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Bild der heilen Familie wahren

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Professor Jan Schröder lehnt sich zurück in den Sitz. Soeben hat man Entwarnung gegeben. Die Passagiere des Trans-Atlantik-Fluges können ihre Sicherheitsgurte wieder öffnen. Die Maschine ist halb leer. Bis zum Morgen hatte der Streik der Flugzeug-Kapitäne gedauert. Viele Passagiere, die zunächst auf dem Flughafen gestrandet waren, sind auf andere Linien oder die Bahn oder den Bus umgestiegen. Auch der Flug, den Jan gebucht hatte, sollte ausfallen. Völlig überraschend hob die Maschine dann aber doch ab. Es war der erste Flug nach Beginn der unbefristeten Streiks vor drei Tagen. Die Streikleitung meinte wohl, sie müsse “gut Wetter machen”. Denn das Verkehrschaos, das die Mini-Gewerkschaft der Piloten angerichtet hatte, war alles andere als populär. Schließlich konnten die wenigsten Menschen nachvollziehen, dass das Gros der Bevölkerung für denselben Lohn länger arbeiten sollte, wohingegen die ohnehin fürstlich dotierten Flugkapitäne der 'Lufthansa' weiterhin einige Jahre früher als die meisten Ottos Normalverbraucher in Rente gingen. Mit dem Streik wollten die Cockpit-Gewerkschafter außerdem erreichen, dass ihre saftigen Übergangszahlungen bis zum eigentlichen Rentenbeginn auf keinen Fall gekürzt werden. 'Ist-Stand-Wahrung von viel Geld für kurze Arbeitszeit,' hat Jan die Forderungen der kleinen Monopol-Gewerkschaft genannt.

Jan Schröder lässt den Blick durch die Kabine schweifen. In seinem hell-grauen Anzug, weißem Hemd und rotem Schlips sitzt er am Gang. Die Reihe vor ihm ist nicht belegt. Auf den Plätzen links neben ihm hat sich eine Familie mit drei Kindern eingerichtet. Die Erwachsenen haben sich in Decken gehüllt. Sie rutschen unruhig auf dem harten, schmalen Sitzpolster umher, bis sie eine günstige Position gefunden haben. Für die Kinder war der Sicherheits-Hinweis das Signal, von ihren Sitzen zu springen. Sie erkunden nun die langen Gänge, die zum Cockpit führen. Der Kleinste der drei spielt sein Spiel “Sicherheitskontrolle”. Mit ernster Miene geht von einer Sitzreihe zur nächsten. Er spricht die Passagiere freundlich an. “Du brauchst den Sicherheitsgurt nicht mehr. Erst wieder bei der Landung”, sagt der Knirps zu jedem Reisenden. Die meisten Passagiere reagieren zunächst etwas verblüfft. Doch wenn sie erkennen, dass sie mitspielen sollen, danken sie dem Kind mit freundlichem Händeschütteln. Der Junge sagt, im Kindergarten spielen sie oft “Sicherheitskontrolle”. Weil ja dauernd und überall über Sicherheit und über die Forderungen nach mehr Sicherheit gesprochen wird.

Die Stewardessen beginnen mit dem Service. Sie schieben voll beladene Wägelchen vor sich her. Heißer Kaffee ist der Renner. Der Preis ist im Ticket inbegriffen. Für das Frühstück interessieren sich die wenigsten. Denn das kostet extra. Auf den freien Plätzen neben seinem Sitz hat Jan Zeitungen abgelegt, die den Passagieren beim Einsteigen angeboten worden waren.

