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II.1.2.2Idealisiertes Vertragsrecht oder reale Machtpolitik? Die Lehren Machiavellis

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Seit der Antike ist klar, eine wichtige Voraussetzung für die Reflexion unseres inneren, individuellen Zustandes ist zunächst, dass die Beobachtungen, auf die wir uns beziehen, eine nachprüfbare Basis haben. Sie müssen auf Fakten im Sinne überprüfbarer Wahrscheinlichkeiten und nicht um Spekulationen oder fake news beruhen. Diese Sehnsucht nach der Wahrheit begleitet die Menschheit von Anbeginn an, und es ist ebenso von Anfang an klar, dass die Antworten von der jeweiligen sozialen Teilnahme abhängen. Von diesem Standpunkt aus wird gefragt, aus welcher Bevorzugung oder Benachteiligung eines Seelenanteiles jemand spricht, wie dadurch seine Erkenntnisinteressen geprägt werden und in welche Richtung es die Akteure drängt. Schließlich ist auch die Frage immer wesentlich, ob die Überlegungen nur theoretisch sind oder auch in Handlungen umgesetzt werden können, in welcher Reichweite, bis wann und mit wessen Hilfe.

Trotz all dieser Standpunktfragen bleibt die menschliche Wahrnehmung voll blinder Flecken. Der Kontext, in den Menschen hineingeboren werden, ist für sie immer schon ein Raum selbstverständlicher Wirklichkeit und Wahrheit. Ein Heraustreten aus vorgegebenen Handlungen, ein Beobachten mit neutralen oder zumindest multi-perspektivischen Ansätzen, bedeutet in der Regel einen Übergang in das wissenschaftliche Beobachten und Denken. Am Ursprung unseres heutigen Verständnisses der Wechselspiele zwischen Autorität und Individualität steht eine geistige Bewegung, die den Menschen selbst in ein Recht setzt, in sein Menschenrecht und seine Aufklärung, die die äußere Vorherrschaft der weltlichen oder göttlichen Herren bricht. Mit der Neuzeit geht der Mensch einen Vertrag mit der Gesellschaft ein, in dem er von der Gesellschaft zwar seine Freiheit erhält, sich aber zugleich stillschweigend verpflichtet, anderen Menschen und der Gesellschaft insgesamt nichts anzutun, eine Verpflichtung, die ihn selbst schützen soll. Vor dieser Voraussetzung kann dem Individuum deutlich mehr Spielraum in seinen Handlungen zugebilligt werden, als es die Unterordnung unter Adel und Kirche bis zum Ende des Mittelalters vorgesehen hatte. In diesem Spannungsverhältnis von Autorität und Individualität ist der neuzeitliche Mensch situiert. Hier entsteht ein neuer Denk- und Vorstellungsraum, in dem wir bis heute viele Themen, auch die Nachhaltigkeit, als sinnvoll, möglich oder wichtig beurteilen.

Der Begriff der Natur gewinnt zudem an Bedeutung. Mit dem Beginn der Aufklärung und der Loslösung von mittelalterlichen Denkstrukturen wurde der Begriff der Natur und eines angenommenen Naturzustandes zentral und stellte einen direkten Angriff auf Religion und Kirche dar. In der Religion wird die Vernunft durch den Glauben eingegrenzt und ermöglicht, nur derjenige, der glaubt, kann in diesem Sinne verstehen. Die Aufklärung hingegen will aufdecken, was vor dem Glauben oder der Herrschaft steht, welche Wahrheiten sich eröffnen, wenn die Verhältnisse nicht durch die Brille der Dogmatik oder des Glaubens als bloße Wunder betrachtet werden, wenn sie nicht allein durch politische Herrschaftswünsche bestimmt sind.

In der Moderne nimmt vor diesem Hintergrund die Bedeutung rationaler Begründungen umfassend zu, die wahrnehmenden und selbstbewussten Fähigkeiten der Menschen sind aufgrund der Vermehrung produktiver Tätigkeiten angewachsen. Die Bilder von Welt verschieben sich: Die antike Polis und selbst noch die mittelalterliche Stadt versuchten sich vor ihren Feinden durch Stadtmauern zu schützen; wir erleben dieses Bild einer Weltordnung heute nur noch als Denkmal, als Möglichkeit des Beschauens von Ruinen. Wir wissen, warum es Stadtmauern gab. Begrenzungen nach außen mussten fest und solide sein, um Menschen zu schützen. Doch wissen wir auch, was die Mauern überflüssig machte? Die Vorstellung eines solchen Schutzraums, der zugleich Geborgenheit und Abgrenzung bedeutet, die konkrete Erfahrung, sich hinter den dicken Stadtmauern gegen die Willkür fremder Eindringlinge behaupten zu müssen, verwandelt sich seit der Moderne in ein Wissen über die Menschen und die Natur. Im Zeitalter von Artillerie und Bomben helfen nur Vertrags- und Rechtsverhältnisse zwischen Menschen und Nationen, um die nicht mehr so direkt sichtbaren Grenzen zu befestigen. Wie jedes Recht können auch sie gebrochen werden. Aber der grundsätzliche Wandel, der sich ereignet hat, bedeutet seither die Welt und die Natur als einen Vertragszustand zu begreifen.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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