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Regulation zum Wohle aller

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Adeimantos fügt diesen Überlegungen eine andere Seite hinzu (362 d ff.). Er schreibt, die Väter ermahnten die Söhne, gerecht zu sein, nicht bloß mit Worten, sondern mit Taten, um für die Familie in der sozialen Welt einen guten Ruf zu erreichen und zu bewahren. Hieraus könne »wahre« Autorität erwachsen, obrigkeitliche Aufgaben könnten von solchen Menschen besser wahrgenommen werden, Zugehörigkeiten und Verbindlichkeiten zum Wohle aller werden gebildet und praktiziert. Dies erscheine nachhaltiger im Sinne einer Gerechtigkeit für die jeweilige Gegenwart und für alle Zukunft. Denn wer wolle sich schon von selbstsüchtigen, nur auf den eigenen Vorteil bedachten Menschen, wie es Glaukon vorschlägt, regieren lassen?

Aber reicht ein guter Ruf, ein anständiges soziales Verhalten, die Betonung der Gerechtigkeit durch Überparteilichkeit aus, um hinreichende Autorität zu erlangen? Bedarf es nicht der Gelder und eines Vermögens, das den eigentlich guten Ruf fundieren muss? Würde man denn jemandem, der es bisher zu nichts gebracht hat, überhaupt Vertrauen schenken? Adeimantos gibt zu, dass es allein vor den Göttern günstig scheinen kann, arm, aber gerecht zu sein. Der Lohn der Ungerechtigkeit, der Ausnutzung, Übervorteilung und Ausbeutung anderer übertrifft in der Regel die Verlockungen einer himmlischen Projektion, und Gerechtigkeit muss ins reale Leben übersetzt werden. Ein Leben jenseits allzu menschlicher Maßstäbe ist hingegen höchst ungewiss und fände erst nach dem Tode statt.

Vor diesem Hintergrund lässt Platon Sokrates das Problem dennoch positiv lösen und einen idealtypischen Staat entwerfen, dessen Philosophenherrscher in langer theoretischer und praktischer Ausbildung die Weisheit vor die materiellen Begierden stellen, um ihre vernünftigen Einsichten dann mit Autorität und Gewalt gegen alle durchzusetzen. Dies ist in der politischen Philosophie seither ein Bild voller Verlockungen geblieben. Eine Vernunft ist möglich, die so konstruiert ist, dass eine ideale Gesellschaft und eine Nachhaltigkeit in allen Lebensbelangen – für den Menschen wie die übrige Natur – erreicht werden kann. Der Reiz einer solchen Vernunft begleitet seither die großen politischen Bewegungen in der menschlichen Geschichte, die beispielsweise in Vorstellungen der Französischen Revolution, sozialistischer oder kommunistischer Diktaturen, großartiger paradiesischer Visionen oder populistischer Heilsversprechen münden, die mehr oder weniger immer mehr versprechen als die Realität dann halten konnte oder kann. Dies gilt bereits für Platon selbst, der einen aristokratischen Stadtstaat entwirft, dessen demokratische Geschicke von aristokratisch Gleichen als Diktatur einer Sklavenhaltergesellschaft praktiziert wurde. Dennoch erscheint es seither als möglich, dass sich durch die menschliche Vernunft und eine staatliche Organisation die menschlichen Begierden so begrenzen lassen, dass die menschliche Entwicklung selbst nicht gefährdet erscheint und Gerechtigkeit möglich wird. Die menschliche Geschichte seither zeigte jedoch eher jene im Vorteil, die sich machtbewusst, gewaltbereit, kriegerisch, ausbeutend und erobernd verhielten, jene, die Gewinne machten. Nun könnte ich schließen, dass aber selbst diejenigen, die immer nur Vorteile für sich ziehen wollen, zumindest dann vernünftig handeln müssten, wenn ihre eigene Lebensgrundlage bedroht ist. Aber ist dies so? Wie kann es überhaupt dazu kommen, so will ich zuerst fragen, dass die Vernunft die Menschheit regieren könnte?

