spaß an der Bewegung hatten …«

Jetzt hatte der Lehrer ihn endlich bemerkt. Auch die beiden Mädchen schauten neugierig zu Jens Kessler hinüber, stießen sich mit den Ellbogen an und kicherten.

»Und er war auch so ein fantastischer Lateinlehrer. Er hat dieser Sprache das sprichwörtliche Leben eingehaucht. Da sind praktisch alle seine Schülerinnen wahre Streber geworden. Selbst die hoffnungslosesten Fälle schienen plötzlich zu wissen, was ein Ablativ ist. Oh Gott, und das Weihnachtsstück, das er letztes Jahr mit ihnen aufgeführt hat, war so schön! Erinnert ihr euch noch?«

Mit einem lauten Knall schlug Jens Kessler diese schöne weihnachtliche Erinnerung k.o. und die Tür ins Schloss, drehte sich auch gleich dem Damenkränzchen wieder zu und bemerkte mit Genugtuung, dass zumindest die Schwägerinnen ihm erschrocken entgegensahen. Das hatten sie nun davon, ihn mit ihrem endlosen Geplapper – diesem belanglosen, unerträglichen Gewäsch ohne Inhalt – zu langweilen.

»Gut und danke!«, blaffte er auch gleich los. »Ich bin im Bilde. Er war ein großartiger Kerl, mit einem Talent für Theaterinszenierungen. Ausnahmslos alle Herzen sind ihm deswegen zugeflogen. Das von Ihnen, Frau Direktor, und natürlich auch das von Ihrer Schwägerin, selbst wenn sie es nicht zugeben will! Aber wie steht es denn mit Ihnen, Frau Meier mit EI? Sie haben sich ja noch gar nicht geäußert! Soll ich raten, oder möchten Sie es selbst erzählen? In Ordnung, Ihr Blick sagt mir alles. Dann beginne ich also. Ich sehe es ganz genau vor mir! Schlaflose Nächte – Foto in der Schublade – abgerissene Blütenblätter nach dem Motto Er-liebt-mich-er-liebt-mich-nicht, kleine Briefchen, die Sie ihm zustecken wollten?!«

»Ich muss doch sehr bitten! Ich bin eine glücklich verheiratete Frau! Ich …«, empörte sich die Beschuldigte.

»Wissen Sie was?«, er war jetzt genau vor ihrem Stuhl stehen geblieben, fixierte sie einen Augenblick scharf und nickte dann. »Ich glaube Ihnen sogar. Glücklich verheiratet und gleichzeitig absolut abgebrüht. Das nenn ich mal eine schöne Mischung. Sie sind ein gut arbeitendes Zahnrädchen, das weiß, wenn etwas keinen Sinn mehr hat. Warum auch Rotz und Wasser heulen? Sie haben ihre Pflicht erfüllt. Sie haben uns informiert und sind dann gleich wieder zur Tagesordnung übergegangen. Wirklich erstaunlich, wie gut Sie Ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Ich kann tatsächlich bei Ihnen keine Spur von Erschütterung, keine Trauer, keinen Schock erkennen.«

»Jens!«, versuchte Rita ihn zu bremsen, doch er geriet gerade erst in Fahrt.

»Möchten Sie vielleicht doch ein Taschentuch?«, fragte er boshaft. »Wir können es vorher anfeuchten, damit Sie endlich glaubhaft wirken!«

»JENS!«

»Sie sind so ein niederträchtiger Mensch!«, schrie jetzt Annegret Meier, sprang auf und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Dann starrte sie ihn einige Sekunden an, bevor sich die Schleuse öffnete und die, von ihm so vermissten, Tränen Sturzbächen gleich flossen. Ehe er aber irgendetwas erwidern konnte, war sie auch schon aus dem Büro gerannt.

»Ist alles in Ordnung? Anne? Wo willst du denn hin?«, hörte man es erschrocken von draußen.

Jens Kessler rieb sich geistesabwesend die Wange und ignorierte dabei die vorwurfsvollen Blicke, die ihm von den zurückgebliebenen Frauen zugeworfen wurden.

