Читать книгу "Brender ermittelt" - Kim Scheider - Страница 8

Polizeipräsidium Köln Kalk, Kantine

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Eigentlich war ihnen der Appetit vergangen, aber da Werter die ganze Zeit über herummaulte, dass er jeden Moment einen grausamen Hungertod sterben würde und ohne etwas im Magen unmöglich weiter arbeiten könnte, hatten Grzyek, Herwig und Karstens sich überreden lassen, ihren Not leidenden Kollegen in die Kantine zu begleiten. Was auch gar keine so schlechte Idee war, da der Kaffee dort zugegebenermaßen besser schmeckte, als der aus der alten Maschine im Büro und sie sich nach der Sitzung bei ihrem Chef, Kriminaloberrat Hülser auch wirklich einen verdient hatten.

Wie üblich hatte er sich furchtbar aufgeregt, Erfolge verlangt, sich über die Schlechtigkeit der Welt im Allgemeinen und die offenkundige Unfähigkeit des Ermittlerteams im Speziellen und wieder von vorne aufgeregt. Neu war, dass er sich alle fünf Minuten irgendwelche Pillen einwarf, von denen er anscheinend glaubte, sie würden ihm helfen, sich zu beruhigen. Zu guter Letzt hatte er sie förmlich rausgeworfen, unter der Androhung, sie alle zurück zur Streife zu versetzen, sollten sie diesen Tom Lorenz nicht endlich dingfest und dieser ganzen unsäglichen Geschichte ein Ende machen.

Schweigend nippten die drei nun abwechselnd an ihren Getränken, während sie interessiert Werters Kampf mit dem hauseigenen Kantinendrachen beobachteten. Er hatte den Fehler begangen zu fragen, ob die Küche denn auch regionale Bioprodukte für ihre Gerichte benutzte und warum es nur ein Mal in der Woche ein vegetarisches Angebot gab. Ein Fehler, den er sicher so schnell nicht noch einmal begehen würde. Mit hochrotem Kopf brüllte Frau Matuschek, wie der Kantinendrache mit richtigem Namen hieß, den vollkommen unvorbereiteten Neuling zusammen. Unter anderem beschimpfte sie ihn als einen neunmalklugen Wichtigschwätzer, der wohl meine, bloß weil er einen tollen Abschluss habe, sei er was besseres, als sie einfache Küchenkraft und was er sich einbilde, mit seinen gerade mal abgeklungenen Pubertätspickeln im Gesicht hier zu stehen und ihre Arbeit zu kritisieren.

Sie hätten ihn natürlich vorwarnen können, aber da musste jeder Neuling durch. Was bei Sekten die Blut- und bei Gangs die Mutprobe war, entschied hier die erste Konfrontation mit dem Kantinendrachen. Wer überlebte hatte bestanden.

Im Grunde waren sie sich sicher, wie die Sache ausgehen würde. Frau Matuschek würde noch eine Weile vor sich hinbrüllen und Werter würde dann irgendwann doch die Currywurst mit Pommes bestellen, bloß damit sie endlich Ruhe gab. So ging es jedenfalls meistens aus.

Doch da hatten sie Werter unterschätzt. Ruhig stand er da und wartete ab, bis sie ihre Tiraden unterbrechen musste, um Luft zu holen, dann legte er los.

„Erstens, liebe Frau...”. Er sah sich suchend nach einem Namensschild um, fand es und sprach mit ruhiger Stimme weiter. “Erstens, liebe Frau Matuschek, habe ich Sie nicht kritisiert, sondern Ihnen lediglich zwei einfache Fragen gestellt. Ein “keine Zeit, kein Geld, kein Personal” hätte mir als Erklärung völlig gereicht. Und zweitens, wehrte Frau Matuschek, ist der Wunsch nach gesunder Ernährung weder eine Frage der Bildung, noch des Alters, sondern für meine Begriffe eine Frage des gesunden Menschenverstandes!”

Das saß.

Der Kanaldrache mutierte kurzzeitig zum Seeungeheuer, das hilflos nach Luft schnappte. Man sah ihr an, dass sie nach einer wahrhaft vernichtenden Antwort suchte, doch scheinbar fiel ihr nichts passendes ein. Werter stand freundlich lächelnd vor ihr, die personifizierte Ruhe, was sie sicher noch wütender machte.

