Читать книгу "Brender ermittelt" - Kim Scheider - Страница 16

Köln Niehl, am späten Abend

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Karstens fühlte sich schlapp wie ein ausgewrungener Waschlappen, als er nach diesem unsäglichen Tag endlich auf dem Weg nach Hause war. Lange würde er sich dort allerdings nicht aufhalten können, bevor er sich wieder mit den Kollegen treffen wollte. Völlig frustriert hatten sie irgendwann eingesehen, dass sie vorerst einfach nicht weiter kamen und hatten beschlossen, sich wenigstens ein paar Minuten Ruhe und nach Möglichkeit auch eine Dusche zu gönnen.

Besonders Herwig hatte es verständlicherweise nach Hause getrieben. Er hatte sich zwar immer wieder telefonisch bei Susanne erkundigt, wie es ihr ging, doch so ganz hatte er ihr die Beteuerungen, sie käme schon klar, nicht abgenommen.

Karstens zollte beiden großen Respekt für ihre Tapferkeit. Seine Kollegen sagten ihm zwar immer wieder mangelnde Empathiefähigkeit nach und wenn er ehrlich zu sich selber war, musste er zugeben, dass sie damit vermutlich auch ganz richtig lagen. Gefühlsduseleien, die anderen schon Tränen der Rührung oder des Mitleids in die Augen trieben, ließen ihn zumeist kalt und seine heftigen Reaktionen auf den gewaltsamen Tod von Kitty, hatten ihn selbst wahrscheinlich am allermeisten überrascht. Das Verschwinden der Kinder, zumal er Lucca und Giuliano auch persönlich kannte, berührte ihn jedoch sehr und er litt mit den verzweifelten Eltern mit.

Als das Ermittlerteam sich schon im Aufbruch befunden hatte, war es noch zu einer sehr unschönen Szene im Büro gekommen.

Hülser stand plötzlich in der Tür, den üblichen hochroten Kopf voran. Nervös hatte er von einem zum anderen gesehen und dann die Katze aus dem Sack gelassen. Selbstverständlich war ihm aufgefallen, das Herwig eigentlich als befangen eingestuft werden müsste, da er persönlich von dem Fall betroffen war und das in einem Ausmaß, dass er “nicht für gut heißen oder gar verantworten könne”, wie er sich schließlich ausgedrückt hatte.

Herwig war förmlich ausgerastet, hatte gebrüllt und getobt, Hülser beleidigt und von seinem Team Unterstützung verlangt. Ihr Vorgesetzter hingegen hatte unbeeindruckt abgewartet, bis er fertig war und hatte stur, mit exakt dem gleichen Wortlaut seine Bedenken wiederholt. Verzweifelt über Hülsers Uneinsichtigkeit, flehte Herwig ihn schließlich unter Tränen an, weiter an den Ermittlungen dran bleiben zu dürfen.

”Ich kann unmöglich einfach zu Hause herumsitzen und euch hier machen lassen!”, hatte er verzweifelt geschluchzt. Doch Hülser ließ sich nicht erweichen und hatte Herwig kurzerhand vom Dienst suspendiert.

„Und das ist nicht etwa eine Empfehlung, Herwig,“ beendete Hülser die Diskussion genervt. „Betrachten Sie es als Befehl!“ Knallend war die Tür hinter ihm zugeschlagen und hatte sie wie betäubt zurückgelassen.

Ein wütendes Schnauben entfuhr Karstens, als er sich bei der Einfahrt in die heimische Tiefgarage an die Herzlosigkeit seines Vorgesetzten erinnerte.

Er mochte sich nicht ausmalen, was Torsten, zu Hause zur Untätigkeit verdammt, seine Frau Susanne und auch das Ehepaar Özkilic, das nach wie vor seinen Sohn Mustafa vermisste, jetzt durchmachten.

