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Kapitel 2 – Der Tag davor
ОглавлениеAuch wenn ich mich heute absolut nicht wohl fühle, versuche ich mich zusammen zu reißen. Ich weiß, dass der heutige Abend für Tyler wichtig ist. Ich ziehe gerade die letzten Haarsträhnen durch das Glätteisen, als ich die Wohnungstüre zufallen höre.
„Hey Schatz! ruft Tyler quer durch den Flur. Ich höre das Scheppern des Schlüssels den er wie immer in die Schale am Garderobenkästchen wirft.
„Hey! Ich bin im Bad“, rufe ich zurück, doch da steht er schon vor mir.
Ich lächle und gebe ihm einen Kuss. Musternd sieht er mich an.
„Du bist blass.“
Ich schüttle den Kopf. „Nein, es geht mir gut.“
Ablenkend krame in einer Lade nach meinem Haaröl. Er greift nach meiner Hand.
„Sicher? Wenn du dich nicht wohl fühlst, ich gehe auch allein. Ich verstehe das.“
Ich drehe mich zu ihm. „Es geht mir gut Tyler. Ich freue mich auf den heutigen Abend. Wir waren ewig nicht mehr gemeinsam weg.“
Er nickt seufzend und löst seine Krawatte, ich habe das Gefühl er glaubt mir kein Wort. Schnell schließe ich meine Arme um ihn und drücke mich fest an ihn.
„Du hast so hart gearbeitet die letzten Monate, ich muss einfach sehen wie der Spot geworden ist. Es wird Zeit, dass ich wieder anfange zu leben.“
Er streicht durch meine Haare, dann küsst er mich und reibt seine Nasenspitze an meiner.
„Ich muss jetzt unter die Dusche, sonst kommen wir noch zu spät“, lächelt er mich an.
„Ja du hast recht“, nicke ich.
Ich gehe ins Schlafzimmer und schlüpfe in meine schönste Unterwäsche. Es soll ein toller Abend werden. Ich wünsche mir nichts mehr als endlich wieder die Nähe meines Ehemannes zu spüren. Wir haben ewig nicht mehr… Ich seufze für mich selbst. Das letzte halbe Jahr war zermürbend. Tyler hat ständig bis spät in die Nacht gearbeitet und ich eigentlich immerzu auf ihn gewartet. Dass ich die ganze Zeit zu Hause bin, macht die Angelegenheit nicht gerade einfacher. Wir hatten so oft Streit, ich will nicht mehr streiten. Er arbeitet hart für seinen Job in einer großen Werbefirma und ich kann im Moment einfach nicht wieder arbeiten. Ich schaffe es nicht. Viele Dinge belasten meine Gedanken. Doch nichts zu tun lässt meine Welt nur noch sinnloser erscheinen. Tyler kommt mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt ins Schlafzimmer. Seine blonden Haare sind ganz nass. Am liebsten würde ich ihm jetzt einfach das Handtuch wegnehmen und über ihn herfallen, denn genau das wäre längst überfällig. Auch wenn er das früher ganz gern mochte, glaube ich, dass es heute nicht passend wäre.
„Ich habe dein Hemd gebügelt und dir den grauen Anzug rausgehängt“, sage ich und wende meinen Rücken zu ihm. „Machst du bitte den Reißverschluss zu.“
Ich ziehe meinen Bauch ein während er ihn hochzieht. Das Kleid ist das einzige, das mir noch halbwegs passt, aber auch nur deshalb, weil es mir früher zu groß war und einen relativ fließenden Schnitt hat. Außerdem trägt das dunkle blau nicht zusätzlich auf. Tyler schnappt sich sein Hemd, ich sehe mich im großen Wandspiegel an. Im vergangenen halben Jahr habe ich fast zwei Kleidergrößen zugelegt. Von 36 auf 40, ganz selten passe ich noch in Teile mit Größe 38. Als wir uns kennen lernten vor acht Jahren hatte ich sogar noch Kleidergröße 34. Es fällt mir schwer mein Spiegelbild zu akzeptieren. Im Streit hat mich Tyler auch oft genug spüren lassen, dass er es absolut nicht gut findet, wie sich meine Figur verändert hat. Er ist sportlich und trainiert, außerdem auch total diszipliniert, da passt mein fetter Arsch wohl nicht dazu. Ich drehe mich zur Seite. Genau. Fetter Arsch. Ich hasse diesen Arsch und die Schwabbelstellen an meinen Hüften. Die Oberschenkel sind auch viel zu fett. Das einzig Positive an der Sache ist, dass meine Oberweite etwas üppiger geworden ist, was ich ziemlich gut finde. Endlich habe ich einen ordentlichen Busen. Ich schüttle den Kopf. Dafür ist alles andere komplett formlos. Seufzend ziehe ich meinen Bauch ein.