Schließlich geschah das Unfassbare: Matuschek kämpfte die Wut mühsam nieder, rang sich ein “Was darf es dann jetzt sein?” ab und klatschte ihm lieblos eine Ladung des gewünschten Salates auf den Keller.

“3,80€!”, fauchte sie, kassierte und entschwand.

Darauf brauchte sie wohl erst mal eine Beruhigungszigarette. Oder zwei.

Werter setzte sich zu ihnen an den Tisch und begann den Salat in sich hineinzuschaufeln, als sei nichts gewesen. Erst als er bemerkte, dass die anderen ihn ansahen, als sei er ein besonders exotisches Lebewesen, unterbrach er seine Mahlzeit.

“Was?”, fragte er verständnislos.

“Nichts, alles gut!”, beeilte Grzyek sich zu sagen und nahm hastig einen Schluck von ihrem Kaffee.

“Was ist so schlimm daran, wenn man sich gesund ernähren möchte?”

“Nichts. Ich sag ja, alles ist gut!”

Misstrauisch sah er von einem zum anderen, doch als nichts mehr kam, aß er schließlich weiter.

“Wenn du dann fertig bist, mit der gesunden Ernährung”, sagte Herwig schmunzelnd, “fühlst du dich dann vielleicht im Stande, uns von deinen Suchergebnissen berichten?”

Grzyek und er hatten den Morgen überwiegend mit ihren Handschuhen bei den Kollegen von der Spurensicherung verbracht. Karstens hingegen war bei dem Friedhofsverwalter, der die Grabplünderung inzwischen bei der Polizei gemeldet hatte und ihm versicherte, in seiner gesamten Berufslaufbahn noch nichts derartiges erlebt zu haben.

“In über vierzig Jahren habe ich so etwas noch nicht gehabt. Der Albtraum meines Berufsstandes schlechthin!”, schimpfte er und schien die Tatsache, dass es nun doch noch passiert war, fast persönlich zu nehmen.

Anschließend hatten sie sich die von Hülser zu erwartende Standpauke abgeholt und deshalb noch keine Zeit gehabt sich anzuhören, was Werter inzwischen über die Adresse herausgefunden hatte, die der Absender der Päckchen angegeben hatte. Oder gar Näheres zu seiner “Fehdehandschuhe-Theorie“ zu erfahren.

“Klar, kleinen Moment noch”, nuschelte er kauend und schob die nächste Gabel voll Grünzeug nach.

Grzyek fühlte sich an einen Moment erinnert, als sie im vergangenen Jahr noch mit Ben Müllenbeck an den Brender-Morden gearbeitet hatten. Kurz bevor Lorenz ihn erschossen hatte. Müllenbeck hatte auch gerne mit vollem Mund gesprochen. Nur nicht unbedingt mit politisch korrektem Inhalt.

Sie vermisste den jungen Kollegen mit den unkonventionellen Methoden nach wie vor sehr. Auch wenn sie im Team einen Weg gefunden hatten, ohne ihn weiterzumachen und mittlerweile wieder ein freundschaftliches Klima herrschte, hatten die Geschehnisse doch bleibende Spuren hinterlassen.

Besonders Herwig hatte sich lange mit Selbstzweifeln und Vorwürfen geplagt und Hülsers Ansage vorhin, hatte alte Wunden bei ihm aufgerissen. Herwig versuchte zwar, es sich nicht anmerken zu lassen, aber sie kannte ihn zu gut, als dass er ihr etwas hätte vormachen können. Sie hoffte nur, dass seine Verzweiflung nicht wieder in Jähzorn umschlug. Noch einmal würde sie ihren Chef so nicht ertragen können.

Werter schob geräuschvoll den Teller beiseite und kramte einen Schmierzettel aus seiner Hosentasche. Kurz befürchtete die Kommissarin, er würde sich damit den Mund abwischen, aber er faltete ihn ordentlich auseinander und strich ihn sorgsam glatt.

