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Die Nachhaltigkeitsagenda des Abendlandes

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Für Platon hat nur jener Staat Bestand, der alle drei Seiten vereinigt, denn er sichert dem Menschen seine Überlegenheit gegen alle Dekadenz und selbst verschuldete Unmündigkeit, wie es später die Aufklärung formulieren wird. Der Mensch kann und soll tun, was er will, was Erfolg, vielleicht auch Erfolg für viele, bringt. Das ist die Nachhaltigkeitsagenda des Abendlandes. Auch hier ist die bildliche Begründung eindringlich. Der Mensch überwindet die Tiergestalten, um sein wahres geistiges Sein zu behaupten: Seht, hier bin ich, ich kann aus vernünftigen und guten Gründen mit der Welt machen, was ich will. Denn weil und wenn ich vernünftig bin, wird die gesamte Welt davon profitieren. So zumindest das Versprechen des Abendlandes.

Der Neuhumanismus der bürgerlichen Welt, der dieses platonische Erziehungsideal im 19. Jahrhundert als allgemeinen Humanismus beanspruchte, um die gesamte Menschheit zu orientieren, überging allerdings gern den ausbeutenden Standpunkt der Herren. Die Freisetzung der Seelenanteile konnte geschichtlich gesehen immer nur auf Kosten einer arbeitenden Klasse geschehen, die für die geistig frei agierenden und Mut und Begierden auslebenden Herren den Reichtum schuf, den diese zu ihrer sehr umfassend gestalteten freien Existenz benötigen. Das wurde unmittelbar aus der Antike in die Moderne übersetzt und dennoch meist nie ausdrücklich so genannt.

Platons Bilder sind sehr eindringlich, aber er konnte seinen Staatsentwurf nicht realisieren, die politischen Verhältnisse einer zunehmenden Warengesellschaft zerstörten die auf Tugenden gegründete Restauration, die Athener Gesellschaft zerrieb sich an dem Widerspruch einer Erhöhung der Individualitätschancen bei gleichzeitiger Notwendigkeit kriegerischer Expansion, um Menschen und Rohstoffe für den steigenden Wohlstand auszubeuten. Athen steht in einer Reihe mit vielen anderen untergegangenen Reichen, die an diesen wiederkehrenden inneren Widersprüchen zerbrochen sind. Auch dies ist für die gegenwärtige Nachhaltigkeitsagenda wegweisend: Die Erkenntnis über Wirkfaktoren oder Ursachen fehlender Nachhaltigkeit im eigenen Dasein allein reicht nicht aus, um eine Krise zu bewältigen und den Untergang zu verhindern.

Im Nachdenken über die alten Ideen entdecken wir einen Grundsatz der Nachhaltigkeit. Gesellschaften, die ihren Erfolg auf bestimmten Prinzipien gründen, müssen diese immer an veränderte Bedingungen, die entweder von außen oder aus ihrer inneren Entwicklung kommen, anpassen. Sie müssen ihre eigene Nachhaltigkeit thematisieren können. Und dies gilt nicht allein für ihre Regierungen, sondern für alle Mitglieder der Gesellschaft. Schaffen sie dies nicht, dann sind sie über kurz oder lang dem Untergang geweiht, weil sie zwar über Widersprüche von außen oder von innen diskutieren mögen, aber ihre Auflösung nicht konsequent betreiben. Hier wird erkennbar, dass Nachhaltigkeit in der menschlichen Geschichte zunächst immer bedeutete, das eigene Überleben zu sichern. Aber heute, da der wachsende Wohlstand mit all seinen Folgen nur dem Menschen dienen soll und gleichzeitig den gesamten Planeten bedroht, gewinnt der Begriff der Nachhaltigkeit eine ganz andere, neue Bedeutung: Wie werden das Überleben und die Umwelt der Zukunft gegen die Bedürfnisse und Interessen der gegenwärtig lebenden Menschen gesichert?

Menschen fällt es schwer, diese Paradoxie zu verstehen. Deshalb wenden sich viele den scheinbar einfachen Lösungen und Versprechungen zu.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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