Alles was sie unternommen hatten, um irgendetwas über den Verbleib der mittlerweile drei entführten Kinder herauszufinden, war ins Leere gelaufen.

Der verdächtige Wagen von Feinkost Duvan hatte sich erwartungsgemäß als gestohlen entpuppt, doch trotz sofort eingeleiteter Fahndung, war er bislang nicht aufgetaucht.

„Mein Gott! Womöglich waren die Kinder sogar alle drei in dem Wagen, als ich beinahe mit ihm zusammengestoßen bin!“, hatte Werter entsetzt gestöhnt, als ihm dies klar geworden war.

„Wärst du doch nur...“, murmelte Karstens traurig.

Zugleich hatten sie jedoch auch noch einige andere Spuren weiter verfolgt.

Sie hatten Frau Gerber zum Präsidium gebeten, um ein Phantombild von dem falschen Polizisten zu erstellen, von dem sie glaubten, dass es sich um Lorenz Gehilfen Steve handelte. In der berühmt berüchtigten Verbrecherkartei hatten sie die Lehrerin auch nach ihm suchen lassen, aber sie hatte niemanden gefunden, der mit dem Mann, der die Frechheit hatte, sich als Ben auszugeben, übereinstimmte.

Entweder war er ein unbeschriebenes Blatt oder zu gewieft, als dass man ihm bislang auf die Spur gekommen wäre.

Immerhin hatte Anna Lorenz in dem Phantombild den Mann erkannt, mit dem Tom sie am Set überfallen hatte und ihr Verdacht, dass dieser Steve weiterhin als Komplize von Lorenz agierte, galt als gesichert.

Den Dienstausweis von Ben musste dieser Steve irgendwann bei Mascha entwendet haben. Die damalige Partnerin von Müllenbeck hatte ihn als Andenken an ihren verstorbenen Freund bekommen und bislang verwahrt. Dass er verschwunden war und an seiner Stelle der mittlerweile sattsam bekannte Handschuh lag, hatte sie erst bemerkt, als Herwig und Grzyek bei ihr aufgetaucht waren und danach gefragt hatten. Irgendwelche Spuren hatten sie nicht finden können. Selbst, wie es Steve gelungen war, in die Wohnung einzudringen, ließ sich, trotz gründlicher Arbeit der Kollegen von der Spurensicherung, vorerst nicht herausfinden.

Haferkorns unvermeidbarer Handschuh war am Ende schon keine aufregende Neuigkeit mehr gewesen, sondern hatte sich einfach nur noch ins Bild gefügt.

Da niemand Lösegeld oder andere Forderungen gestellt hatte, verstärkte sich der Verdacht, dass es sich um einen reinen Rachefeldzug von Tom Lorenz handelte. Welche Rolle Vivien Meyer dabei spielte, wollte sich Karstens jedoch nicht erschließen. Er konnte sich unmöglich vorstellen, dass die junge Frau ernsthaft mit Lorenz zusammen arbeitete. Jedenfalls nicht freiwillig.

Sollte er diesen Lorenz in die Finger kriegen, Karstens würde ungeachtet aller Konsequenzen keine Sekunde zögern, dieses Ungeheuer fertig zu machen.

Beinahe verbog er den Schlüssel in seiner Hand, als er ihn rücksichtslos in das Schloss rammte. Fluchend versuchte er es etwas vorsichtiger noch ein Mal und öffnete die Haustür.

Der Kommissar betrat den Flur und schauderte. Das gleiche unangenehme Gefühl, das ihn am Vortag schon beschlichen hatte, kroch ihm wieder in die Glieder und sein Herz begann zu rasen. Auch wenn er zu Kitty nie eine Beziehung hatte, ihr grausiger Anblick hatte ihn doch sehr getroffen.

Wieder einmal fragte er sich, woher Lorenz seine Informationen hatte. Woher hatte er gewusst, dass der Tod der jungen Frau ihn so mitgenommen hatte?

