Читать книгу triste - Katrin Sell - Страница 9
Anblicke
ОглавлениеJetzt kennt sie niemand mehr, die Witwe, die alles verloren hat und seitdem
durch einsame Häuser geht. Es umkreist sie ein feindliches Regiment,
wenn sie die Stadt verlässt zum Erkundungsgang der Dinge, die es nicht
mehr gibt. Ihr bloßes Haar ist offen, mit den Fingern immer suchend,
streift sie durch Moore, in unpassenden Schuhen und aufgeschreckt
von den Nesseln in der eigenen Brust. Hunde hat sie auch und ein
verteufeltes Wesen, weswegen sie auf harten Böden überleben konnte.
Tagelang musste sie zwischen Trümmern und abgebrochenen Bäumen frühstücken,
denn Kriege kamen; und die Straßen voller Mörder und kranker Soldaten,
ja, und wie sie dalagen, erschöpfte Körper und Augen und manchmal
auch ein Verlöschen in einer Straßenecke und keine Verschwendung mehr
an Licht. In jenen Tagen hatte sie ein zweites Antlitz bekommen,
weil sie überlebte, und konnte Meteore sehen und schien in Ewigkeit erhalten
zu bleiben, mit überirdischen Pulsschlägen.
In ihrer Zeit sprach man von gewissen Tugenden, die man sich
erhalten sollte, und jedes Leben war Mühsal, in Uniformen
und Schürzen gezwängt.
Sie spielt auf ihrer schlecht gestimmten Geige, auch heute,
und versteckt sich wie eine bucklige Katze bei Gefahr.
Wenn man jetzt schriebe, sie kann auch verfluchen und segnen mit ihrem
struppigen Haar und den Klauenhänden, so wäre das nicht verwunderlich.
Sie ist ein Mensch, bekannt mit vielem. Denn man könnte auch schreiben,
dass sie als freundliche Tante einmal Kekse vorholte, Waffenröcke zerschnitt
und das nicht allzu ferne Frankreich sah.
Doch auch sie ist nicht ewig: Die Moore sind vertrocknet und Drohnen
rasen durch Landschaften, nicht vom Tod beschämt.