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Konsumverzicht trifft die Armen mehr als die Reichen

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Dieser Grundsatz gilt mindestens seit der Antike, er fällt durch den größeren Abstand zwischen Arm und Reich aber heute stärker aus als früher. Auch hier ist es hilfreich, unsere Gegenwart zumindest kurz mit den Athener Verhältnissen zu vergleichen.

Die antike Polis in Athen musste kriegerisch die eigene Macht verteidigen, besonders um sich immer wieder Sklaven als Arbeitskräfte zuzuführen und Kolonien mit Rohstoffquellen zu sichern. Gleichzeitig stand Athen unter dem Druck interner Demokratisierungsbestrebungen, denn der erwirtschaftete Reichtum wurde unter den freien Bürgern der Stadt verteilt und sorgte für wachsende Ansprüche. Die kämpfende Herrenkultur wollte ihren Wohlstand ausleben und entwickelte dekadente Züge, musste aber gleichzeitig ein kriegerisches Wesen in der Konkurrenz mit äußeren Feinden bewahren. Dies erzeugte einen starken kulturellen Wandel. Besonders eine größere Warenproduktion unterhöhlte das angestammte Recht der alten Familien auf Alleinherrschaft, neue reiche Bürger bildeten sich heraus, die Aristokratie sah sich mit einer Verflüssigung der alten Werte, einer Umformung der vertrauten Tugenden konfrontiert. Es traten mit dem Geld sogar Wandergelehrte auf, Sophisten, die der Jugend beibrachten, wie sie mittels Rhetorik und allerlei anderer Fertigkeiten schnell eigenen Wohlstand und eigene Macht bei Wahlen erringen konnten. Es setzte eine Individualisierung ein, die den kollektiven kriegerischen Geist untergrub, der den Ausgangspunkt der Machtstellung Athens bildete.

Es ist kein Zufall, dass im Neuhumanismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts dieses alte Athen als Vorbild der sich entwickelnden kapitalistischen Gesellschaft herangezogen wurde. Einerseits beherrschten Kriege und Konflikte die damalige Zeit, weshalb eine Ausbildung von Kampfeskraft nach antiken Vorbildern gern idealisiert wurde, zudem musste auch für den Kapitalismus das Spannungsverhältnis von Gier auf der einen und sozialer Ordnung auf der anderen Seite thematisiert werden. Andererseits nahm aber auch die Individualisierung zu, die Kunst und Kultur konnten aufblühen. In der Aufklärung entstanden demokratische Ideale, die ebenfalls auf die Antike zurückbezogen werden konnten. Antike Texte und idealisierte Vorstellungen wurden breit in das bürgerliche Bildungsprogramm aufgenommen und werden bis heute tradiert. Aber verschwiegen wurde dabei, dass es um Sklavenhaltergesellschaften ging, die ihren Reichtum und Überfluss auf Kolonialisierung, Krieg und Menschenhandel gründeten. Die Gewinner wurden in der Moderne heroisiert und idealisiert, die Verlierer nicht einmal genannt. Die Akademien der Antike, denen wir großartige Werke der Kunst, der Kultur, des Theaters und Denkens verdanken, wurden erbaut auf der Grundlage eines Reichtums, der auf der Arbeit von Vergessenen, von Sklaven und Leibeigenen, bestand. Bitter ist, dass dies in der Bildung nicht einmal zum Thema gemacht wurde.

Was können wir aus dem Untergang Athens lernen? Ich will es kurz skizzieren: In Athen handelte es sich nicht um eine bürgerliche Gesellschaft im Aufbruch, sondern um eine Polis auf der Basis begrenzter Landwirtschaft, relativ bescheiden entwickelter Warenproduktion und Sklaverei in größerem Umfang; insoweit war die Demokratie sehr begrenzt. Platon als einer der Aristokraten dieser Athener Gesellschaft, der sich wie viele Bürger mit dem Wandel der Zeit konfrontiert sah, erkannte hierin eine Bedrohung für die Gemeinschaft: Aufgrund der naturwüchsig auseinanderstrebenden Arbeitsteilung, einer Umverteilung des Reichtums und des neuen Begehrens nach Individualisierung vieler Menschen war die Gerechtigkeit im Sinne gleicher Prinzipien für alle als Ausdruck einer kriegerischen Gesellschaft gefährdet. Die Tauschverhältnisse führten dazu, dass jenseits der Geburt das Einkommen der Neureichen Macht erzeugte, was eherne Ordnungen gefährdete, sodass eine Stabilisierung der Gesellschaft als Wende zurück in die alte Zeit als Lösung erschien.

