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Eine Frage der Propaganda

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Exemplarisch lassen sich anhand dieser Entwicklung zwei Grundvoraussetzungen erkennen, um einen zu seiner eigenen Zeit wirkmächtigen Herrscher früher oder später in einen „legendären“ zu verwandeln. Dabei meint „legendär“ hier nicht „bedeutend“. Vielmehr charakterisiert der qualifizierende Zusatz im Rahmen des vorliegenden Buches solche Herrscher, für deren Bild in der Nachwelt bis in unsere Gegenwart hinein dem engeren Wortsinn gemäß „Legenden“ und „Fiktionen“ von maßgeblicher Bedeutung waren und sind. In keinem anderen Fall ist die Legendentradition dabei so motiv- und kontrastreich wie in dem Karls des Großen. Andere legendäre Herrscher des Mittelalters müssen sich mit deutlich weniger begnügen. Erste Bedingung zur Sicherung eines langlebigen, legendären Nachruhms ist eine erfolgreiche zeitgenössische „Propaganda“. Nicht allen mittelalterlichen Autoren war in dieser Hinsicht solches Glück beschieden wie Einhards Vita Karoli Magni. Das Mittelalter kannte noch keine Ermittlung von Verkaufszahlen, Literaturbesprechungen in Feuilletons oder gar Bestsellerlisten. Einen wichtigen Anhaltspunkt für den Verbreitungsgrad eines Werkes liefert die Zahl der heute hiervon erhaltenen Manuskripte. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass Bücher bis zu Johannes Gutenbergs bahnbrechender Erfindung des Druckens mit beweglichen Lettern zur Mitte des 15. Jahrhunderts mühsam von Hand abgeschrieben werden mussten. Nicht minder zeitraubend war die Herstellung des Beschreibstoffes, des Pergaments. Bücher waren entsprechend teuer, wahre Kostbarkeiten und nur für Wohlhabende erschwinglich. Hinzu kommt, dass eine unbekannte Zahl aller je gefertigten Kopien eines Werkes im Strudel der Zeiten verloren ging. Von Einhards Werk haben nicht weniger als 50 Handschriften die Jahrhunderte überdauert.9 Damit war die Vita Karoli Magni zweifelsfrei ein mittelalterlicher „Bestseller“. Noch weiter oben auf der Liste rangieren mit rund 150 Exemplaren die Werke des sogenannten Pseudo-Turpin, übertroffen von der sagenhaften „Geschichte der Briten“ (Historia Brittonum oder Historia Regum Brittaniae) des Geoffrey von Monmouth mit über 200 mittelalterlichen Abschriften.10 Bezeichnenderweise spielen beide eine gewichtige Rolle für die Etablierung legendärer Herrscher. Das um 1140 entstandene Werk Pseudo-Turpins berichtet glorifizierend von Karls Feldzug auf die Iberische Halbinsel im Jahre 778, dem Hinterhalt an dem Pyrenäenpass bei Roncesvalles und den damit verbundenen Heldentaten des Paladins Roland. Geoffrey von Monmouths Historia Brittonum, in den 1130er Jahren verfasst, prägte maßgeblich die Überlieferung um den sagenumwobenen König Artus.