»Tja«, meinte er dann. »Dass es so heftig werden würde, hätte ich jetzt nicht gedacht. Na, auch egal. Machen wir mal weiter. Unser Opfer – nach Ihren Aussagen zu folgern – war also ein begnadeter Pädagoge und ein wahrer Sonnenschein. Aber wir wissen ja alle: da wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten! Also, bringen wir es mal auf den Punkt. Hatte er Feinde? Jemanden der eifersüchtig, neidisch oder missgünstig war? Wie sah es mit den Vätern aus? Denen musste er doch ein Dorn im Auge gewesen sein, wenn man bedenkt, dass Töchter und Mütter kollektiv ins Schwärmen geraten sind, wann immer er auftauchte?«

Mit großen bestürzten Augen sah ihn Direktorin Mayr an.

»Nun, das ist wohl ein ›Ja‹, nehme ich an!«, interpretierte er ihren Blick zu seinen Gunsten.

»Äh – nein!«, rief sie entgeistert. »Natürlich nicht! Da gibt es niemanden!«

»Das können Sie mir nicht erzählen!«, entgegnete er kalt. »Denken Sie noch einmal gründlich nach. Gehen Sie in sich! Überlegen Sie bitte ganz genau. Sie auch Frau Dr. Beck! Irgendjemand? Der Hausmeister? Der Elternbeirat? Der Kultusminister? Ein Kollege?«

Er schob jetzt die Hände in die Hosentaschen, strahlte damit überlegene Lässigkeit aus, wusste genau, wie einschüchternd diese maskulin-forsche Pose sofort wirkte, und ließ sich sogar dazu herab, die Lippen zu einem süffisanten Lächeln zu verziehen.

»Nun, tja … Vielleicht …«, stotterte die Direktorin. »Vielleicht meinen Sie die kleine Auseinandersetzung mit dem Onkel von einer unserer Neuen, der Isolde. Aber das war jetzt keine so große Sache.«

»Ich bin ganz Ohr!«, sagte er und schlenderte um den Schreibtisch herum, sodass sie gezwungen war, mit dem Kopf ängstlich seinen Bewegungen zu folgen.

»Äh, wenn ich es noch zusammenkriege. Also, es ging hauptsächlich um die Erziehungsmethode von Claus. Er hat immer das Gute in seinen Schutzbefohlenen gesehen und wollte mit positiven Schwingungen arbeiten. Tja, und dieser Onkel war offenbar anderer Meinung. Er sah seine Nichte als das berühmte schwarze Schaf der Familie und wollte, dass man sie mit mehr Strenge züchtigt. Ich glaube, ›züchtigen‹ hat der tatsächlich in dem Zusammenhang gesagt. Nun, damit ist ja schon klar, dass Claus dagegen Einspruch erheben musste. Und dabei hat er eigentlich nur im Sinne unseres Erziehungskonzepts gehandelt. Wir wenden gerade bei solchen Härtefällen wie dieser Schülerin andere, menschlichere und pädagogische Methoden an.«

»Aha!«

Zu schnell hatte er sich zu ihr runtergebeugt und den Arm auf die Rückenlehne ihres Bürosessels gelegt. Zu nah war er plötzlich und ohne Erlaubnis in Ihre Privatsphäre eingedrungen, sodass sie zusammenschrak und am liebsten aufgesprungen wäre – fort von ihm, hinaus aus dem Bereich seiner unangenehm gefährlichen Aura.

»Und dann ist es zum Eklat gekommen«, flüsterte er ihr ins Ohr und setzte wieder sein Raubtier-Lächeln auf.

»Wieso? Äh, nein, natürlich nicht!«, dementierte sie mit schriller Stimme und rückte an den äußersten Rand ihres Sessels.