„Holly…Was machst du denn?“ Tyler zeigt genervt auf seine Uhr und schnappt sich seine Krawatte.
„Ich bin gleich soweit“, entgegne ich und hüpfe noch einmal ins Bad um mich gesellschaftstauglich herzurichten. Ich bin wirklich blass und brauche etwas Farbe. Eigentlich bräuchte ich viel Farbe, aber ich mag das nicht, ich fühle mich dann so angeschmiert. Am Gang greife ich nach meiner kleinen Tasche und packe noch mein Lipgloss ein. Mein Blick fällt auf die Tabletten, die ich immer für Notfälle in jeder Tasche habe. Notfälle. Es gibt keine Notfälle mehr, denn in Wahrheit ist mittlerweile alles ein Notfall. Kurz überlege ich, doch dann schließe ich die Tasche und schlüpfe schnell in meine Pumps. Heute keine Tabletten. Ich brauche sie nicht. Das habe ich mir morgens vorgenommen und bis jetzt durchgezogen. Mir tut nichts weh, ich fühle mich gut und ich will einfach nur, dass es ein schöner Abend mit meinem Mann wird.
„Gut siehst du aus“, lächle ich ihn an und rücke seinen Krawattenknoten zurecht.
„Du auch Süße“, erwidert er mein Lächeln. „Können wir?“
Ich nicke zufrieden.
Ich nippe an meinem Wasser und sehe mich unauffällig um. Das erste Mal seit Monaten bin ich unter so vielen Menschen. Ich bin nervös und versuche nicht zu zittern. Ohne Tabletten ist also doch nicht so einfach, aber ich ziehe das durch. Die vielen Menschen die sich durch den Raum drängen, machen es mir nicht gerade leichter ruhig zu bleiben. Eine Kollegin von Tyler geht an mir vorbei und lächelt mich gekünstelt an. Ich lächle ebenso gekünstelt zurück. Tyler spricht mit einem Kollegen und sieht hin und wieder zu mir. Ich bin echt stolz auf ihn und total neugierig wie der Spot für eine große Outdoorfirma geworden ist. Wenn alles gut läuft, kann er mit einer Beförderung rechnen. Auch wenn ich das toll finde, weiß ich, dass er dann noch weniger Zeit für mich haben wird.
„Alles gut?“, fragt er mich als er auf mich zukommt.
Ich nicke bestätigend. „Ja sicher.“
„Es geht gleich los, nimm da drüben Platz, da siehst du alles gut.“
Ich nicke zustimmend.
„Und drück mir die Daumen“, fügt er noch hinzu.
Schnell greife ich noch nach seiner Hand. „Ich weiß, dass alles gut geht.“
Er nickt und zwinkert mir zu, dann geht er los Richtung Bühne. Ich gehe zum Platz den er für mich vorgesehen hat. Mittlerweile bin ich auch ordentlich nervös. Es dauert noch ein bisschen, dann geht es los. Als er zu sprechen beginnt, bekomme ich vor Aufregung kaum Luft. Er macht das so gut. Ich könnte das nie. Dann läuft der Spot an. Ich bin begeistert. Er ist noch besser geworden, als ich dachte. So viel Abenteuer, Spannung in perfekter Harmonie mit Landschaft und Emotionen. Nicht nur ich, sondern auch sein Chef und was noch wichtiger ist, seine Auftraggeber, scheinen außerordentlich zufrieden zu sein. Ich kann förmlich spüren wie all die Last und Anspannung der vergangenen Wochen von ihm abfällt. Das lässt auch mich ruhiger werden, wenn die Werbestrategie nicht aufgegangen wäre, hätte das bestimmt keine Gute Laune gegeben. Nach der Präsentation gibt es noch ein Buffet bei dem ich mich bewusst zurückhalte. Womöglich springt mir sonst noch der Reißverschluss vom Kleid und ich möchte keine Peinlichkeit herausfordern. Wie befürchtet stehe ich die meiste Zeit allein herum. Ich habe mich nie mit den Kollegen meines Mannes auseinandergesetzt, darum kenne ich auch kaum jemanden. Tyler ist von Gratulanten umringt und muss scheinbar unzählige Fragen beantworten. Ich gönne ihm den Erfolg. Nach einiger Zeit stellt sich doch eine von Tylers Assistentinnen neben mich. Keine Ahnung was ich mit ihr reden soll, zum Glück beginnt sie ein Gespräch.
