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Köln Mediapark, später Vormittag

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Unfassbar laute Musik riss Christoffer Frey aus seinen Träumen von Urlaub in der Karibik mit Surfen, Kite-Board fahren und eisgekühlten Cocktails.

Schlaftrunken wie er war, dauerte es einen Moment, bis er registrierte, dass die Geräusche von seinem Smartphone kamen, das direkt neben seinem Ohr lag.

Welcher Idiot hatte es denn bitte schön da hingelegt?

Fünfzehn Sekunden gnadenloses Gebimmel später begriff er endlich, dass er nicht etwa zu Hause in seinem Bett lag, sondern allem Anschein nach mit dem Gesicht auf der Tastatur seines Rechners am Firmenschreibtisch eingeschlafen war.

Er wollte doch nur kurz die Augen zugemacht haben.

Erbarmungslos plärrte das Gerät weiter vor sich hin, so dass er sich langsam genötigt fühlte, doch mal dranzugehen.

Er war so todmüde, er konnte höchstens ein paar Minuten geschlafen haben. Andererseits, den Schmerzen am ganzen Körper nach zu urteilen, musste er sogar mehrere Stunden so gelegen haben. Mühsam versuchte er sich aufzurichten.

“Ist ja gut, ich komme ja schon”, hatte er sagen wollen, doch seine steifen Muskeln ließen ihn nur schmerzgeplagt aufstöhnen. Bis er endlich den Arm Richtung Smartphone bewegt und ein halbwegs verständliches “Frey” rausgewürgt bekam, hatte der Anrufer allerdings aufgegeben.

Mürrisch sah er nach, wer es gewesen war und sofort besserte sich seine Laune. Anna hatte angerufen. Das musste bedeuten, dass sie und Vivien wieder zurück waren.

Schön!

So konnte ja vielleicht doch noch was aus diesem Tag werden. Schnell rief er sie zurück und stellte fest, dass er sich wirklich freute, ihre Stimme zu hören.

“Hallo Anna, Chris hier. Sorry, ich war eingeschlafen und hab's nicht rechtzeitig geschafft ranzugehen. Wie war euer Kurzurlaub an der See?”

Ein Redeschwall ging auf ihn nieder, der sein schläfriges Hirn deutlich überforderte. Was er aber heraushörte war, dass es ihr ganz offenkundig gefallen und vor allem gut getan hatte. Das freute ihn. Wenn jemand ordentlich Balsam für die Seele verdient hatte, dann war es Anna Lorenz. Die Frau, die einen zufälligen Zusammenstoß mit ihm, beinahe mit ihrem Leben bezahlt hatte.

Bis heute waren die Wunden, die Tom und seine Gehilfen ihr zugefügt hatten, nur notdürftig verheilt, von den seelischen Verletzungen ganz zu schweigen. Niemals würden diese heilen, nicht wirklich. Aber vielleicht gelang es ihr irgendwann einen Weg zu finden, mit ihren Erlebnissen zu leben, ohne darüber den Verstand zu verlieren. Die unzähligen Narben, die sie täglich wieder an alles erinnerten, machten die Sache nicht unbedingt leichter.

Jetzt aber war sie so gut drauf, wie er sie noch nie erlebt hatte.

“Wir waren heute Morgen noch am Strand!”, erzählte sie begeistert. “Unglaublich, dass das erst ein paar Stunden her ist! Wenn ich aus dem Fenster sehe, will das Bild einfach nicht mit dem überein passen, was ich fühle. Mann, ist Köln eng!”

Ja, das Gefühl kannte Frey zur Genüge.

“Schön, dass es dir so gut gefallen hat. Seit ihr denn schon empfangsbereit? Schließlich haben wir noch was zu feiern.”

Anna lachte hell auf. Noch nie hatte er sie so unbefangen lachen hören.