»Glauben Sie etwa, dass die beiden sich an die Gurgel gegangen sind und gegenseitig Morddrohungen ausgestoßen haben oder so?«, kam endlich Dr. Tanja Beck ihrer Schwägerin zu Hilfe. »Tja, da müssen wir Sie leider enttäuschen. Ich selbst war damals dabei. Es blieb bei einem Disput, obwohl ich zugeben muss, dass dieser etwas lautstark ablief. Doch solche Szenen passieren immer mal wieder, wenn die Kinder frisch bei uns sind. Da kommen die Verwandten und denken sie zahlen genug Geld und hätten damit ein Recht, sich in unser Konzept einzumischen. Das hat über die Jahre hinweg jeden vom Lehrpersonal getroffen und bei Claus war das eben zu Schuljahresbeginn der Fall. Also eigentlich haben wir hier eher eine alltägliche Geschichte und ich kann Sie beruhigen, die beiden haben sich meines Wissens nach dann auch wieder vertragen.«

»Nun, da muss ich Ihnen das wohl jetzt mal so glauben, oder?«, lenkte Jens Kessler mit einem bedauernden Blick auf die zitternde Direktorin ein. Dann ließ er endgültig von ihr ab, stellte sich vor des Fenster, um mit betont gelangweiltem Blick nach draußen schauend zu verkünden: »Trotzdem würde ich gerne mit diesem Onkel sprechen. Hätten Sie vielleicht eine Adresse?«

»Ähm, eigentlich nicht. Er ist ja kein Vater. Wir haben nur die Anschrift der Eltern. Obwohl – hat Annegret denn nicht vorhin gesagt, dass Isolde – also das besagte Mädchen, um das es damals ging – heute beim Rauchen erwischt wurde? Man kann sie also gleich fragen. Moment ich sehe mal nach ihr …«

Es war klar, dass Frau Dr. Beck nur zu gerne diese Aufgabe übernahm. Auch sie hatte mittlerweile den nachvollziehbaren Wunsch, so schnell wie möglich aus diesem Büro hinauszukommen. Jens Kessler ließ sie ziehen. Er interessierte sich nicht weiter für sie. Seine Aufmerksamkeit war plötzlich auf etwas ganz anderes gerichtet.

»Frau Direktor?«, fragte er gleich. »Wem gehört dieser graue PKW, aus dem gerade zwei – nein – drei Herren – Nein, doch zwei Herren und eine Dame steigen?«

Da Melanie Mayr jeglicher Energie durch die Befragung beraubt worden war, übernahm Rita für sie, trat neben ihren Partner ans Fenster, spähte neugierig auf den Parkplatz und erklärte gleich.

»Das ist der Hauptkommissar Peter Stock. Der ist vermutlich auch gekommen, um sich ein paar Fragen beantworten zu lassen.«

»Rita!«, knurrte Jens Kessler gleich. »Was soll dann das bedeuten? Kannst du nicht einmal was richtig machen? Shit! Ich wollte, dass du mir den Kerl vom Leibe hältst und nicht hierherholst! Der bringt doch nur alles durcheinander.«

»Hej, jetzt mach mal halblang! Ich habe den nicht bestellt. Außerdem habe ich ja wohl wichtigere Aufgaben zu erledigen, als die ganze Zeit darauf zu achten, dass du – oh großer Meister – nicht vom Fußvolk belästigt wirst! Ich …«

»Schon gut, schon gut!«, schnitt er ihr das Wort ab. »Ist sowieso nicht mehr zu ändern. Ich würde es aber dennoch begrüßen, wenn du diese Truppe da mal abfängst. Geh hin, sei nett und freundlich und gib ihm von mir aus ein kleines Stück vom Kuchen ab, aber teile ihn und seine Leute so ein, dass sie mir nicht in die Quere kommen. Ich gehe inzwischen mal raus in den Park und schnapp ein bisschen frische Luft.«

Rita hatte gar keine Möglichkeit irgendetwas zu erwidern. Zu schnell hatte er seinen Mantel gepackt und war mit raschen Schritten durch die immer noch offen stehende Bürotür verschwunden. Beim Durchqueren des angrenzenden Raums bemerkte er weder Frau Dr. Beck, die mit den Mädchen sprach, noch den Lehrer, der eine schluchzende Sekretärin im Arm hielt. Zu konzentriert war Jens Kessler damit beschäftigt, nach seiner halb vollen Schachtel Zigaretten zu suchen.

Der Henker von Bad Berging

Подняться наверх