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Die moderne Kriegserklärung an Mensch und Natur

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Kaum ein anderer hat in der frühbürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit, ja vielmehr die Notwendigkeit des Verdrehens von Rechtsverhältnissen zum eigenen Vorteil so deutlich beschrieben wie Niccolo Machiavelli. Er stellte die Macht, die reale Politik, an die Seite der idealen und oft idealisierten Verträge: Er legte seine Ansichten vor allem in der Schrift Der Fürst nieder, fundierte sie aber besonders durch Studien über die römische Geschichte, um die Regeln ausfindig zu machen, durch die die Menschen von jeher beherrscht werden und sich beherrschen lassen. Dieses Wissen begleitet uns seither, auch wenn wir niemals seine Schrift gelesen haben mögen. An die Stelle konkreter Stadtmauern und Schutzwälle ist ein Wissen getreten, das als menschliche Erfahrung tradiert wird.

Nach Machiavelli gibt es in der Geschichte Zeiten, die eine Entstehung von Monarchie und Diktatur eher begünstigen, dann wieder Epochen mit stärker demokratischem Zuschnitt. Dass dies so ist, liegt an den Menschen selbst, denn ihre Leidenschaften bedingen mit psychologischer Notwendigkeit all die Handlungen, die dann als Geschichte erscheinen. Machiavelli fokussiert sich hierbei auf die sichtbaren Wirkungen und gibt einen Erfahrungsbericht. Für ihn gibt es keinen ewigen Staat, keine ewigen Mauern oder haltbare Grenzen, denn alles ist durch den Kampf aller gegen alle bestimmt. Jede Ideologie, die uns die Welt erklären will, ist bloß ein Instrument dieses Kampfes. Selbst die wirklichen Handlungen sind unabhängig von ihrer Rechtfertigung immer Kampfansagen: erst handeln, dann rechtfertigen. Lügen und Verbrechen allerlei Art werden nach folgenden Mustern empfohlen und gerechtfertigt: Tue es nicht, wenn die Übermacht zu groß ist. Ist sie nicht zu groß, dann tue es und entschuldige dich. Wenn es gar nicht anders geht, tue es und leugne die Tat. In jedem Falle: Tue es und bereue es nicht, denn was du nicht tust, das tut ein anderer.

Machiavelli ist ein Denker, der für den Kampf zur Gründung der Moderne ebenso taugt wie für die Gegenwart. Schauen wir auf den Kampf um Nachhaltigkeit, dann scheinen besonders Umweltsünden nach dem Muster von Machiavelli immer noch gut zu funktionieren. Nehmen wir das Beispiel Glyphosat. Tue es nicht, wenn die Regulierungen stark zunehmen oder hohe Geldstrafen eingeführt werden. Entschuldige dich durch Entschädigungen, die du zugleich für unberechtigt erklärst. Leugne den Schaden und mache weiter, bis es gar nicht mehr anders geht.12

Mit Machiavelli gewinnen wir eine gänzlich neue Auffassung über die Autorität. Der Wert einer Herrschaft wird nicht mehr an ihrer Gerechtigkeit, sondern an ihrem Nutzen gemessen. Seine Ansichten passen allen, die nur am Zweck interessiert sind, solchen, die im Kapitalismus und in der Machtpolitik immer nur für die eigene Sache einstehen. Für Machiavelli sollte Gewalt nicht nach dem Maßstab des Guten oder Bösen gemessen, sondern vorrangig nach ihrem Erfolg beurteilt werden. Auch wenn Machiavelli dies nur bezogen auf die menschlichen Leidenschaften, die er als Basis der kämpfenden Antriebe vermutet, diskutiert, so wird seither immer klarer, dass dies eine Gesamtkonzeption der Lebensweise des Menschen in der Moderne wird, deren ökonomischen Anteil ich ausführlich im zweiten Band erörtern werde. Hier genügt es zu sagen, dass der Mensch seither als des Menschen Wolf erscheint.13 Bei Machiavelli ist dabei der Gedanke einer ewigen Wiederkehr des Gleichen angesprochen, ein Gedanke, der bei Nietzsche später zentral werden wird. Nietzsche beschreibt im Zarathustra den Menschen als ein Seil, das über einen Abgrund gespannt ist. Auf diesem Seil tanzt der Mensch und fürchtet sich, in die Tiefe zu stürzen. Dabei ist er selbst zugleich das Seil, auf dem er tanzt. Kaum besser kann die Nachhaltigkeitsfalle in ein Bild verwandelt werden. Wir tanzen auf dem Seil und fürchten die Tiefe, tun gar so, als sei da kein Abgrund, sondern das Seil ein Grund. Was wir stets vergessen ist dies: Dass wir es sind, dieses Seil, und dass wir uns vor dem drohenden Abgrund unter uns nur retten können, indem wir hinabblicken und ihn ansehen – so wie er ist – und mit der Arbeit beginnen.

Mag man viel über Machiavelli – seine Bloßlegung der Mechanismen und Einsatzmittel von Herrschaft und Gewalt – gestritten haben (vgl. Cassirer 1985, 153 ff.), die geschichtsphilosophische Konsequenz scheint kaum noch hintergehbar (vgl. Horkheimer 1936), denn in ihrer Realität ist sie seither überall zu spüren: In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Freiheit gegenüber der Tradition gewachsen, es ist nun denkbar und unter strategischem Gesichtspunkt sogar sinnvoll, die Pfade der Tugend zu verlassen und alle Taten zu legitimieren, wenn nur ein Nutzen für die Akteure dabei herausspringt. Zwar toleriert man solcherlei Handlungen vielleicht nicht gern innerhalb der eigenen Familie, aber wer den Staat betrügt oder irgendjemanden schädigt, der ohnehin genug Reichtümer hat, scheint grundsätzlich klug zu handeln. Für die Natur und Umwelt des Menschen bedeutet dies eine klare Kriegserklärung, denn ihr Schutz ist gar nicht im Naturrecht vorgesehen, weil es zunächst nur um die Rechte von Menschen geht.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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