Читать книгу Fettnäpfchenführer Japan - Kerstin und Andreas Fels - Страница 22
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HERR HOFFMANN EKELT SICH
WENN MAN BEIM ESSEN VON SCHULDGEFÜHLEN GEPLAGT WIRD
Er hätte es wissen müssen! Frau Watanabe hatte schon so verschmitzt gelächelt, als er vorgeschlagen hatte, sie solle doch eine echte japanische Spezialität bestellen. Während Frau Watanabe mit dem Kellner spricht und dabei auf ein großes Aquarium deutet, das hinter der Theke des Restaurants steht, bezweifelt Herr Hoffmann, dass das eine gute Idee war. Schnell nimmt er einen großen Schluck von dem eiskalten Sapporo-Bier.
Frau Watanabe fragt ihn, ob ihm das Sushi neulich geschmeckt habe. Herr Hoffmann atmet auf. Ah, es soll also wieder Sushi geben – ein Glück!
»Ja, danke. Ich dachte immer, dass roher Fisch nichts für mich ist, aber das Sushi fand ich lecker.«
Frau Watanabe lächelt.
Auf einmal kommt Bewegung in das Aquarium. Einer der Küchenchefs angelt mit einem Netz einen Fisch heraus. Der Fisch zappelt, wird aber durch einen Schlag mit dem Griff des Küchenmessers betäubt. Die noch im Aquarium verbliebenen Fische starren fassungslos dem Küchenchef nach, der nun ihren Freund in die Küche trägt. Kurz darauf – ein bisschen ZU kurz vielleicht – serviert der Kellner eine Platte mit dem Fisch. Frau Watanabes Augen leuchten und sie nimmt ihre Stäbchen in die Hand. Der Fisch sieht noch aus wie im Aquarium, Kopf und Schwanz sind noch vorhanden, nur in der Mitte ist der Körper zu kunstvollen sashimi-Filets verarbeitet.
Herr Hoffmann greift nun auch zu seinen Stäbchen und führt diese zögerlich an den Fisch heran. »Der lebt ja noch!« Gerade hat der Fisch den Kopf bewegt. Nun zuckt auch noch der Schwanz.
Frau Watanabe nickt und angelt mit ihren Stäbchen geschickt ein Stückchen sashimi aus dem offenen Körper des lebenden Fischs: »Ja, sehr frisch!«
Herr Hoffmann schaut zum Aquarium. Die Fische starren ihn anklagend an. ›Seht mal, der Typ da frisst Robert bei lebendigem Leibe!‹, scheinen sie zu sagen. Heißen japanische Fische überhaupt Robert? Oder eher Hiroto? Schuldbewusst schaut er wieder auf die Platte. Robert (oder Hiroto) zuckt noch immer mit dem Schwanz. Herr Hoffmann nimmt seine Stäbchen und greift damit ein Stück von dem dünn geschnittenen Rettich, der neben dem Fisch drapiert liegt. Lange kaut er auf dem Rettich herum und überlegt, ob es wohl sehr unhöflich ist, in Japan ein Essen abzulehnen.
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Um diese Frage zu klären, reisen wir zunächst einmal in die Vergangenheit. Genauer gesagt, zum 8. Juli 1853. An diesem Tag tauchen vier schwarze Schiffe vor der Küste der Stadt Edo (des späteren Tôkyô) auf – dies ist der Anfang vom Ende des alten Japan. An Bord: der amerikanische Kommodore Matthew Calbraith Perry mit der Mission, Japan zu einem Ultimatum zu zwingen.
Der Grund: Seit über 200 Jahren verfolgt der Inselstaat nun eine Politik des ›geschlossenen Landes‹. Handel ist nur den Chinesen und Niederländern unter strengen Beschränkungen erlaubt. Das soll sich nun ändern. Dank der überlegenen Waffentechnik der Amerikaner bleibt der Militärregierung, dem Shôgunat, nichts anderes übrig, als die Forderungen zu akzeptieren. Es kommt zu ungleichen Verträgen, die für die Amerikaner sehr viel günstiger sind als für die Japaner. Weitere Abkommen mit Großbritannien und Russland folgen – ebenfalls nicht zugunsten Japans.
Die Militärregierung verliert zunehmend an Autorität. Schließlich befreien am 3. Januar 1868 verbündete Streitkräfte den 16-jährigen Kaiser Mutsuhito (1852–1912, später Meiji, erleuchteter Herrscher) aus seinem Palast in Kyôto. Seit über 600 Jahren regiert nun erstmals wieder der Kaiser das Land.
Die neue Regierung setzt auf einen radikalen Modernisierungskurs. Zu spät hat man während der jahrhundertelangen Isolation gemerkt, dass das Ausland sich rasend entwickelt. Moderne Waffen, Telegrafenleitungen oder die Eisenbahn – all diese Erfindungen kennt man in Japan noch nicht. Höchste Zeit, das Vergangene aufzuholen: Während der Meiji-Restauration (1868) wird das Land komplett umgekrempelt.