“Fresiaplain No.3 in Kerkrade, die Adresse gibt es tatsächlich”, begann er schließlich mit der Zusammenfassung seiner Ergebnisse. “Einen Joost van Faaht” allerdings erwartungsgemäß nicht. Die Kollegen von Interpol konnten in ganz Holland niemand diesen Namens ausmachen. Allerdings sind die holländischen Kollegen noch unterwegs, um Anwohner der Fresiaplain und die Mitarbeiter der Postdienststelle zu befragen, bei der er die Päckchen aufgegeben hat. Ich habe ihnen ein paar Bilder aus Lorenz Akte geschickt und das Phantombild, das ihn mit der Verletzung im Gesicht zeigt. Vielleicht hören wir ja bald von ihnen.”

Nachdenklich sah er seine Kollegen an.

“Und ihr seid euch sicher, dass nur dieser Lorenz in Frage kommt? Immerhin dürfte es ja einige Leute geben, denen ihr ordentlich auf die Füße getreten habt.”

“Ja, aber keiner von denen würde mir Kitty ins Bett legen”, erwiderte Karstens.

“Wer war diese Kitty denn überhaupt?” Werter, der nicht nur erst vor kurzem zu ihrem Team hinzu gestoßen war, sondern auch erst seit wenigen Wochen in Köln lebte, hatte in seiner fernen Heimat in Bayern nur das mitbekommen, was in der Presse verbreitet worden war. Nun wollte der 27jährige Kommissar die Geschichte endlich aus erster Hand hören.

Bislang hatte er sich gescheut, nachzufragen, weil ihm klar war, dass seine Kollegen noch ziemlich an der Sache zu knabbern hatten und er nicht in ein Hornissennest stechen wollte. Jetzt schien die Geschichte aber wieder akut zu werden und darum befand er, dass es an der Zeit war, ihn aufzuklären. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, war keiner von ihnen scharf darauf, diese Aufgabe zu übernehmen. Schließlich war es Grzyek, die sich zusammen nahm und ihm erzählte, was seinerzeit vorgefallen war.

“Alles ging los mit diesen schrecklichen Videos”, begann sie schaudernd. “Grauenhaft! Die Taten waren denen in der Serie nachgestellt und so kamen wir schnell zu dem Namen der SoKo “Brender ermittelt”, was Torsten gar nicht geschmeckt hat. Er hasst Christoffer Frey!”

Sie warf Herwig einen vorsichtigen Seitenblick zu, wohl um sich zu vergewissern, dass sie mit dieser Aussage nicht zu weit gegangen war. Aber der nickte sogar bestätigend. Auch die Tatsache, dass Frey sich rührend um Herwigs Sorgenkind Anna gekümmert hatte, schien an seiner Abneigung gegenüber dem Schauspieler nichts verändert zu haben. Waffenstillstand – mehr war wohl zwischen den beiden nicht drin.

Und so erzählte sie, während Karstens sie alle noch mit einer weiteren Runde Kaffee versorgte, wie sie zeitweilig sogar Frey selbst in Verdacht hatten, hinter den Taten zu stecken. Sie berichtete von Ben Müllenbecks Glanzleistung, über ein einschlägiges Internetportal an den wahren Täter herangekommen zu sein und wie ihn dies schließlich das Leben kostete. Von der Entführung Christoffer Freys und Anna Lorenz, weil Tom glaubte, ihn belastendes Material von dem Schauspieler erpressen zu können und von der katastrophalen Befreiung der Geiseln, bei der nicht nur viele Kollegen ihr Leben verloren hatten, sondern es Lorenz auch noch schwer verletzt gelungen war, zu fliehen. Und wie er schließlich bei den Dreharbeiten durch seinen Überfall auf Anna ein Zeichen gesetzt und die Polizei damit erneut verhöhnt hatte.

Und nun diese Handschuhe.

Aus schwarzer, feiner Spitze gewobene Handschuhe.

Natürlich hatten sich über die Spurensicherung keine Hinweise ergeben, dafür war Lorenz viel zu gerissen und leider auch zu erfahren. Sollten die Kollegen aus den Niederlanden nicht zufällig bei ihrer Befragung in Kerkrade, der kleinen Grenzstadt nahe Aachen, einen Treffer landen, stünden sie ohne Anhaltspunkte da und würden Lorenz die Initiative überlassen müssen.

