Читать книгу Keine Panik, ist nur Technik - Kenza Ait Si Abbou - Страница 21
Programmierst du noch, oder modellierst du schon?
ОглавлениеEin Modell ist an sich eine vereinfachte Abbildung der Realität, oder besser gesagt: ein Ausschnitt der beobachtbaren Realität. Modelle helfen uns dabei, durch Vereinfachung die Realität besser zu verstehen, sie sind aber nicht die Realität – so wie sich das Modellhaus einer Architektin von einem richtigen Haus unterscheidet. Wir nutzen Modelle, um eine Art Laborsituation zu schaffen, in der wir bestimmte Aspekte der Realität kontrolliert messen und prüfen zu können. Die Architektin nutzt ihr Modell, um dem Bauherrn sein zukünftiges Haus zu zeigen, damit dieser entscheiden kann, wo nun der Balkon gebaut werden sollte. Sollte er sich kurz vor dem Bau umentscheiden, wäre das beim Modell kein Problem, ein paar Klicks im 3D-Simulationsprogramm, und schon ist der Balkon woanders. Würde das Haus ohne Modell gebaut, wäre solch ein Umentscheiden sehr teuer oder unmöglich – sofern der Bauherr nicht zwei Balkone möchte.
Was hat das nun mit dem Buch-Sortier-Modell von meinem Schwiegervater zu tun? Also, in diesem Fall handelt es sich um ein mathematisches Modell, das eine besondere Voraussetzung erfüllen muss: Reicht die Zeit, um alle Bücher alphabetisch zu sortieren, ohne das Putzen zu vernachlässigen? Da er die Antwort nicht empirisch ermitteln kann, also mehrere Methoden durchprobieren und schauen, welche wie viel Zeit in Anspruch nimmt (dann könnte er es auch gleich selbst machen), versucht er, das Ganze also zu modellieren. Nachdem die Aufgabe klar beschrieben ist, kommt der nächste Schritt: vereinfachen. Wir denken oft, dass die Realität doch im Grunde ganz einfach ist, wenn man jedoch genauer hinsieht, stellt man fest, wie komplex die Dinge in der Regel sind. Da wir beim Modellieren nur ein Abbild oder einen Ausschnitt nehmen, müssen wir Annahmen treffen, um die Aufgabe einfacher (und lösbarer) zu gestalten. Die Annahmen meines Schwiegervaters wären zum Beispiel: Es gibt keine Unterbrechungen (das Telefon klingelt, der Postbote läutet etc.), es fallen keine Bücher plötzlich vom Regal runter oder aus der Hand, es gibt keine Kaffee- oder Toilettenpausen, und es erscheint auch keine Maus aus der hinteren linken Ecke. Prozessual nehmen wir an, dass es am schnellsten geht, wenn alle Bücher auf den Tisch gelegt, sortiert und wieder in die Regale eingeräumt werden (was bei der Vielzahl an Büchern unrealistisch ist, aber egal). Jetzt müssen die Schritte mathematisiert werden.
Für das Ausbreiten der Bücher auf dem Tisch nehmen wir einen Zeitaufwand von 30 Minuten an, für das Einräumen in die Regale noch einmal 30 Minuten. Wie lange brauchen wir für das Sortieren? Gute Frage, denn hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie wir oben gesehen haben, und je nach Algorithmus dauert es länger oder kürzer. Mein Schwiegervater ist ein pragmatischer Mensch und entscheidet sich für den Einfügesortieralgorithmus. Er geht davon aus, dass die Haushaltshilfe etwa zehn Sekunden braucht, um ein Buch in die Hand zu nehmen und alphabetisch einzusortieren. Bei 180 Büchern würde das bedeuten, dass 30 Minuten notwendig wären (180 × 10 Sekunden / 60 = 30 Minuten). Da man sich aber im Raum hin und her bewegen und die Position der Bücher anpassen muss, kommen weitere Verzögerungen hinzu. Diese sind aber nicht linear, man kann also nicht sagen, es dauert eine Minute pro Buch, denn je größer der Abstand, desto mehr Schritte sind notwendig und desto länger dauert es. Um sich das Leben einfach zu machen, rechnet mein Schwiegervater also 30 Minuten extra für die Bewegungen zum Einsortieren. Zusammengerechnet macht das also 4 × 30 Minuten = zwei Stunden. Da das Zeitbudget bei vier Stunden liegt, würde die Hälfte der Zeit für das Büchersortieren draufgehen. Das passt, denkt er sich, heute muss ja nicht gebügelt werden!
Gesagt, getan. Nach dreieinhalb Stunden kommt die Dame aus dem Arbeitszimmer raus, total erschöpft und mit Spinnweben in den Haaren. Obwohl sie zwischendurch eine Pause eingelegt hat, war der Auftrag ganz schön anstrengend. Viel Kraft bleibt nicht übrig, um das Haus zu putzen, also schickt er sie in den Feierabend und setzt sich hin, um sein Modell zu validieren. Er hat sich offensichtlich um einiges verschätzt. Nun gilt es, die Annahmen zu prüfen und die Kriterien zu validieren. Zum Beispiel hat sich die Annahme, dass keine Pause notwendig wäre, als falsch erwiesen. Die Annahme, dass zehn Sekunden pro Sichtung eines Buches ausreichen würden, trifft nur bei den ersten Durchgängen zu, nach einer Weile treten Ermüdungserscheinungen auf, und schon sehen die Augen die Buchstaben hin und her tanzen. Alle seine Validierungen führen dazu, sein Modell für den nächsten Versuch zu optimieren, wann auch immer der stattfindet. Heute jedenfalls nicht, denn erst mal muss mein Schwiegervater das Haus putzen. Aber in der Wissenschaft wiederholt man dieses Vorgehen so lange, bis das optimale Ergebnis erreicht wurde. Und das funktioniert alles viel besser mit Maschinen, denn die brauchen keine Pausen, haben keine Ermüdungserscheinungen und auch keine Angst vor Spinnen.
Okay, wir fassen noch einmal kurz zusammen: Die Experten legen fest, wie ein Modell aussieht und welche Algorithmen verwendet werden, die Programmierer schreiben das Ganze in den Quellcode und schicken es an den Compiler, damit das Betriebssystem etwas zu tun hat, und die Maschinen spielen das Modell schnell und ununterbrochen durch. Aber das macht die Maschinen noch nicht intelligent, sie setzen ja nur um, was ihnen gesagt wird. Was also ist die künstliche Intelligenz, von der mittlerweile alle Welt redet?