Normalerweise zauberte der Gedanke an Kittys grellrosa farbene Erscheinung stets ein für ihn eher seltenes Lächeln in sein Gesicht. Zumindest, wenn er den Behauptungen seiner Kollegen Glauben schenken sollte. Im Grunde verstand er ja selber nicht, was ihn an ihr so fasziniert hatte, zumal er der jungen Frau nur wenige Male und noch dazu nur in beruflichem Kontext begegnet war und sie, nebenbei bemerkt, vom Alter her eher seine Tochter gewesen sein könnte.

Mit seiner Ex-Frau Cathrin, das war eine für ihn ganz logische Geschichte gewesen. Ähnlich nüchtern und sachlich veranlagt, hatte sie zumindest bis zu einem gewissen Punkt Verständnis für seine oft befremdlich erscheinende Art gehabt. Hinzu kam ihr Intellekt, der ihn sehr gereizt hatte und bei ihrer Hochzeit hatte er tatsächlich einen Anflug von Glück empfunden. Doch trotz all der Vorzüge hatte es am Ende nicht für eine dauerhafte Lebensgemeinschaft gereicht und sie hatten sich noch während der Flitterwochen einvernehmlich getrennt.

Kitty hingegen war derart offensichtlich romantisch und „gefühlsduselig“, wie er es nannte, veranlagt gewesen, dass sie eigentlich nicht im Geringsten seinem Typ Frau entsprach. Und dennoch hatte sie ihn geradezu umgehauen und sein Weltbild kurzzeitig auf den Kopf gestellt.

Langfristig war ihm leider nicht vergönnt gewesen, denn während er kaum mehr über sie wusste, als ihren Namen und die Tatsache, dass sie als Sekretärin bei HFP arbeitete, hatte Tom Lorenz sich ihrer kurzerhand entledigt. Über Monate hinweg hatte er unter einer falschen Identität ihr Vertrauen erschlichen und so alles über Christoffer Frey erfahren, was er für seinen Rachefeldzug benötigte.

Doch Kitty drohte ihm auf die Spur zu kommen und er hatte sie in ihrer eigenen Wohnung erdrosselt.

Nie würde Karstens diesen Moment vergessen, in dem sie feststellen mussten, dass sie zu spät kamen und der jungen Frau nicht mehr helfen konnten. Der Anblick hatte sich auf ewig in sein Gedächtnis eingebrannt, ebenso wie der ihrer nahezu verwesten Leiche auf seinem Bett. Solange er noch kein neues hatte, würde er in jedem Fall auf der Couch schlafen.

In düsterste Gedanken versunken betrat der Kommissar seine Wohnung und blieb erst einmal in der Diele stehen. Es war ihm noch nicht einmal möglich, die schrecklichen Erinnerungen an Leichen und verschwundene Kinder, wenigstens für eine kurze Zeit aus seinem Kopf zu bekommen.

Je länger er sich in seiner Wohnung befand, desto intensiver drang ihm ein unangenehmer Geruch in die Nase. Er schob es auf seine Erinnerungen vom Vortag und glaubte, sich alles nur einzubilden. Nach allem, was sie in den letzten 24 Stunden erlebt hatten, war es auch kein Wunder, dass er langsam anfing, eine Paranoia zu entwickeln.

Mit trägen Bewegungen hängte er die Jacke an die Garderobe, legte seine Brille auf den Schuhschrank und rieb sich über die Druckstellen des Gestells auf seinen Nasenflügeln. Schließlich blickte er müde in den Spiegel und versuchte ein spöttisches Grinsen. Es gelang ihm kaum, die Mundwinkel zu heben, geschweige denn so etwas wie ein Grinsen hinzubekommen.