„Echt toll geworden der Spot, nicht wahr?“, lächelt sie mich etwas verkrampft an, so als müsste sie Smalltalk mit mir führen.
„Ja. Wirklich sensationell“, antworte ich und überlege was ich mit ihr reden könnte. Ich glaube sie heißt Samantha. „Tyler hat total hart dafür gearbeitet, ich bin echt stolz auf ihn“, füge ich noch hinzu.
Sie nickt und nippt an ihrem Glas. „Ja das stimmt.“
„Hast du auch an dem Projekt mitgearbeitet?“
„Nein, Carolin war in seinem Team.“
Ich sehe zu Tyler. Carolin. Genau. Er hat mir erzählt, dass sie die einzige Frau im Entwicklungsteam war. Sie steht neben ihm und genießt sichtlich den Erfolg. Sie hat den Arsch den ich gerne hätte. Blond. Langbeinig und ziemlich hübsch würde ich sagen.
„Geht es dir gesundheitlich wieder besser?“, reißt mich Samantha aus meinen Gedanken.
„Ähm…Ja…Besser“, stammle ich überrascht über ihre Frage. Ich dachte nicht, dass Tyler das hier jemandem erzählt hat.
„Burnout, nicht wahr?“, fragt sie vorsichtig nach, was ihr etwas unangenehm zu sein scheint.
Mir ist es allerdings noch unangenehmer. Noch nie hat mich jemand so direkt darauf angesprochen. Ich nicke zögerlich, obwohl ich mir gar nicht sicher bin ob es wirklich ein Burnout war oder ist. Nervenzusammenbruch würde es wohl eher beschreiben. Ja, ein Nervenzusammenbruch der mich dann in ein Burnout getrieben hat.
„Arbeitest du nicht mehr als Krankenschwester?“
„Nein. Ich habe auch schon vorher nicht mehr im Krankenhaus gearbeitet, sondern war in einem privaten Haushalt tätig.“
Mehr kann und will ich dazu nicht sagen. Weil ich nicht darüber sprechen will. Weil es mich zermürbt daran zu denken. Weil ich von einer Sekunde auf die andere spüre wie sich eine schmerzliche Traurigkeit in mir aufbaut. Nervös zupfe ich an meinem Kleid.
„Ach ja. Tyler hat einmal erwähnt, dass du dich um ein krankes Kind gekümmert hast.“
Scheiße, ich will nicht darüber reden. Ich atme ein und halte kurz die Luft an. Dann sehe ich mich um und suche in der Menge Tyler. Wo ist er denn? Ich halte diese Fragerei nicht aus, außerdem will ich ihn endlich in den Arm nehmen und ihm gratulieren.
„Ja genau“, sage ich schnell und lächle sie vermutlich ziemlich gekünstelt an. „Ich muss mal sehen wo Tyler ist, ich habe ihm noch gar nicht gratuliert.“
„Natürlich“, meint sie als ich ihr schon den Rücken zugewandt habe.
Ich schiebe mich durch die Menschenmassen und fühle mich von Minute zu Minute unbehaglicher. Tyler ist wie vom Erdboden verschluckt. Einer seiner Kollegen aus dem Team kommt an mir vorbei.
„Entschuldige…Weißt du wo Tyler ist?“, frage ich ihn schnell.
Er sieht sich kurz um, als ihm etwas einzufallen scheint. „Er wollte das Technikequipment wegräumen.“
„Ach so. Und das ist wo?“
„Raus auf den Gang, die vorletzte Türe rechts“, meint er und geht auch schon weiter.