“Unsere Wiederauferstehung?”, scherzte sie. “Wir sind zwar noch mit Auspacken beschäftigt und Post sichten und dergleichen, aber, klar, komm vorbei! Bis du hier bist, haben wir uns schon wieder häuslich eingerichtet. Zumindest für einen Kaffee sollte es reichen.”

Frey konnte gar nicht glauben, wie gesprächig Anna war. Er sollte sie vielleicht auch mal an die See schicken. Offenbar tat ihr das wirklich gut.

“Ich mach mich gleich auf den Weg. Bis dann!”

Sie hatte das Zauberwort gesagt: Kaffee! Es gab nichts, was er jetzt dringender brauchte, als Unmengen von Koffein. Sein Kreislauf meldete sich schon wieder und das, obwohl er saß. Langsam wurde die Angelegenheit wirklich lästig. Womöglich kam er da doch nicht um einen Arztbesuch herum. Aber jetzt gab es erst mal Kaffee in netter Gesellschaft, das würde ihn schon wieder gerade rücken.

Auf dem Weg zum Parkplatz begegneten ihm Walter Haferkorn und der “Arme”, wie Frey ihren neuen Pressesprecher nannte. Anfangs war Frey sich sicher gewesen, dass Walter den Mann nur aus Mitleid eingestellt hatte. Welcher Dreißigjährige hieß heute schon noch Richard? Und dann auch noch Wagner? Armer Kerl!

Es hatte sich aber schnell herausgestellt, dass Richard nicht nur ein sehr sympathischer und humorvoller Mensch, sondern auch ein wirklich fähiger Ersatz für Bernd Breckerfeld, seinen treulosen Vorgänger, war. Seinen Spitznamen hatte er trotzdem weg.

Zwar besaß der „Arme“ offenbar die gleiche Vorliebe für maßgeschneiderte Anzüge wie Breckerfeld. Im Gegensatz zu Bernd, der trotz edler Stoffe stets schmierig und ungepflegt gewirkt hatte, sah Wagner damit aber auch wirklich gut aus. Maike, die Maskenbildnerin, hatte gleich am ersten Tag geschwärmt, Wagner könne glatt einem Hochglanzmagazin entsprungen sein. Und wie er Frey gerade mit Haferkorn entgegen kam, knapp 1,90 Meter groß, mit lässig aufgeschlagenem Hemdkragen und seinem gewinnenden Zahnpasta-Lächeln, musste der Schauspieler ihr insgeheim zustimmen. Dass Wagner auch über den zugehörigen Körperbau verfügte, ließ sich selbst unter mehreren Lagen des feinen Zwirns noch erahnen.

“Na mein Junge,” dröhnte Haferkorns tiefer Bass Frey entgegen. “Willst du schon wieder weg?”

Frey kannte den 56jährigen Filmproduzenten und seine Frau Elli schon über zwei Jahrzehnte. Die ehemaligen Nachbarn seiner Pflegeeltern hatten sich um den orientierungslosen Teenager gekümmert, hatten seine Talente gefördert und über die Jahre war besonders Walter zu einem väterlichen Freund für ihn geworden. Seit einiger Zeit waren sie nun auch noch Geschäftspartner in der Produktionsfirma “HFP” - Haferkorns Film Produktionen.

“Bin auf dem Weg zu Anna, Jahrestag feiern”, antwortete Frey.

Ein Schatten huschte über Haferkorns breites Gesicht. Auch er war in die Geschehnisse rund um die Brender-Morde und Freys Entführung involviert gewesen und fühlte sich bis heute für den Tod ihrer Sekretärin Kitty verantwortlich. Niemand konnte ihm das ausreden. Dabei hatte keiner von ihnen ahnen können, dass Kittys Freund in Wahrheit nicht Daniel Pfeiffer, sondern Tom Lorenz hieß und nicht der nette Kerl war, für den er sich ausgab.