Bereits Platon – wie auch viele andere in der Denkgeschichte – macht darauf aufmerksam, dass sich Vernunft und sinnvolle Handlungsweisen nur mittels Erziehung ausbilden lassen. Er favorisiert die spartanische Erziehung, weil sie den Menschen durch klare Forderungen beibringen kann, was sie für den Staat und das gemeinsame Ganze leisten sollen. Sie muss dafür Sorge tragen, die Hauptregeln des Staates allen so beizubringen, dass sie tatsächlich nachhaltig gelebt werden (423 b-e). Und ist dies einmal erreicht, dann sollte dies nach Platon auch autoritär festgeschrieben und für unveränderlich gehalten werden (424 b-c). In dieser Hinsicht soll die Erziehungsgeschichte die gewünschten Gesellschaftsverhältnisse spiegeln und leitend und orientierend allen Handlungen vorausgehen.

Auf heute übertragen wäre Platon einer jener Geister, die eine Ökodiktatur – eine rigide Ordnung zur Erhaltung des Lebens aller – fordern müssten, um noch zu retten, was zu retten ist. Beginnen müsste diese Idee bei der Erziehung, sie müsste über die Familie hinausreichen, die immer nur begrenzte Vorbilder hat, sie bedürfte daher der Schulen und Hochschulen und hierbei verpflichtender Denkweisen für alle. Zudem müsste mit hohen Strafen bei Abweichung gedroht werden, damit die Begierden im Zaun gehalten werden.

Eine solche Idee mutet nicht nur heute als utopisch an, sie war auch schon in der Antike bloß ein frommer Wunsch, und selbst wenn sich mit ihr bestimmte Ziele durchsetzen ließen, gefährlich an ihr ist stets die Machtfülle derjenigen, die sie diktatorisch durchsetzen und dann auch noch ganz eigene Ziele verfolgen könnten, die nicht der Allgemeinheit, sondern nur ihnen dienten. Immer wieder zeigt die menschliche Geschichte solche despotischen Regime, die sich selbst bis heute etablieren können.

Aber auch wenn Platons Staat eine Utopie geblieben ist, so hat die Tiefe und Kraft seiner Ideen, die ihn deutlich von populistischer Herrschaft unterscheidet, die eher auf Manipulation und kurzfristige Erfolge bei geringer Begründungstiefe setzt – auch das gab es schon in der Antike –, auf ein andauerndes Problem aufmerksam gemacht, das bis heute wirkt. Die grundlegende Frage, die sich Sokrates und seinen Schülern stellt, lautet:

Wie sollen die Menschen glauben und begreifen, was für sie der gerechte, der richtige Weg zwischen sinnvoller Vernunft und angestrebter und erwünschter Individualität sei? Wie sollen sie ihr Leben so mit Ideen und Taten gestalten, dass ihre Vorstellungen und Handlungen tatsächlich nachhaltig in einem positiven Sinne für beide Seiten – für sich und für den Rest der Welt – wirken und nicht gerade das Gegenteil hervorbringen? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir nach Platon erst einmal bestimmen, was der Mensch überhaupt aus seiner Geschichte heraus ist und was er sein kann. Er weist den Weg dafür, verstehen zu wollen, was der Mensch ist, was seine Antriebe sind, wozu er überhaupt leben will.

Sokrates zielt darauf ab (430 d ff.), dass bei tieferer Betrachtung die menschliche Seele von zwei Kräften her angetrieben wird:

Auf der einen Seite von den Begierden, dem übermäßigen Begehren von materiellem Reichtum, oberflächlichen Dingen, persönlicher Gier ohne Ziel für ein soziales Ganzes fernab der engeren eigenen Beziehungen. Das Ego sucht seine Vorteile, seinen Besitz, seine Sicherheit, seine Sexualität und Nachkommenschaft, seinen Status gegen andere durchzusetzen. Ihm sind alle Mittel recht, sich das zu beschaffen, was hierfür nötig ist. Schlechte Vorbilder und eine versagende Erziehung befördern diese Seite gegen den Rest der Menschheit.