„Danke“, sage ich ihm noch hinterher.
Ich gehe den Gang hinaus und bleibe kurz im menschenleeren Raum stehen. Einen Moment lang atme ich die Ruhe und kühle Luft ein. Da drinnen war es fürchterlich stickig und warm und die ganzen Leute, dann noch die Fragerei, keine Ahnung wann es aufhört mich so fertig zu machen. Dann gehe ich den Gang hinunter und bleibe vor der vorletzten Türe rechts stehen. Die Tür ist angelehnt und ich höre Geräusche und ein leises Kichern aus dem Raum.
„Tyler?“ Ich öffne die Türe vorsichtig ein Stückchen.
Ich stehe da und sehe wie versteinert auf das Bild welches sich mir offenbart, unfähig einen Ton von mir zu geben. Völlig neben mir versuche ich etwas zu sagen, aber die Luft in meinem Hals stockt und baut sich beklemmend immer weiter auf. Hysterisch schnappe ich nach Luft. Fast hätte ich etwas sagen können, doch da höre ich die Worte „Ach du Scheiße…“ aus dem Mund der Blondine mit dem wünschenswerten Arsch. „Tyler…Hör auf…“, fügt sie noch hinzu.
Sein Rücken ist mir zugewandt, er hat noch nicht einmal bemerkt, dass ich in der Tür stehe. Er dreht sich langsam aus einer eindeutigen Situation zu mir. Fast wie in Zeitlupe fühlt es sich an. Seine Lippen formen sich zu einem tonlosen „Fuck“.
Ich schnappe immer noch nach Luft und einem Wort das ich sagen könnte, was in dieser schrecklich peinlichen Situation aber nicht möglich ist. Leicht überfordert lässt er von der Frau ab, zieht sich seine Hose hinauf und dreht sich zu mir. Völlig außer mir kann ich nur meinen Kopf schütteln, Tränen steigen haltlos in mir auf.
„Holly, warte…Versteh das bitte nicht falsch…Das ist anders als es aussieht…“, beginnt er zu stammeln.
Carolin springt vom Schreibtisch auf dem mein Ehemann sie gerade noch gefickt hat auf, und zieht sich scheinbar geschockt darüber erwischt worden zu sein ihren Tanga hoch. Verlegen streicht sie ihr Kleid zurecht, diese Geste fühlt sich in gegenständlicher Situation wie ein Witz an.
„Was kann man denn bitte daran falsch verstehen?“, sage ich überraschend leise und verwundert über mich selbst plötzlich wieder Worte gefunden zu haben. Dann drehe ich mich um und gehe den Gang zurück hinauf. Meine Hände beginnen zu zittern und ich spüre wie mir Übelkeit den Hals hochkriecht.
„Holly…Bitte…“ Tylor kommt mir schnellen Schrittes hinterher und hält mich am Arm zurück. Sofort versuche ich mich loszureißen.
„Mach hier bitte keine Szene“, sagt er relativ ruhig.
„Keine Szene?“, keife ich mit leicht erhöhter Stimme.
Carolin marschiert starren Blickes an uns vorbei und verschwindet hinter irgendeiner Tür.
„Es bedeutet nichts“, flüstert er und sieht mich dabei eindringlich an. „Es ist einfach alles von mir abgefallen und dann…“
„Was? Es bedeutet nichts? So sah es aber nicht aus. Darum sollte ich wohl besser zu Hause bleiben, damit du hier in Ruhe ficken kannst, oder wie?“
Er öffnet eine Bürotür und zerrt mich hinein. Dann packt er mich mit beiden Armen an meinen Schultern, fast als wolle er mich zur Besinnung bringen. Seine Augen weiten sich.
„Holly! Hör auf hier so herumzuschreien! Willst du mich ruinieren?“ Er atmet ein paarmal durch, so ruhig wie er versucht zu sein ist er nicht, ich kenne ihn. „Ich weiß ich habe einen Fehler gemacht, bitte lass und das zu Hause besprechen.“
Ich schüttle den Kopf. „Einen Fehler gemacht?“, murmle ich tränenerstickt. „Wie lange schon?“
Bei dieser Frage kann er mir nicht mehr in die Augen sehen und ich weiß darum sofort, dass das hier nicht das erste Mal mit dieser Schlampe war.
