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Geschichte hinter den Geschichten

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So sagenhaft die im Nibelungenlied dargestellten Personen und Ereignisse anmuten, steckt in ihnen doch ein historischer Kern. Die zentralen Erzählmotive reichen zurück in die Völkerwanderungszeit. Wenden wir unsere Betrachtung zunächst den legendären Burgunderkönigen und ihrem Hof in Worms zu. Erstmals fassbar werden die historischen Burgunder in dem Stammesnamen Burgundionen um die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in der Historia Naturalis Plinius ’ des Älteren (23/24–79), der sie den ostgermanischen Vandalen zurechnet (4,98: „Vandalii quorum pars Burgundiones …“).14 Ihr Siedlungsraum ist zu dieser Zeit das Mündungsgebiet zwischen Oder und Weichsel. Tacitus nennt sie in seiner berühmten, um 100 n. Chr. entstandenen Germania hingegen nicht. Erst im 2. Jahrhundert tauchen sie im Werk des Geographen Ptolemaios (um 100 – um 160) erneut auf. Die ältere Forschung ging davon aus, dass die Burgunder, wie andere der sogenannten ostgermanischen Stämme, ursprünglich aus Skandinavien stammten. Angelsächsische Quellen des 9. Jahrhunderts beschreiben die heute dänische Ostseeinsel Bornholm als „Burgonderland“ und angebliche Heimat der Burgunder. Heute schließt man südskandinavische Ursprünge nicht grundsätzlich aus, verweist aber auf den Mangel entsprechender Belege.15 Fest steht hingegen, dass im 3. Jahrhundert die Wanderung der Burgunder in Richtung Süden einsetzte. Im Jahre 278 lässt sich ihre Anwesenheit zunächst in Raetien nachweisen, wo sie dem Bericht des Zosimos zufolge mit anderen germanischen Stämmen durch Kaiser Probus (276–282) am Lech geschlagen wurden. Im Laufe des 4. Jahrhunderts wanderten die Burgunder weiter gen Westen an den oberen Main. Die römischen Geschichtsschreiber bezeugen mehrfach ihren militärischen Einsatz an der Seite der Römer.16 Schließlich verdrängten sie die Alamannen aus dem nordwestlichen Teil ihres Siedlungsgebiets und stießen bis zum Rhein vor.

Hier nähern wir uns allmählich dem legendären Burgunderreich des Nibelungenliedes. Mit dem großen Vandalenzug des Jahres 406/407, in dem Vandalen, Sueben und Alanen sich auf den Weg zur Iberischen Halbinsel machten, setzten auch die Burgunder auf die linke Seite des Stromes nach Gallien über. Zur selben Zeit ließ sich Konstantin III. in Britannien zum weströmischen Kaiser ausrufen. Für seinen Heereszug auf den Kontinent versicherte sich der Usurpator vertraglich der Unterstützung der Burgunder und beauftragte sie mit der Sicherung der Rheingrenze. Das Unternehmen schlug fehl. Die Anhänger des Kaisers Honorius erwiesen sich als die Stärkeren. Im Jahre 411 wurde Konstantin III. in Arles hingerichtet. Doch ein neuer Usurpator stand in Gestalt des Jovinus schon bereit. Dem Bericht Olympiodors zufolge spielten die Burgunder unter Führung Gundahars eine aktive Rolle bei der Erhebung des Jovinus zum weströmischen Kaiser. Will man den Ausführungen des Geschichtsschreibers glauben, so fand die Kaiserproklamation an einem Ort namens Mundiacum statt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass es sich bei Mundiacum um eine Verschreibung des Wortes Mogontiacum handelt, der lateinischen Bezeichnung für Mainz am Rhein. Allerdings reicht diese Vermutung nicht aus, um das „Burgunderreich“ Gundahars geografisch eindeutig zu lokalisieren. Immerhin waren auch Alanen unter Führung des Goar bei dem Ereignis anwesend.17 Zudem bleibt dies die einzige Nennung eines Ortsnamens am Rhein in Verbindung mit den Burgundern. Wie schon Konstantin III., vermochte auch Jovinus die usurpierte Kaiserwürde nicht lange für sich zu behaupten. So schlossen die Burgunder im Jahre 413, der zu dieser Zeit häufig angewandten Praxis entsprechend, einen Bündnisvertrag (foedus) mit dem weströmischen Kaiser Honorius. Auf dieser Grundlage errichteten sie ihr erstes „Reich“ am Mittelrhein. Nichts ist über dessen Ausdehnung, geschweige denn dessen genaue Lage bekannt. Nirgends wird Worms als burgundische Hauptstadt erwähnt. Zeitgenössische Autoren bleiben in dieser Hinsicht mehr als vage. Der Chronik des Prosper Tiro zufolge erhielten die Burgunder einen Teil Galliens nahe des Rheins zur Ansiedlung (Chronik a. 413: „Burgundiones partem Galliae propinquam Rheno obtinuerunt.“). Neuere archäologische Befunde sprechen dafür, dass in den Limeskastellen am Mittelrhein zu dieser Zeit noch reguläre römische Grenztruppen untergebracht waren.18 Demnach muss sich das burgundische Siedlungsgebiet dahinter befunden haben.

