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Die Stufen des Egoismus

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Glaukon legt dar (Platon Politeia 358 b ff.), dass es sich für viele Menschen deutlich günstiger darstelle, ungerecht zu handeln, nur auf den eigenen Vorteil zu sehen und gegen andere die höchsten Gewinne zu machen. Das Unrechttun wird, wenn und weil es so erfolgreich ist, als gut angesehen, allein das Unrechtleiden erscheint als schlecht. Ja, schlimmer noch, wenn den Menschen die Möglichkeit gegeben wäre, sich unsichtbar zu machen (genannt wird das mythische Beispiel des Rings des Gyges, mit dem dies möglich wäre), dann würden unter dem Schutz der Unsichtbarkeit selbst vorher tugendhaft Erscheinende zu übelsten Taten neigen, weil man dann nicht öffentlich sehen könnte, was sie tatsächlich in ihrem Eigennutz tun. Denn das Ungerechte bringt allemal mehr ein als das Gerechte, das man sich im Grunde nur leisten kann, wenn man schon Vieles hat.

Damit ist schon früh in der Menschheitsgeschichte ein erster Grundsatz fehlender Nachhaltigkeit beschrieben worden. Wenn der Mensch nur um seine egoistischen Interessen – zunächst denen des Stammes oder der eigenen Sippe, dann der Familie und schließlich des Individuums – kreist, wenn er nicht auf die Verluste der anderen schaut und sich um keine sozialen und ökologischen Folgen kümmert, dann verwandelt sich der persönliche Vorteil in einen Nachteil für andere. Die ignorante Haltung gegen die anderen und die Welt ist seither eine Begleiterscheinung menschlicher Handlungen, die dadurch unsichtbar gemacht wird, dass sie uns als menschlich und natürlich gilt.

Glaukon ist sich solcher Ungerechtigkeit bewusst, obwohl er noch nicht von den ökologischen und weiteren Katastrophen wissen konnte, die nicht nur das soziale Gefüge des Menschen in Ungerechtigkeit ertrinken lassen, sondern den ganzen Planeten als Angriffsziel auserkoren haben. Die Kurzsichtigkeit des Handelns, die ins Hochwasser des Überflusses als Bevorzugung vor allem materieller Werte führt, und die fehlende Vernunft, die von der Erziehung nicht hinreichend ausgebildet wurde, bilden den Kern dessen, was Platon als Gründe für die fehlende Nachhaltigkeit des menschlichen Handelns aufzeigt. Dabei versteht er Nachhaltigkeit keinesfalls ökologisch, sondern sieht sie als Ausdruck einer gelungenen Lebensführung.

Die Antike scheint eine unmittelbare Vorbereitung unserer Zeit zu sein: Die Ähnlichkeiten sind verblüffend. Die frei als Bürger agierenden Menschen haben Macht, indem sie entweder auf Basis der bestehenden Regeln und Gesetze sich das von anderen nehmen, was sie in diesem Rahmen kraft ihrer Autorität, ihres Besitzes, ihrer Ämter oder Möglichkeiten können, oder indem sie möglichst unsichtbar ihre Macht verborgen verwirklichen und stärken. Es hat sich, so Glaukon, eine Individualität der Stärksten und Mächtigsten im alten Athen herausgebildet, die gegen den Rest der Gesellschaft ihre eigene Autorität praktiziert, selbst wenn sie sich der Autorität des Staates und höherer Ideale und Traditionen scheinbar noch beugt, diese aber überwiegend zu ihren Gunsten auslegt.

Die Rede des Glaukon, von Platon im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung geschrieben, lässt sich in vielerlei Hinsicht auf die Gegenwart einer neoliberalen Welt übertragen, in der sowohl die sichtbaren wie die unsichtbaren Strategien zum eigenen Vorteil und zur Übervorteilung anderer für Reichtum, Wohlstand, Erfolg, Befriedigung und ein »erfülltes« Leben stehen, wie es öffentlich in den Medien gefeiert und von den kapitalistischen Staaten kaum begrenzt wird. Ist dieser Sieg der Ungerechten, wie Platon sie bezeichnet, über die Jahrtausende ungebrochen und nicht zu verhindern? Entspricht die Ungerechtigkeit einem Teil des Menschen, der sich immer wieder Bahn bricht? Ist die Ungerechtigkeit gegen andere und die Welt das oberste Erziehungsziel aller Gesellschaften seither, ist es ihr offensichtlicher oder eher heimlicher Lehrplan?

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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