Als wolle er die finsteren Gedanken wegwischen, rieb Haferkorn sich über seine in fast zwei Metern Höhe befindliche Glatze und begann mit ihr um die Wette zu strahlen.

“Dass ihr euch immer noch nicht gekriegt habt”, polterte er mit einem schelmischen Grinsen. “Das soll mal jemand verstehen. Ihr würdet so ein nettes Pärchen abgeben!”

“Was nicht ist, kann ja noch werden,” rief Frey unverbindlich und verschwand mit eiligen Schritten zu seinem Auto, bevor Haferkorn weiter an diesem Thema rühren konnte.

Natürlich würden sie ein großartiges Paar abgeben und nichts wäre ihm lieber als das. Aber er hatte keine Lust, jetzt vor dem “Armen” auszubreiten, was ihn davon abhielt, Anna seine Gefühle für sie zu offenbaren. Das ging Richard einfach nichts an. Es reichte auch so schon, dass quasi ganz Deutschland über Hintergründe zu ihrem Leben informiert war, die eigentlich privat hätten bleiben sollen. Die Klatschpresse hatte noch Monate nach dem tragischen Ende ihrer Geiselnahme nicht das Interesse an ihrem „Schicksal“ verloren.

Ganz abgesehen davon, wäre das auch nicht mal eben so erklärt. Es gab viele Gründe für seine Zurückhaltung. Annas Vergangenheit hatte nichts damit zu tun. Es war kein Problem für ihn, dass sie ihr halbes Leben als Prostituierte, zuletzt gar als Domina gearbeitet hatte. Er war bislang wahrlich kein Kostverächter gewesen und hatte schon sexuelle Beziehungen zu Frauen mit noch wesentlich zweifelhafterem Ruf gehabt.

Aber Anna war ihm zu wertvoll, als dass er ihr gutes Verhältnis zueinander durch einen Schnellschuss hätte gefährden wollen. Was, wenn ihre Beziehung, wie all seine Liebesgeschichten bisher, irgendwann scheitern würde? Ihre Freundschaft wäre dann sicherlich auch zerstört.

Schon in dem Augenblick, als sie ihm vor dem Hotel in die Arme stürzte, war es um ihn geschehen gewesen. Doch die unmittelbar darauf folgende Entführung und alles, was dann geschah, machten es ihm unmöglich, ernsthaft an eine feste Beziehung zu denken. Tom Lorenz hatte dafür gesorgt, dass Anna sich vermutlich nie wieder einem Mann hingeben würde und wenn, dann musste die Initiative von ihr selbst ausgehen. Er wollte sie auf keinen Fall zu irgendwas drängen.

Momentan begnügte er sich also damit, ab und an ihre Gesellschaft zu genießen und sich an den Fortschritten ihrer Genesung zu erfreuen.

Für Kölner Verhältnisse kam er sogar erstaunlich gut durch und so dauerte es nicht lange, bis er mit einem Kribbeln in der Magengegend vor Annas Tür stand und die Klingel neben dem Schild Lorenz/Meyer drückte.

“Ja?”, hörte er Viviens Stimme aus dem Lautsprecher.

“Champagnerlieferservice”, rief er. “Ich habe hier eine Lieferung für...”

Keine Sekunde später summte der Türöffner und er betrat grinsend den Flur.

In der Hoffnung, dass man ihm sein unfreiwilliges Nickerchen auf der Tastatur des Rechners nicht allzu sehr ansehen würde, strubbelte er mit geübter Geste durch sein dichtes, stets etwas zu langes schwarzes Haar und pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.

Frey wusste ganz genau um seine Wirkung auf Frauen, schließlich bescheinigten ihm sogar Kritiker und Neider ein umwerfendes Äußeres und einen geradezu unwiderstehlichen Charme. Er hatte sich auch nie gescheut, diesen Umstand für seine Zwecke auszunutzen. Aber für Anna wollte er tatsächlich gut aussehen. Schon alleine, damit er sich nicht ganz so sehr wie ein liebeskranker, pickliger Teeny fühlte, was er sich selbst gegenüber allerdings nie zugeben würde. Die Tatsache, dass er es diesmal war, der erobern wollte, war für ihn eine gänzlich neue Erfahrung, die ihn zutiefst verunsicherte. Normalerweise war er derjenige, der sich von einer reichhaltigen Auswahl erobern ließ.