„Wie lange schon?“, frage ich deshalb noch einmal etwas lauter nach.
„Es bedeutet nichts…“, stammelt er.
„Wie lange will ich wissen“, jetzt schreie ich fast, was ihn schnell antworten lässt.
„Seit ein paar Wochen.“
Geschockt weiche ich einen Schritt zurück. Ich kann nichts mehr sagen. In mir baut sich ein fürchterliches Gefühl auf das ich mit keinem Wort beschreiben kann. Ich liebe diesen Mann, ich habe ihn immer geliebt, ganz selbstverständlich und bedingungslos, auch wenn wir in letzter Zeit viel gestritten haben. Immer habe ich versucht über meinen Schatten zu springen und war ihm nie lange böse, selbst wenn er mich oft richtig beleidigt hat. Es ist schwer ihm zu entsprechen, ich bin nicht wie er. Mal sind meine Haare nicht so wie er sich das vorstellt, dann ist es meine Figur mit der er im Moment nicht zurechtkommt. Ich bin immer zu langsam oder nicht genau genug, oder ich denke zu intensiv nach. Dann rede ich zu viel und im nächsten Moment wieder zu wenig, oder sage nicht das was er hören will. Auch wenn es mir in den letzten Monaten schlecht ging, versuchte ich ihm alles recht zu machen. Und jetzt? Wozu das alles?
„Es war die Anspannung, ich musste irgendwo Druck ablassen, du bist im Moment nicht du selbst…“, beginnt er fast verzweifelt zu erklären. Ich will das alles gar nicht hören. Seine Worte machen alles nur noch schlimmer. Oft habe ich versucht mich ihm zu nähern. Ich habe es mir sogar ziemlich gewünscht, es hätte mir bestimmt geholfen aus meinem seelischen Tief zu kommen. Doch er hat mich immerzu zurückgewiesen. Jetzt verstehe ich warum.
„Druck ablassen?“, sage ich jetzt schon fast ohne Ton. Dann drehe ich mich um, gehe aus dem Raum und ohne mich noch einmal umzusehen durch den Gang. Wieder kommt er mir hinterher.
„Holly…“, ruft er mir nach als sich die Türe vom Präsentationsraum öffnet und sein Chef herauskommt.
„Da sind sie ja Barnes. Drinnen wartet unser Kunde auf Sie“, meint er und sieht mich etwas verwundert an. Ich drehe mich weg, schließlich bin ich tränenüberströmt.
„Alles in Ordnung?“, fragt er dann auch noch nach.
„Ich brauche ein bisschen frische Luft“, lächle ich ihn gekünstelt an.
Er nickt mir mit hochgezogenen Augenbrauen zu.
„Ich bin sofort bei Ihnen“, stammelt Tyler.
„Gut“, erwidert sein Chef und geht wieder in den menschenvollen Raum.
„Ich muss hier raus.“ Ich sehe ihn traurig an.
„Scheiße…Ich wollte das nicht…Bitte lass uns später reden, ich muss da rein…“
Ich nicke wortlos und kehre ihm den Rücken. Mit zittrigen Händen verlasse ich das Gebäude. Draußen muss ich mich erst einmal ein paar Minuten lang sammeln. Ich öffne meine Tasche um ein Taschentuch heraus zu holen, als mir meine Tabletten fast bettelnd entgegen leuchten. Zögernd schließe ich meine Augen und hole tief Luft. Was ist er für ein Arschloch? Es einfach mit dieser Schlampe in meiner Anwesenheit zu treiben. Es ist doch ganz egal was ich mache, ich werde nie so sein wie diese Scheiß Carolin. Niemals. Völlig neben mir drücke ich ohne nachzudenken aus jeder Packung ein paar Tabletten, keine Ahnung wie viele, und schlucke sie ohne Wasser ganz leicht hinunter. Jetzt zittern meine Hände noch mehr, doch sofort baut sich ein seltsam erleichtertes Gefühl in mir auf. Dann gehe ich los. Planlos. Einfach irgendwo hin. Ich spüre die Wirkung der Pillen, ich werde lockerer und beruhige mich langsam wieder. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und bleibe vor einem Pub stehen. Einige Leute stehen davor und scheinen mächtig Spaß zu haben. Spaß haben. Ich kann mich nicht erinnern wann ich zuletzt Spaß hatte. Kurz zögere ich, gehe dann aber hinein. Nachhause will ich nicht, ich möchte einfach nur für ein paar Minuten vergessen was gerade passiert ist. Vergessen. Das wird nicht funktionieren. Wie auch? Im Pub drängen sich viele junge Leute um die Theke herum. Aufgrund der Tabletten macht mir das auch gar nichts aus. Ich quetsche mich durch und bestelle mir einen doppelten Whisky. Dann noch einen. Ein junger Typ drängelt sich neben mich und bestellt zwei Bier. Zuerst schaut er mich nicht an, dann sieht er plötzlich zu mir und grinst.