Nicht zu verkennen sind die Umstände, unter denen ein solches Werk zum ersten Mal erscheint. Es kam Einhards Intention, Karls Taten vor dem Vergessen zu bewahren, zugute, dass er über den Tod des Herrschers hinaus am Hofe wirkte. So sicherte er die Memoria seines Königs in der Folgegeneration und legte zugleich einen Grundstein für die weitere Entwicklung. Auf einer zweiten Ebene der Propaganda wirkte neben der schriftlichen die mündliche Tradition, die weite Kreise der Bevölkerung erreichte und dort bisweilen ihre eigenen Wege nahm. Der Herrscher wird darin in gleichsam märchenhafter Weise verantwortlich für alle möglichen Ereignisse, die in der vor allem politisch motivierten Literatur keinen Platz gefunden haben. So war etwa Karl der Große dem Aachener Sagenschatz zufolge in den Zeiten des Schwarzen Todes (der allerdings erst zur Mitte des 14. Jahrhunderts, also mehr als 500 Jahre nach Karls Tod weite Teile der Welt heimsuchte!) Gründer des Leprosenhauses Melaten, auf dessen einstigem Grund heute das Aachener Klinikum steht.11 Die Sage vom Ring im Fisch, die unmittelbar mit dem karolingischen Herrschaftsanspruch verbunden ist und von Karls Stammvater Bischof Arnulf von Metz handelt, fand in einer Variation unter anderem Eingang in den westfälischen Sagenkreis – allerdings mit anderem Ausgang. Der gelehrte Langobarde Paulus Diaconus, der am Hof Karls des Großen wirkte und in dessen Auftrag die Taten der Metzer Bischöfe aufzeichnete, berichtet, der heilige Arnulf habe zum Zeichen der Buße seinen Ring in die Mosel geworfen. Er habe dabei um Vergebung für seine Sünden gebeten, wobei die selbstauferlegte Bedingung für die Absolution ein Wunder bedeutete. Arnulf erklärte nämlich, erst von aller Schuld gereinigt zu sein, wenn der Ring zu ihm zurückkehrte. Vier Jahre später fand Arnulfs Koch eben diesen Ring im Bauch eines Fisches, den er für seinen Herrn zubereiten wollte. Gott höchstselbst hatte Arnulf mit diesem Wunder seine Sünden vergeben und sein Geschlecht auserwählt.12 In der westfälischen Variante hingegen war es Übermut, der der sagenhaften Überlieferung zufolge die reiche Gräfin zu Nienburg dazu trieb, ihren Ring in den Schlossgraben zu werfen. Dabei sprach sie: „So unmöglich es ist, dass ich diesen Ring wiedererhalte, so unmöglich ist es, dass ich jemals arm werde.“13 In diesem Fall dauerte es nicht Jahre, sondern nur ein paar Stunden bis der Koch den Ring im Bauch des von ihm für das gräfliche Mahl zubereiteten Fisches wiederentdeckte. Die Strafe für die Vermessenheit ließ nicht auf sich warten. Binnen eines Jahres war die Gräfin bettelarm.

Nicht nur positive, auch negative zeitgenössische Propaganda kann einem Herrscher dauer- und in diesem Fall zweifelhaften, legendären Nachruhm sichern. Die hieraus resultierenden Legenden scheinen ein noch stärkeres Eigenleben zu entwickeln als im Falle positiver Herrschaftsbewertungen. Hierfür stehen beispielhaft der „Hunnenkönig“ Attila oder der walachische Fürst Vlad Tepes, genannt „der Pfähler“, der aufgrund der ihm zugeschriebenen Gräueltaten untrennbar mit den Vampirlegenden des Balkans verbunden ist. Er wurde zum Vorbild für Bram Stokers 1897 in London erstmals erschienen, berühmten Roman Dracula.14 Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm „Nosferatu – eine Symphonie des Grauens“ aus dem Jahre 1922 bescherte dem blutdürstenden „Grafen“ auf der Leinwand schließlich im wahrsten Sinne des Wortes die Unsterblichkeit. Es folgte in den 1930er und 1940er Jahren eine Reihe von Filmen, in denen Bela Lugosi den Vampir verkörperte. Dieser identifizierte sich mit seiner Rolle so sehr, dass er sogar darum bat, in seinem rot-schwarzen Umhang beigesetzt zu werden. In den englischen Hammer-Studios entstand Ende der 1950er Jahre eine weitere Serie von Dracula-Filmen mit Christopher Lee in der Hauptrolle. Jüngere Hollywood-Produktionen wie Francis Ford Coppolas „Bram Stoker’s Dracula“ und Neil Jordans „Interview mit einem Vampir“ knüpften Anfang der 1990er Jahre an das Genre an und gingen künstlerisch eigene Wege. Aber weder der düstere Gary Oldman aus Coppolas Film noch der „interviewte Vampir“ Brad Pitt wirkten auf die heutige Vorstellung des Dracula alias Vlad Tepes. Das zeitgenössische Porträt des walachischen Woiwoden zeigt einen Mann mit eingefallenen Wangen, einem dunklen Schnurrbart über den schmalen Lippen, einer markanten Adlernase und stechenden, dunklen Augen. Überlagert wird dieses Gesicht heute von den Zügen Bela Lugosis und Christopher Lees. Mit letzterem schließt sich auf illustre Weise auch wieder der Kreis. So behauptete Lee stets, seinen Stammbaum bis auf Karl den Großen zurückführen zu können.

Artus ohne Tafelrunde

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