Das alte Ständesystem, bestehend aus Samurai, Bauern, Kaufleuten und Handwerkern, wird abgeschafft. Damit beginnt der Niedergang der Samurai, die bis vor Kurzem noch alle öffentlichen Ämter besetzt haben, nun aber ohne richtige Aufgabe sind. Endgültig bedeutungslos werden sie mit dem Einführen der allgemeinen Wehrpflicht. Die stolzen Krieger, die bislang ihren hohen gesellschaftlichen Stand durch edle Seidengewänder zum Ausdruck gebracht haben und das Privileg hatten, einen einfachen Bürger, der sie nicht respektvoll mit einer Verbeugung begrüßt, einfach köpfen zu dürfen, bekommen einen weiteren herben Schlag versetzt. Ein neues Gesetz verbietet ihnen das öffentliche Tragen der beiden Schwerter, das sichtbare Zeichen ihrer Sonderstellung. Kein Wunder, dass es einige Zeit später zu einem Aufstand enttäuschter Samurai gegen die Regierung kommt. Aber der Fortschritt ist nicht aufzuhalten.
Um so viel fremdes Wissen wie möglich aufzusaugen, begibt sich 1871 ein großer Teil des Regierungskabinetts auf eine 20-monatige Reise um die Welt. Und sie bringen einiges mit. Bald fährt die erste Eisenbahn zwischen Tôkyô und Yokohama, auch die Zeitrechnung wird eine andere: 1873 wird der Gregorianische Kalender eingeführt.
Der Austausch geht weiter. Zahlreiche Japaner studieren im Ausland, im Gegenzug arbeiten bis zum Ende des Jahrhunderts über 3.000 ausländische Berater im aufstrebenden Japan. Die Japaner übernehmen so für sich jeweils das Beste aus allen anderen Ländern. Das Post- und Eisenbahnsystem sowie die Marine orientierten sich am Vorbild Englands, die Präfekturen werden nach französischem Ideal eingeführt, das Heer, das Universitätssystem und die medizinische Ausbildung aus Preußen übernommen. Das deutsche Gesundheitswesen galt Anfang des 20. Jahrhunderts als das fortschrittlichste System weltweit. Bis heute wird den fleißigen japanischen Studenten innerhalb ihres Medizinstudiums Deutsch als Fremdsprache gelehrt. Innerhalb weniger Jahrzehnte wird die Industrie aufgebaut, die allgemeine Schulpflicht eingeführt und eine Armee installiert. Gebäude im französischen Stil werden errichtet, statt traditionellen Gewändern bevorzugen die Menschen nun westliche Kleidung. Kaum etwas im Land ist noch so, wie es bis vor Kurzem war.
Durch den Einmarsch in Korea 1894 und dem dortigen Sieg über China, das ebenfalls ein Auge auf die koreanische Halbinsel geworfen hatte, verschafft sich Japan internationalen Respekt – und ein neues Selbstbewusstsein. Die alten, ungerechten Verträge werden revidiert und Japan gilt als wichtiger Teilnehmer der Weltpolitik.
Und das japanische Volk? Trotz der massiven Änderungen in kürzester Zeit ist es ihm irgendwie gelungen, seine Identität nicht zu verlieren. So ist es bis heute geblieben. Auf den ersten Blick wirkt alles sehr westlich, der japanische Charakter kommt jedoch an den verschiedensten Stellen zum Vorschein. Sei es im abstrusen Adresssystem, bei dem Verhältnis zur Religion, der Architektur, dem Umgang untereinander – oder eben beim Essen.
Und die Japaner sind stolz darauf, dass sie eben – trotz der vielen europäischen Einflüsse – irgendwie anders sind. Daher braucht sich Herr Hoffmann keine Sorgen zu machen, Frau Watanabe zu gestehen, dass er das extra-frische sashimi nicht essen möchte. Japaner erwarten gar nicht, dass ein Ausländer alles isst, was man ihm auf den Tisch stellt, ist dies doch schließlich nur ein weiterer Beweis ihrer eigenen Sonderstellung. Und mal ehrlich: Hätten wir nicht auch Verständnis dafür, wenn ein Japaner zum Beispiel keine Blutwurst mögen würde? Aber die meisten essen sie vermutlich mit Begeisterung ...
Was können Sie besser machen?