Will man den Ausführungen des Orosius glauben, wurden die im Rheingebiet siedelnden Burgunder mehrheitlich zu katholischen Christen. Doch das erste „Burgunderreich“ am Rhein war zu kurzlebig, um archäologische Spuren zu hinterlassen. Der Burgunderkönig Gundahar trachtete nämlich schon bald danach, sein Reich auszudehnen. Deshalb stieß er mit seinen Kriegern nach Nordwesten in die römische Provinz Belgica vor. Dort wurden die Burgunder von dem weströmischen Heermeister Aëtius vernichtend geschlagen. Kurz darauf fielen dessen hunnische Verbündete über die Reste der burgundischen Truppen her. Nach dem Bericht des Prosper Tiro wurden bei diesem Angriff König Gundahar und viele Burgunder getötet. Auch wenn die von Hydiatus angeführte Zahl von 20.000 Gefallenen sicherlich viel zu hoch angesetzt ist, muss der Aderlass doch immens gewesen sein.19

Um 443 siedelte Aëtius die restlichen Burgunder in der Sapaudia, dem heutigen Savoyen, rund um den Genfer See an. Diese Ansiedlung markiert den Beginn des zweiten Burgunderreiches, dessen Bestand ebenfalls nur von kurzer Dauer sein sollte.20 Die sapaudischen Burgunder erwiesen sich als treue Föderaten des untergehenden römischen Imperiums. Im Jahre 451 sollten sie an der Seite ihres ehemaligen Gegners Aëtius gegen Attilas Hunnen auf den Katalaunischen Feldern kämpfen. In der Folgezeit gelang es den Burgunderkönigen, ihr savoyisches Siedlungsgebiet stromabwärts der Rhône entscheidend auszudehnen. In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts erstreckte sich ihr Einflussbereich in etwa auf jene Region, die bis heute den Namen „Burgund“ trägt. Lyon, damals Lugdunum genannt, wurde zur zweiten Hauptstadt des Burgunderreiches. Diese wurde im Jahre 534 durch die Expansion des merowingischen Frankenreiches in seinen Grundfesten erschüttert und von den mächtigeren Nachbarn aufgesogen. Viele Ereignisse dieser kurzen burgundischen Geschichte fanden ihren Widerhall im Nibelungenlied. Wie aber steht es mit dessen Hauptpersonen? Existieren historische Vorbilder für die legendären Burgunderkönige und ihre schöne Schwester Kriemhild, den Helden Siegfried, den finsteren Hagen von Tronje, den mächtigen Hunnenkönig Etzel und den wackeren Dietrich von Bern?

Im Hinblick auf die Burgunderkönige lässt sich die Frage einfach beantworten. Von König Gundahar, der die Geschicke des ersten Burgunderreiches am Rhein so glücklos leitete, war bereits die Rede. Er diente offenbar als Vorbild für den König Gunther des Nibelungenliedes. Auf die Spur seiner Brüder Giselher und Gernot wie auch auf deren Vater Dankrat führt die unter König Gundobad (um 480–516) begonnene Gesetzessammlung der sogenannten Lex Burgundionum.21 Sie nennt als Vorfahren des Gesetzgebers Gundobad neben Gundahar die Könige Gibica, Gundomar und Gislahar. Bis ins Spätmittelalter hinein heißt der Vater der Burgunderkönige nicht Dankrat, sondern Gibeche.22 Die Parallele zum Nibelungenlied ist in diesem Fall unübersehbar. Gislahar verweist recht eindeutig auf Giselher. Der Name Gundomar wird in seiner Übertragung ins Altnordische zu Guthorn, ins Deutsche zu Gernot. Die historischen Vorbilder für die legendären Könige des Nibelungenliedes sind demnach zumindest namentlich fassbar.

Anders gestaltet sich die Lage hinsichtlich des Helden Siegfried von Xanten und seines heimtückischen Widersachers Hagen von Tronje. Die Suche nach realen Gestalten hinter der Fiktion verliert sich in Spekulationen. Siegfried verschmilzt in der Interpretation einiger Wissenschaftler mit Arminius, der neuen Erkenntnissen der archäologischen Forschung zufolge im Jahre 9 nach Christus die Legionen des Varus in der Niewedder Senke bei Bramsche nördlich von Osnabrück vernichtend schlug. Arminius, der fälschlich auch immer noch „Hermann“ genannt wird, gehörte dem germanischen Stamm der Cherusker an. Wie viele Germanen hatte er im römischen Heer gedient und einige Stufen der Karriereleiter erklommen. Dabei hatte er sogar das römische Bürgerrecht erworben. Dies hinderte ihn freilich nicht daran, zurückgekehrt in seine Heimat den Widerstand eines Teiles der Germanenfürsten gegen die Römer zu organisieren. Wohl um 21 nach Christus wurde er im Zuge eines Aufstandes von seinen eigenen Verwandten ermordet. Nicht nur dies ist eine Parallele zum Schicksal Siegfrieds. Vielmehr findet die spätere Arminius-Überlieferung ihren Ausgangspunkt in Xanten.

Zu Hagens Herkunft gibt es unterschiedliche Theorien. Manche versuchen „Tronje“ aus der antiken Bezeichnung für Xanten zu rekonstruieren, das die Römer Colonia Ulpia Traiana nannten. Andere verorten seine Heimat im Unterelsass, im Hunsrück oder in Frankreich. Die schöne Kriemhild findet indes ihr historisches Pendent in der Germanin Hildico. In der Hochzeitsnacht mit dieser starb der Hunnenkönig Attila, der Etzel des Nibelungenliedes. Umgehend tauchten Gerüchte auf, Hildico habe ihren Angetrauten aus Rache für ihre im Kampf gegen die Hunnen gefallenen Verwandten ermordet. Im Laufe der Zeit hat sich das Motiv der germanischen Mörderin offenbar zur Schutzbedürftigen gewandelt, die mit Hilfe von Etzel den Mord an Siegfried an ihren Angehörigen rächt. Ein möglicher Grund für diese Umdeutung liegt in der Entwicklung des Etzelbildes, das offenbar nicht mit einem Meuchelmord durch eine Frau vereinbar war, einen Akt, der den gefürchteten Herrscher als Schwächling hätte erscheinen lassen.

Artus ohne Tafelrunde

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