Was sicher auch seine Absicht war.

“Diese Sache mit den Fehdehandschuhen”, fragte Grzyek. “Was hat es damit auf sich, Matthias?”

Werter überlegte, wo er am besten anfing.

“Der Begriff “Fehde”, sagt er dir etwas?”, fragte er schließlich, wohl um einschätzen zu können, ob er ganz bei Adam und Eva beginnen musste oder ob die Kurzversion reichte.

“Naja, Romeo und Julia, da war doch was mit einer Fehde zwischen den Familien der beiden”, sagte Grzyek unsicher, ob sie richtig lag. Klassische Literatur war nicht unbedingt ihr Steckenpferd.

“Ja, das dürfte wohl eines der bekanntesten Beispiele sein. Und der extremsten. Eine Fehde hatte, selbst in ihren Ursprüngen bei den Germanen nicht immer gleich Mord und Totschlag zur Folge. Allerdings ist es das, was so ziemlich jeder heute unter einer Fehde versteht: Blutrache -Vendetta!”

“Schön und gut”, meinte Karstens. “Aber was hat das nun mit unseren Handschuhen zu tun?”

Werter richtete sich auf und machte ein Gesicht, wie ein Dozent an der Hochschule, der vor einem Haufen wissbegieriger Studenten einen Vortrag hält.

“Ursprünglich gab es den Fehdebrief, mit dem man sein Ansinnen nach Vergeltung für was auch immer bekannt gab. Später gab es auch andere Symbole, die diesem Zweck dienen konnten: Münzen, die man vor die Füße geworfen bekam oder eben den Fehdehandschuh, der einem ins Gesicht geschlagen wurde, als Herausforderung zum Ehrenkampf. Oder der einem vor die Tür gelegt wurde.”

“Oder ins Bett”, unterbrach Karstens ihn erneut.

Ohne seinen Einwand zu beachten, fuhr Werter fort. “Wenn man ihn aufhob, nahm man die Herausforderung an. In der extremsten Form, der Ultima Ratio, konnte das bis hin zur Ausrottung einer ganzen Sippe samt Gefolgschaft gehen.”

“Moment mal”, rief Herwig und knallte seine Kaffeetasse so heftig auf den Tisch, dass sich die Hälfte des Getränks darauf verteilte. “Soll das heißen, unsere Familien sind auch in Gefahr?”

So weit hatte er noch gar nicht gedacht. Bis jetzt war er davon ausgegangen, Lorenz habe ihnen möglichst theatralisch eine Morddrohung zukommen lassen, aber wenn Werter recht hatte, wäre quasi jeder in ihrem Umfeld in Gefahr!

Das hilflose Achselzucken seines Kollegen, bestätigte seinen Verdacht.

Schweigend versuchte jeder für sich zu realisieren, was das bedeutete.

“Ob er wohl nur euch drei im Visier hat?”, fragte Werter leise. “Oder vielleicht auch den Schauspieler? Oder diese Anna?” Eigentlich hatte er nur laut gedacht, aber der Gedanke, dass auch andere Beteiligte Post erhalten hatten, war natürlich nicht abwegig.

Einen Moment herrschte Stille, dann sprangen alle wie auf ein geheimes Kommando auf.

“Rina, Jojo, ihr macht sofort eine Liste aller Personen in eurem Umfeld, auf die Lorenz es abgesehen haben könnte!”, wies Herwig seine Leute hektisch an. “Ich werde dasselbe tun und du Matthias, du rufst bei Anna Lorenz, Christoffer Frey und Walter Haferkorn an und erkundigst dich, ob sie auch eine Botschaft von Lorenz erhalten haben. Und bei den beiden Özkilics. In einer halben Stunde treffen wir uns bei Hülser. Wir brauchen Verstärkung, wir brauchen Personenschutz...”

Dass der Kantinendrache ihm noch hinterher rief, für wen er sich halte, dass er noch nicht einmal seine Sauerei vom Tisch wegwischte, bekam keiner von ihnen mehr mit.



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