„Allein?“, fragt er und grinst noch ein bisschen breiter.
Ich nicke und lächle ein bisschen. Er nimmt die Bier und geht wieder zu einem anderen jungen Typen, scheinbar ein Freund. Sie sprechen miteinander, aber er schaut immer wieder zu mir. Auch wenn mir das nichts bedeutet und ich auch absolut nicht darauf aus bin, finde ich es spannend. Dann kommt er wieder auf mich zu.
„Machst du bitte ein bisschen Platz?“, weist er den Burschen der neben mir an der Theke lehnt an. Der weicht augenblicklich zur Seite.
„Trinkst du noch einen?“, fragt er mich und sieht auf mein fast leeres Glas. Er hat braune Haare und stechende Augen. Etwas verlegen nicke ich. Er bestellt bei der Kellnerin noch einen Whisky für mich.
„Danke“, sage ich immer noch verlegen.
„Gerne.“
Er stößt mit seinem Bier an mein Glas. Ich weiß nicht was ich sagen soll.
„Wie heißt du denn?“, fragt er mich und grinst wieder.
„Holly.“
„Holly. Cool. Ich heiße Jack.“
„Hey Jack“, lächle ich verkrampft.
„Du schaust irgendwie traurig aus. Warum denn? Du hast so ein schönes Lächeln.“
Traurig. Nicht das richtige Wort. Es gibt kein Wort das meinen Zustand beschreibt. Ich zucke mit den Schultern. Er schubst mich ein wenig an.
„Komm schon. Ich bin mir sicher du kannst super lächeln.“
Das bringt mich wirklich zum Lächeln und nach weiteren zwei Getränken schafft er es auch mich zum Lachen zu bringen. Sein Interesse an mir schmeichelt schon ein bisschen meiner ramponierten Seele.
„Ich muss mal schnell wohin“, sage ich nachdem sich auch noch sein Freund zu uns gesellt hat.
Ich habe leichte Kopfschmerzen, darum schlucke ich am WC noch schnell eine Tablette und noch eine gegen die Beklemmungsgefühle.
„Heute werde ich einfach einmal tun was ich für gut empfinde und ich werde nicht mehr an dieses Arschloch denken. Heute nicht…“, sage ich meinem Spiegelbild und lege noch etwas Lipgloss auf.
Zurück bei den Jungs die locker einige Jährchen jünger als ich sind fühle ich mich um Welten besser. Es ist so erleichternd einfach mal niemandem entsprechen zu müssen. Einfach nur ich sein.
„Wir wollen noch in einen Club in Dover, da geht es jetzt richtig ab, du kommst doch mit oder?“, fragt mich Jack und zwinkert mir zu.
„Ich weiß nicht, Dover?“, meine ich unsicher.