Er hatte mit seinen 49 Jahren - immerhin 27 davon bereits im Polizeidienst - schon eine Menge schlimmer Dinge gesehen. Grausam zugerichtete Menschen ebenso, wie völlig verängstigte und traumatisierte Kinder oder auch Leichen, die kaum noch als menschlich identifiziert werden konnten. Und wenn ihn seine Erfahrungen eines gelehrt hatten, dann, dass er seine mangelnde Empathiefähigkeit vielleicht besser als Segen, denn als Fluch begreifen sollte.

Dieser Fall jedoch nahm ihn deutlich mehr mit, als er wahrhaben wollte und das lag nicht nur daran, dass es Lorenz gelungen war, ihn mit dem Eindringen in seinen privaten Raum, tief zu treffen.

Vielmehr machte Karstens eine für ihn völlig neue Erfahrung. Es war das Schicksal und das Leiden seines Umfeldes, das ihn in einem Maße berührte, wie er es noch nie zuvor verspürt hatte. Er begann erstmalig in seinem Leben eine Ahnung davon zu bekommen, wie „normale“ Menschen empfanden.

Warum sie das Schicksal verschwundener Kinder zu Tränen rührte, beispielsweise.

Dass er eine Laufbahn als Polizist eingeschlagen hatte, war nicht etwa dem Wunsch entsprungen, solche Dramen zu verhindern. Da machte er sich bereits in jungen Jahren keine Illusionen. Es hatte schon immer, seit Bestehen der Menschheit, Gut und Böse gegeben. Daran würde er ganz sicher nichts ändern. Polizist war er geworden, um seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn Rechnung zu tragen. Nicht mehr und nicht weniger.

Nun eine solche emotionale Bindung zu einem Fall aufzubauen, erschütterte sein Weltbild zutiefst. Es war fremd und unerwünscht. Ebenso, wie die Tränen, die drohten, seinen Blick zu verschleiern.

Mühsam kämpfte er seine Frustration nieder und nahm sich vor, erst einmal zu lüften. Bei diesem Gestank konnte man ja nur auf schlechte Gedanken kommen. Auf dem Weg in die Küche, die eines der größten Fenster in der Wohnung hatte, bemerkte er, dass die Schlafzimmertür offen stand.

Er hatte sie aber geschlossen, bevor er das Haus verlassen hatte. Ganz sicher sogar.

Mit schlimmsten Vorahnungen schlich er sich vorsichtig an den Raum heran. Ein Schwall verbrauchter Luft, geschwängert mit dem Geruch fremden Schweißes drang ihm aus der Türöffnung entgegen. Als hätte eine ganze Schulklasse den halben Tag lang Hochleistungssport in seinem Schlafzimmer betrieben.

Karstens getraute sich kaum einen Blick hinein zu werfen. Als er es schließlich doch tat, hatte er das Gefühl, wahnsinnig werden zu müssen.

Panisch stürzte der Kommissar in den Raum, fühlte den Puls der nackten und gefesselten Frau auf seinem Bett, doch es war hoffnungslos. Sie war tot.

Vergewaltigt und zu Tode gefoltert, wie zahlreiche eindeutige Wunden zeigten.

Karstens war kurz davor durchzudrehen.

Wieder lag eine tote Frau in seinem Bett.

Und wieder war es eine Frau, die ihm einmal viel bedeutet hatte.

Seine Ex-Frau Cathrin.

Erschöpft und demoralisiert ließ er sich neben ihr zu Boden gleiten.

Erst da bemerkte er den an ihn adressierten Brief, der neben ihm auf dem Teppich lag.

Mit fliegenden Fingern öffnete er ihn und faltete das Papier auseinander.

Es war eine Nachricht von Lorenz.

Ich kann verstehen, dass du sie gleich wieder abgeschossen hast“, war dort zu lesen. „Sie verträgt ja wirklich gar nichts!

Das war zu viel für Karstens und was er sich zuvor noch versagt hatte, brach sich nun mit ungeheurer Macht Bahn. Dieses Mal gelang es ihm nicht, den Tränen Einhalt zu gebieten.



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