Platon entwirft in seiner Politeia deshalb eine konservative Gesellschaft, in der alle Verhältnisse statisch festgeschrieben sind: Es gibt Herrscher, Wächter und Arbeitende. Die Übergänge zwischen den Gruppen sind geregelt. Herrscher kann etwa nur jemand werden, der über einen langen Zeitraum auf Tausch- und Besitzmächte verzichtet, sich einer langen theoretischen Ausbildung unterzieht, sich also von allen direkten Herrschaftsansprüchen reinigt. Er ist derjenige, wie es das Höhlengleichnis versinnbildlicht, der die Fesseln abnimmt, um statt der Schatten das Feuer und die Wahrheit der Welt direkt zu erblicken, den Weg zum Guten ins Sonnenlicht zu gehen, ein Weg, der zwar unbequem ist, aber als Einziger die reine Erkenntnis des Guten und damit des gerechten Handelns, eines vernünftig begründeten Handelns erbringt. Die Wächter, die ohne Eigentum und in freier Gemeinschaft mit Frauen leben, sollen die Einhaltung der Gesetze und Normen dieses Staates kontrollieren, sie sollen jede Abweichung vom Ideal bestrafen. Platon konstruiert eine Autorität, die als notwendig erscheint, weil die Begierden der Menschen, ihr Egoismus und ihre Unfähigkeit, nachhaltig für die Gemeinschaft und die Welt zu wirken, als zu stark angesehen werden und eine Gegenkraft benötigen. Die Gesellschaft kann für ihn nur über Wächter und harte Kontrolle stabilisiert werden. Sie muss sowohl die mächtigen und egoistischen wie auch die subtilen Kräfte der Übervorteilung, die in unendlichen Variationen sich stets neue Wege suchen, streng und strikt regulieren.

In all diesen Ideen steckt ein Nachhaltigkeitsideal. Es ist der Wille zur Wahrheit, erkennen zu wollen, was wirklich geschieht und wie damit ohne persönliche Bereicherung in der Herrschaft umgegangen werden kann. Schon in den übersichtlichen Angelegenheiten der Antike erscheint hierfür eine sehr lange Ausbildungszeit der Politiker notwendig. Denn den Willen, Politik zu machen, kann man schnell ausbilden, aber Wahrheiten zu erforschen, dies ist die ungleich schwerere Seite. Sie ist notwendig, wenn eine Überlebenskrise bewältigt werden soll.

Es sind besonders die bildhafte Anschaulichkeit wie die Anschlussfähigkeit an menschliches Verhalten bis in die Neuzeit, die Platons Darstellung immer wieder zum Teil auch aktueller Überlegungen werden lassen. Platon beschreibt in der Politeia die menschliche Seele (588–592) in Erweiterung der Verführbarkeit durch materielle Begierden in drei verschiedenen Gestaltungen: Zunächst ist sie ein vielköpfiges Ungeheuer, sodann ein Löwe und schließlich der Mensch. Nimmt man alle drei Gestalten zusammen, indem man eine äußere glatte Hülle um sie herum bildet, so hat man einen Menschen vor sich, dessen innere Gestaltungen man nicht mehr sieht. Aber in diesem Menschen sind alle drei innerlich wirksam eingeschlossen:

Das Untier, das Animalische, triebhaft Begehrende, das mit den Köpfen wilder und zahmer Tiere erscheinen kann, das ist der Mensch als Triebwesen. Der Löwe repräsentiert den Teil des Mutes, des Temperamentes, das Begeisterung und Scham, Zorn und Aggression lebt. Der Mensch im Menschen ist hingegen sein denkender, geistiger Teil, der zu kognitiven, zu rationalen, auch nachhaltigen Lösungen in der Lage ist. Platon treibt eine Frage besonders an: Was geschieht, wenn man diese Bedingungen der menschlichen Seele nicht versteht und als Handlungsbedingungen anerkennt?

Wer das Ungeheuer in Zügellosigkeit herauskommen lässt, der wird nach Platon zwar von jeher getadelt, aber meist durch Reichtum belohnt. Das anmaßende und übelgesinnte Verhalten des Löwen wird zwar immer wieder verworfen, aber verworfen wird auch, wenn der Löwe zum Affen gemacht wird, wenn Schmeichelei und Geld den Mut degradieren. Auch niedriges Handwerk und Tagelöhnerei sind nichts für »wahre« Menschen. Oder soll sich der Herrenkrieger seines Mutes, seiner Löwenseele berauben lassen? Von seinen Eroberungen hing immer wieder der Reichtum der Nationen ab – und im Blick auf Handlungen muss doch allgemein gelten: Was nützen alle Begierden, wenn sie nicht durchgesetzt werden? Was nützen selbst gute politische Vorstellungen, wenn sie reine Papiertiger bleiben? Der nachdenkliche Mensch ist der kalkulierende, Kosten und Nutzen abwägende, strategische Planer, der sich mit den anderen Seelenanteilen ins Benehmen setzen muss.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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