Auf der anderen Seite ein Anstand, eine Mäßigung der Lüste, eine Besonnenheit, die durch eine gute Erziehung hervorgebracht wird. Sie verpflichtet sich höheren Idealen, der Beachtung der Gemeinschaft, der gemeinsamen und nicht bloß der individuellen Vorteile, der Nachhaltigkeit der eigenen Ideen und Taten, einer Wirkung zum Wohle der Menschheit und Weisheit.

Die Erziehungsgeschichte ist seither ein Beleg dafür, wie schwierig es ist, eine solche Erziehung umzusetzen. Von der Ökologie wird hier noch nicht gesprochen, die Natur bestimmt den Menschen noch stärker, als er sie beeinflussen kann. Aber die Erziehungsgeschichte zeigt, dass diese Seite der Erziehung oft mit dogmatischen Glaubensbekenntnissen, mit Unterdrückung und Gleichschaltung der Ideen verbunden war, aber meist weniger umfassend mit Aufklärung und Freiheit. So kann auch die scheinbar gute Seite der Mäßigung immer im Sinne bestimmter Interessen und Machtverhältnisse ausgenutzt werden. Die menschliche Geschichte zeigt, welch unendliche Varianten hier möglich sind.

Die Unterscheidung dieser beiden Seiten ist, seit sie aufgestellt wurde, sinnbildend für viele Sichtweisen über den Menschen, seine Lebensweise, die Herausforderungen der Politik und anderes mehr geworden, und sie bestimmt bis heute den Umgang mit der Sorge: Die Erziehung soll die Sorgen regulieren. Sie ist in den religiösen Weltbildern von Gut und Böse eingeschlossen und seit der Moderne zusätzlich aufgeladen durch Überlegungen zu Kosten und Nutzen und über die Vorteile des Wachstums; Grenzen werden hier selten bedacht. Was bedeutet die Sorge allgemein aus Sicht dieser Philosophie der Antike betrachtet?

In jeder Seele seien zwei Richtungen im Umgang mit der Sorge vorhanden, aber, so argumentiert Sokrates, nur die gute oder bessere Seite könne die schlechte in Grenzen halten. Die schlechte Seite, so Sokrates, finde man besonders bei Kindern und Frauen, dem Gesinde, sogenannten freien Leuten, in der Masse der nicht richtig autoritär Erzogenen. Jedes Zeitalter, so lässt sich diese sehr zeitbezogene Aussage aus der Antike fortführen, hatte seither ihre Sündenböcke, um die vermeintlich schlechte Seite zu illustrieren. Im Mittelalter und der Feudalzeit wurden die schlechten Seiten der Leibeigenen, Untergebenen und Besitzlosen betont, um dagegen die Kampfeskraft, Herrschaftstreue und gottgegebenen Vorrechte einer Elite zu sichern. Als der Kapitalismus sich mit der Moderne entwickelte, alle Räume besetzte und mit einer Beschleunigung alle Lebensverhältnisse veränderte, gewann das Materielle in allen Lebensbereichen an Wichtigkeit für die Menschen, obwohl sie weiterhin in Arme und Reiche geschieden sind. Trotzdem nimmt zu dieser Zeit die materielle Teilhabe aller zu. Das Gute wird als Wohlstand für alle breiter verteilt, aber schlecht bleibt die ungleiche Verteilung, wenn wir die Brille der benachteiligten Menschen aufsetzen. Die Sorgen bleiben bestehen, aber sie wandeln sich relativ zu den Ausgangspositionen.

Die Gewinner der Neuzeit schauen aus einer gänzlich anderen Perspektive; ihnen ist das Gute nie gut genug, weil es mehr sein könnte. Bezogen auf die Nachhaltigkeit sind sie jene Menschen, die nur an eigene Erfolge und nicht an deren Folgen denken, an Gewinnen orientierte Aktionäre der gegenwärtigen Krise.

Der entgrenzte Mensch und die Grenzen der Erde Band 1

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