Читать книгу Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1 - Kersten Reich - Страница 32

Religionen: »Macht euch die Welt untertan«

Оглавление

Autorität ist bis in die Neuzeit der Kern jeder Ordnung, eine Grundstruktur unserer Lebensweise. Sie beginnt in der Familie als Kern mit dem autoritären Charakter – in der Regel des Vaters –, der darüber bestimmt, wie eine nachfolgende Generation aufwachsen soll. Dieser Charakter ist auf höherer Stufe durch eine lokale Herrschaft ausgedrückt, die Angelegenheiten vor Ort regelt, und reicht bis in die weltlichen Herrschaftsformen, die jeweils bestimmen, was als Staat und Nation in unterschiedlicher Regierungsform aufgefasst wird. Religionen waren bis ins Mittelalter äußerst einflussreich, männlich dominiert und von Autorität geprägt, und auch in der Moderne sind sie zunächst noch der gedankliche Kitt, der aller Autorität einen Sinn gibt, indem er sie als Modell eines großen Ganzen mit einem patriarchalischen Gott als obersten Herrscher legitimiert. Die »Herrschaft über die Erde« (dominium terrae) wird in der christlichen Theologie auf das Alte Testament bezogen und enthält den aus Genesis 1,28 überlieferten Auftrag Gottes an die Menschen: »Seid fruchtbar und mehrt euch, füllt die Erde und unterwerft sie und waltet über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die auf der Erde kriechen!« Dieser Auftrag wurde von den Menschen so konstruiert, als könnte dies niemals zu einem Problem werden.

Das menschliche Handeln ist in allen Religionen stets Teil und Ausdruck übersinnlicher göttlicher Bestimmungen, die keiner rationalen Ableitung entsprechen, sondern auf einen Wunderglauben setzen. Wiedergeburt, unbefleckte Empfängnis, Paradiese und Jüngste Gerichte sind wesentliche Elemente solcher Konstruktionen. Sie entsprechen den jeweiligen Herrschaftsformen besonders patriarchalischer Prägung und treiben diese zugleich an. Aber diese Bestimmungen lassen in den Weltreligionen auch eigenständige Handlungen des Individuums zu, die sich entsprechend der göttlich überlieferten Gebote und Verbote mehr oder minder abweichend verhalten können. Das religiöse Verhaltensspektrum lässt Spielraum auch für Sünden, abweichendes Verhalten, Konflikte zwischen Geboten, Verboten und menschlich erwarteter Hilfe, etwa innerhalb der Familie. Religionen bieten hinreichend Anlass für persönliche Tragödien oder scheinbare Heldentaten. Sie sind – das liegt in ihrer historischen Entstehungszeit begründet – nicht in erster Linie dazu erfunden worden, damit sich die Menschen angemessen und nachhaltig in ihrer Umwelt verhalten, sondern um das Überleben insbesondere bei wachsendem materiellem Wohlstand jenseits von Sippenverbänden und animistischer Weltdeutung zu regeln und mit einem höheren Sinn zu versehen. Sie entstehen als Weltreligionen auch erst dort und dann, wenn es größere Herrschaftsgebilde über die lokale Gemeinschaft hinaus gibt. Heute fragt die Forschung konkret danach, inwieweit die menschlichen Lebensformen und besonders die Religionen durch die jeweils vorherrschende Umwelt beeinflusst wurden, in denen sie entstanden sind. Haben sich menschliches Verhalten und Religiosität als ein konkreter Ausdruck in Abhängigkeit zur Umwelt und den Umweltbedingungen entwickelt?