Immerhin hatte er drei Stockwerke Zeit, sich herzurichten und so konnte er halbwegs sicher sein, dass die Frisur saß, als er oben ankam.

Viviens derzeit dunkelroter Lockenkopf erschien aus dem Badezimmer, als er gegen die offen stehende Wohnungstür klopfte und strahlte ihn an.

“Hi Chris,” rief sie gut gelaunt. “Anna ist im Wohnzimmer.” Dann war sie wieder verschwunden.

Frey fragte sich, wie man in drei Tagen so viel Bräune abbekommen konnte, aber als er auf dem Weg ins Wohnzimmer am Bad vorbei kam, beschlich ihn der Verdacht, dass Vivien mit etwas Schminke ordentlich nachgeholfen hatte.

Ein ganzes Sammelsurium an Döschen und Tuben umgab das winzige Waschbecken. Und so ziemlich alle schienen gerade benutzt worden zu sein. Beruhigend zu wissen, dass er nicht alleine war mit seiner Eitelkeit. Grinsend ging er auf das Wohnzimmer zu und spähte erwartungsvoll hinein.

Anna saß auf dem Sofa und hielt etwas in den Händen, dass sie still betrachtete. Sie schien noch gar nicht mitbekommen zu haben, dass er dort stand und war tief in Gedanken versunken. Einen Moment lang beobachtete er die junge Frau, die seine Gefühlswelt derart auf den Kopf gestellt hatte. Die zarte Gestalt täuschte darüber hinweg, was für eine ungeheure Kraft und welchen eisernen Willen sie hatte. Ihre nach wie vor kurz geschnittenen dunklen Haare umrahmten ihr hübsches Gesicht und glänzten im Licht der Frühlingssonne, die durch das große Fenster des Altbaus beinahe den ganzen Raum durchflutete. Wie sie so da saß, wirkte sie wieder genauso zerbrechlich und hilflos, wie im Februar, als Tom Lorenz plötzlich bei den Dreharbeiten aufgetaucht war.

Anna hatte an diesem Tag eine Gastrolle gespielt und es war ihnen bis heute unbegreiflich, wie Tom davon gewusst haben konnte. Er hatte sie auf der Toilette abgefangen und versucht, sie durch eine Spritze mit Heroin wieder abhängig zu machen, was ihm jedoch nicht gelungen war. Der befürchtete Rückfall war dank sofortiger medizinischer Überwachung und Annas starkem Willen nur sehr schwach ausgefallen. Aber es war das erste und bislang einzige Mal gewesen, dass der flüchtige Massenmörder und Psychopath sich öffentlich gezeigt hatte und er hatte ihr versprochen, dass sie wieder von ihm hören würden. Bis jetzt war das zum Glück ausgeblieben, was Freys Hoffnung nährte, dass Lorenz allmählich das Interesse an ihnen verloren hatte.

“Komm doch rein”, sagte sie leise.

Sie hatte ihn also doch bemerkt. Was war nur in der letzten halben Stunde passiert, dass sie derart verändert hatte? Von der lustigen und gut gelaunten Anna von vorhin war nichts mehr übrig. Besorgt eilte Frey um die Couch herum und setzte sich neben die junge Frau, die ihn traurig ansah.

“Ich denke, es geht wieder los”, sagte sie und reichte ihm ein schön gearbeitetes Holzkästchen, das noch halb in Paketpapier eingewickelt war. Als er es vorsichtig aufklappte, sah er zum ersten Mal einen der schwarzen Spitzenhandschuhe.



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