„Komm schon, das wird bestimmt geil.“
Nachdem er nicht locker lässt, stimme ich irgendwann einfach zu, wahrscheinlich weil ich aufgrund des steigenden Alkoholspiegels sowieso schon viel zu gut drauf bin. Doch es ist mir egal. Vielleicht zahle ich es Tyler auch einfach heim. Nein, ich könnte das nicht tun, obwohl verdient hätte er es. Irgendwann im Wagen bekomme ich dann ein komisches Gefühl. Es ist nicht richtig mit zwei Jungs im Wagen mitten in der Nacht irgendwohin zu fahren. Nervös zapple ich am Rücksitz herum und überlege auszusteigen. Doch dann werde ich wieder ruhiger und schiebe meine Bedenken beiseite. Als wir bei dem Club ankommen, fühle ich mich in meinem Vorhaben bestätigt, was soll denn schon passieren. Die Musik im Lokal ist laut aber cool, ich fühle mich plötzlich so frei und gut gelaunt. Ich kippe noch ein paar Drinks hinunter bevor mich Jack auf die Tanzfläche zieht. Er ist hübsch und ich mag seine Augen, sein Blick durchdringt mich förmlich. Ziemlich unerwartet nähert er sich dann meinem Gesicht und küsst mich. Zuerst versuche ich ein wenig zurück zu weichen, lasse es dann aber doch zu. Seine Zunge ist heiß, es fühlt sich geil an, darum erwidere ich es. Dann greift er in seine Hosentasche und schiebt sich etwas in den Mund. Ich sehe ihn fragend an.
„Willst du auch?“, flüstert er etwas atemlos nahe an meinem Hals.
„Was will ich?“, frage ich nach und suche wieder nach seinen Lippen.
Wieder greift er in die Tasche seiner Jeans und schiebt sich etwas in den Mund, dann beginnt er wieder mich zu küssen. Er schiebt mir seine Zunge tief in den Mund, dann spüre ich ein kleines rundes Ding in meinem Mund. Kurz löse ich mich von ihm.
„Was ist denn das?“
Verwegen lächelt er mich an. „Du wirst dich gleich richtig mega fühlen.“
„Ich weiß nicht…“, murmle ich, die Tablette zwischen meinen Zähnen haltend.
Doch dann schießt mir das Bild von Tyler in den Kopf. Wie er über die Blondine gebeugt an ihrem Ohr knabbert und sich fordernd in ihr bewegt. Wie sie ihre roten Fingernägel in seinen Rücken krallt. Er hat mich nicht einmal bemerkt. Ich atme ein und mit dem Ausatmen schlucke ich das Ding hinunter. Ich frage nicht was es ist und überlege auch nicht was es mit mir anstellen wird. Doch ganz bald setzt das mega Gefühl ein. Alles ist in bunte fröhliche Farben getaucht. Alles ist locker und leicht. Alles ist schwerelos und einfach unglaublich gut. Wieder küsse ich Jack und schiebe meine Hände unter sein Shirt. Mein Herz klopft wie wild, aber das ignoriere ich und mir ist heiß.
„Komm wir gehen raus“, haucht er in mein Ohr.
Ich folge ihm ohne zu zögern in den Hinterhof des Lokals. Wieder küssen wir uns, er fährt mit seinen Händen unter mein Kleid und umklammert meinen Hintern während er mich an eine Hauswand presst. Ich bin atemlos und mein Herz pumpt. Immer wieder muss ich mich von ihm lösen, weil ich keine Luft bekomme. Das Herzklopfen wird schier unerträglich.
„Warte bitte…Ich kann nicht…Lass mich bitte los“, stammle ich einer Sekunde Klarheit.
„Komm schon…Stell dich nicht so an…“, stöhnt er in mein Ohr.
„Nein…Ich fühle mich nicht gut. Außerdem will ich das nicht.“ Ich stemme meine Hände unerwartet kraftvoll gegen seine Brust.
Er sieht mich ungläubig an. „Spinnst du jetzt komplett? Was glaubst du warum wir hier draußen sind?“
Ich schüttle den Kopf. „Bitte. Ich kann das nicht…Ich bin verheiratet…Und ich fühle mich nicht gut…“
„Verheiratet? Das ist mir doch egal, ich wollte dich sowieso nicht heiraten ein schneller Fick reicht mir schon. Komm schon, mach kein Theater jetzt, lass locker Süße…“ Wieder schiebt er seine Hände unter mein Kleid.
Süße? So nennt mich Tyler immer. Ich spüre wie mir schlecht wird. Ich kann und will das nicht. Ich stoße ihn weg und übergebe mich.
„Scheiße…Du bist echt eine blöde Schlampe…“, höre ich ihn noch mit abwertendem Ton sagen, dann verliere ich die Kontrolle.