Botero et al. (2014) sind der Auffassung, dass sich in der Menschheitsgeschichte deutlich zeigt, welchen Vorteil höhere, moralisch wirkende Götter bieten. Sie können das kooperative menschliche Verhalten fördern und dadurch menschliche Gemeinschaften stärken. Auch im Tierreich lässt sich beobachten, dass harte Umweltbedingungen ein kooperatives Verhalten positiv beeinflussen. In ihrer Studie weisen Botero et al. für unterschiedliche Gesellschaften auf, dass in Zeiten von härteren Umweltbedingungen und damit verbundener Überlebenskämpfe eher moralisierende höhere Götter auftauchen, als es unter Bedingungen der Fall ist, die ein leichteres Leben unter einem reich verfügbaren Angebot der Natur ermöglichen. Allein dadurch unterscheiden sich die Götterbilder stark innerhalb der verschiedenen Gesellschaften. Je härter die Lebensbedingungen sind, desto strenger werden die Götter konstruiert. Zudem fanden sie heraus, dass Religiosität leichter in komplexen Gesellschaften entsteht, die das übertragbare Privateigentum rechtlich anerkennen und die eine ausgewiesene Agrarproduktion haben. Je mehr Rechte und Besitz innerhalb einer Gesellschaft vorhanden sind, desto deutlicher tritt eine hierarchisch gegliederte Religion mit klaren Geboten, Verboten und einem Jüngsten Gericht am Ende hervor. Zusätzlich sind ein gemeinsamer sprachlicher Hintergrund und eine räumliche Nähe erforderlich, wobei die Religion wichtige verbindende Narrationen liefert, um sowohl die Zugehörigkeit zu einer Gruppe als auch die Verpflichtungen in dieser auszudrücken und verbindlich zu machen. Religionen mit höheren moralischen Göttern (bis hin zu einem Gott) ergänzen die weltliche Autorität in der Führung der Gruppe und sind zugleich eine Konstante in der Gesellschaft, denn die führenden autoritären Personen mögen wechseln, aber die Götter oder der eine Gott samt Stellvertretern auf der Welt bleiben. Selbst bei Veränderungen in der weltlichen Herrschaft wirken die höheren Gebote fort und sind scheinbar nicht an eine persönliche Abhängigkeit von Menschen gekoppelt, sondern an die Sehnsucht jedes Individuums nach einem höheren Sinn des Daseins und insbesondere an die Hoffnung, den Tod irgendwie zu überdauern.

Diese von Anfang an gesetzten Aufgaben der Religionen und des übersinnlichen Glaubens zielt also nicht in erster Linie darauf ab, die Welt oder Umwelt über den Menschen hinaus zu erhalten, sondern vorrangig, das menschliche Überleben mittels hierarchischer Vorstellungen, einer Abhängigkeit der Frauen von den Männern, einer Morallehre aus Geboten und Verboten im Zusammenhang mit herrschenden Ordnungen zu sichern. Dabei kommt allerdings die Umwelt durchaus vor, denn der Mensch soll nicht das zerstören, was ihn am Leben erhält. Außerdem soll er seine Begierden, seine Triebe, die sich gegen andere Menschen richten können, zügeln, weshalb alle Religionen Gebote der Selbstbeherrschung, des Fastens, der Kasteiung, der Opferung enthalten. Die Menschheit hat in den religiösen Konstruktionen schon früh erkannt, dass eine gewisse Balance zwischen der Umwelteroberung, auch der Unterwerfung anderer Menschen, und der Beschränkung der dabei erzeugten Zerstörung oder Übernutzung zu beachten ist. Gleichzeitig aber war und ist die Religion auch dafür zuständig, Ungläubige zu unterwerfen, Kolonialisierung, Versklavung, Kriege und Glaubenskriege anzutreiben und grausam durchzusetzen, weil nur die jeweils eigenen höheren Götter als die wahren Götter verherrlicht werden.

Die in der Religion übliche Trennung von Mensch und Natur, so vermutet White (1967), hat es beispielsweise dem Christentum ermöglicht, die Natur auszubeuten, ohne zugleich einen Ausgleich als erforderlich anzusehen. Andere meinen, dass es durchaus christliche Ansätze gäbe, sich für eine gute und gesunde Umwelt einzusetzen. Aber alle Untersuchungen aus diesem Feld bleiben inkonsistent und gelangen zu entgegengesetzten Schlüssen und Behauptungen (Gifford & Nilsson 2014, 147 f.). Den Zusammenhang von Religion und Nachhaltigkeit zu erforschen, bildet einen eigenen Forschungszweig (vgl. etwa Liege 2018). Die großen Werke der Weltreligionen lassen viel Spielraum in der Interpretation, wobei Nachhaltigkeit meist eher um das menschliche Leben und moralisierende Kräfte kreist, die eine große Offenheit und Bandbreite aufweisen, wenn es um die Folgen menschlichen Handelns auch für die Natur und Umwelt geht. Die Götter sind für die Nachhaltigkeit der Gegenwart nur dann von Nutzen, wenn die Kirchen die Nachhaltigkeit als Schutz der Welt, auf der alle leben, stärker in den Fokus rücken würden. Umgekehrt könnten aber auch die größten Umweltsünden vergeben werden, wenn sie nicht vor dem irdischen, sondern vor einem jenseitigen Richter stehen, der ohnehin erst dann kommt, wenn die Welt zugrunde gegangen ist. Insofern mögen die Religionen weniger geeignete Ratgeber in Nachhaltigkeitsfragen sein, als viele Gläubige vielleicht erhoffen, weil das göttliche Urteil immer zu spät kommen wird. Wollen die Menschen ein eigenes Urteil fällen, dann sind sie auf die weltlichen Angelegenheiten angewiesen, von denen nun gesprochen werden soll.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

Подняться наверх