Eigentlich hat Herr Hoffmann noch Glück gehabt. Es hätte ihn auch schlimmer treffen können, denn in Sachen Essen sind Japaner nun wirklich nicht zimperlich. Gut, bei den Landtieren halten sie sich ein wenig mehr zurück als zum Beispiel Chinesen. Aber sobald es ins Wasser geht, kennen sie keine Grenzen. Nun ja, wenn man Jahrtausende auf einer kleinen Insel mit relativ wenig Anbaufläche verbringt, muss man das Meer vermutlich zu nutzen lernen. Und in der Hinsicht kann man den Japanern nun wirklich nichts vorwerfen. Einfach blind ein Griff ins Wasser rein und egal, was man rauszieht: schon ist das Abendessen gesichert. Seeigel, Tintenfische, Krebsdärme, Algen, Seegurken, vielleicht ein Wal – alles wird gegessen, kochen überflüssig!
So hätte Frau Watanabe mit Herrn Hoffmann auch lebende Tintenfische essen können. Einfach auf die Stäbchen gespießt, die zappelnden Tentakel drum herum gewickelt und hinein in den Mund. Und Fisch ist bei Weitem nicht das Einzige, was roh gegessen wird: Ein leckeres Pferde- oder Hühnchen-sashimi wird ebenfalls nicht verachtet. (Zugegeben: Rohes Pferde- oder Hühnerfleisch ist auch nicht seltsamer als das italienische Carpaccio. Und von den Froschschenkel essenden Franzosen wollen wir mal gar nicht anfangen. Aber sollte das wirklich der Maßstab sein?) Auch rohe Eier werden gerne mit Reis und Sojasoße vermischt gegessen – ein kleiner Extra-Proteinschub zwischendurch.
Sogar mit yakitori, einem sehr leckeren gebratenen Spieß mit Hühnerfleisch, ist man nicht immer auf der sicheren Seite. Die Spießchen können auch mit Hühnermagen, Hühnerhaut oder Hühnerknorpeln bestückt sein. Aber immerhin – hier wird noch das ganze Huhn genutzt, nichts wird weggeworfen.
Auch wer zum ersten Mal auf die Idee gekommen ist, eine Seescheide – ein wirbelloses Tier, das ähnlich wie ein Schwamm am Untergrund festsitzt und dort friedlich seine Nahrung einstrudelt – zu essen, muss entweder kurz vorm Verhungern oder geistig verwirrt gewesen sein. Denn lecker sehen die nun wirklich nicht aus. Trotzdem gelten sie in Essig eingelegt in Nordjapan als Spezialität. Auch Krabbenhirn, der giftige Kugelfisch und Baby-Aale werden nicht von der Tellerkante gestoßen. Teilweise gibt es auch regionale Spezialitäten, wie in Sojasoße eingelegte Heuschrecken oder Seidenraupen, für die sich aber auch nicht jeder Japaner erwärmen kann. Aber Japaner fischen nicht einfach nur im Meer herum. Sie sind auch sehr kreativ, wenn es darum geht, Geschmäcker neu zu kombinieren oder Nahrungsmittel mal in ganz anderer Form zu genießen. Zum Beispiel in Form einer Wasabi-Schokolade. Gut, zu Sushi schmeckt der scharfe, grüne Wasabi ja sehr gut, aber zu Schokolade? Und damit nicht genug, es gibt auch Wasabi-Bier, natürlich grün gefärbt.
Apropos Grün: Wer so richtig was für die Gesundheit tun will, kann ein Glas giftgrünes aojiru trinken – Grünkohlsaft. Oder wie wär’s mal mit einer anderen Eiscreme als immer nur Vanille oder Schokolade? Chicken-Wing-Eis, Aal-Eis oder Krabben-Eis sind nur ein paar der vielen Sorten. Es gibt sogar – wen mag das jetzt noch wundern – spezielle Sojasoße, extra für Eis.
Trotzdem – probieren Sie ruhig einiges aus. Vieles schmeckt viel besser als es sich anhört (oder aussieht) und es gibt ja auch jede Menge Gerichte ohne den geringsten Ekel-Faktor. Und Sie sind ja schließlich nicht nach Japan gereist, um dort jeden Tag Schnitzel zu essen. Aber Vorsicht! Wenn nun der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte und ein Ausländer all diese Speisen tatsächlich mag ... für den Fall haben die Japaner noch eine unfehlbare Geheimwaffe in petto, um die sogar viele Japaner einen Bogen machen: natto. Diese vergorenen Sojabohnen ziehen schleimige Fäden und riechen und schmecken – nun ja. Aber keine Sorge, wenn Sie Ihr natto stehen lassen. Ihre Gastgeber werden sich vermutlich diebisch freuen ...
Übrigens, falls Sie sich rächen möchten: Viele Japaner reagieren entsetzt auf die Vorstellung, dass wir in Deutschland Hasen oder Kaninchen essen. Auch die Vorstellung, ein solch kostbares Nahrungsmittel wie Reis mit Milch zu kochen und dann auch noch mit Zimt und Zucker zu verhunzen, ruft nicht gerade Begeisterung hervor. Oder Sie bieten zum Dank für das natto eine Runde Lakritz an – wetten, dass Sie in Japan noch weniger Lakritz-Fans finden als hierzulande?