Auf den Titelseiten prangt in dicken Lettern “Aufrüstung im Anti-Terror-Kampf”, “Mehr Geld für Anti-Terrorkampf gefordert” oder “Kampfansage an Terroristen”. Jan greift die oberste Zeitung und legt sie kopfüber zurück auf den Sitz. Er rümpft die Nase. Seine beklemmenden Gefühle, die ihn seit dem Check-In begleiten, hat er noch nicht abgebaut. Nach stundenlangem Warten auf dem überfüllten Flughafen hatte man die Passagiere intensiven Sicherheitskontrollen unterzogen. Jan sollte seinen Zigaretten-Anzünder registrieren lassen und in Verwahrung geben. In New York sollte er den Anzünder zurückbekommen. Großzügig verzichtete er auf das Angebot und warf den Zünder in den nächsten Mülleimer. Als vor einiger Zeit die sogenannte Ganzkörper-Kontrolle eingeführt wurde, hatte Jan sich vorgenommen, nur noch dann zu fliegen, wenn es unvermeidbar war. Die immer währenden Staus auf überfüllten Straßen und Autobahnen wollte er in Kauf nehmen. Jan hatte überlegt, mit dem Schiff nach Amerika zu reisen. Doch zwei mal je eine Woche Schiffsreise über den Atlantik kamen für ihn nicht in Frage. Also blieb ihm nur der Flieger.

Für sich und seine Reisebegleiter hat der Professor die Holzklasse gebucht. Die Universität, die seine Exkursion zu den Vereinten Nationen finanziert, hat ihm zwar einen bequemen Sitz in der Business Class zugestanden. Doch Jan hat entschieden, genau wie seine Studenten zu reisen. Nicht mehr und nicht weniger luxuriös. Weil er das günstigere Ticket wählte, können nun alle einen Tag länger in den USA bleiben: einen extra Tag zur freien Verfügung im Anschluss an Vorträge, Konferenzen und Besichtigungen.

Mindestens ein Dutzend mal hat Jan Exkursionen nach New York organisiert und begleitet. Diesmal gehören seiner Gruppe 14 Studenten der Politikwissenschaft an. Die vier jungen Frauen und zehn jungen Männer sitzen auf den Plätzen hinter Jan. Mehrere verstecken ihre Köpfe hinter Büchern oder Zeitungen. Andere reden engagiert miteinander. Sie erwecken den Eindruck, als gäbe es nichts Wichtigeres als ihr Thema. Zwei Studenten versuchen zu schlafen. Sie haben kleine, weiße Kopfkissen zwischen den Kopf und die steife Rückenlehne geklemmt. Noch kämpfen sie darum, wessen Arm auf der Armlehne zwischen beiden Holzklasse-Sitzen liegenbleiben darf.

Anna-Lena hat ihr Strickzeug mitgebracht. Ohne auf ihre schnellen Hände zu sehen, werkelt sie an einem stetig wachsenden Schal. Die junge Frau hat sich erst in letzter Minute entschieden, mit nach New York zu kommen. Das Ticket musste von den Studenten selbst bezahlt werden. Und das war ihr zu teuer. Zunächst hatte sie gesagt, sie werde nicht mitfliegen. Jan, der viel von der klugen und sympathischen jungen Frau hält, hatte versucht, Anna-Lena umzustimmen. Er hatte ihr sogar angeboten, dass er sich an ihren Kosten beteiligt. Was Anna-Lena brüsk zurückgewiesen hatte. Letztendlich konnte Anna-Lena jedoch ein paar Nachhilfestunden extra geben und das Flugticket bezahlen.

Anna-Lenas Blick wandert über die Kabinendecke nach vorn zur Miniküche der Stewardessen. Die Kellnerinnen der Lüfte haben die erste Phase ihres Service-Programms absolviert und gehen nun an Anna-Lena vorbei zu ihren Ruheplätzen im Heck der Maschine.

Anna-Lena ist neugierig. Sie versucht, sich die Reisenden näher anzuschauen. Doch die meisten sieht sie nur von hinten. Sie fokussiert dann einen älteren Mann, der seitlich am Fenster sitzt. Der Mann trägt einen weißen Vollbart und eine schwarze, lederne Kippah auf dem Hinterkopf. Er liest eine Zeitung mit hebräischen Lettern. Ein paar Sitzreihen weiter begutachten zwei dunkelhäutige Frauen in langen, bunten Saris eine Hochglanz-Zeitung mit dem neuesten Modetrend. Ein junger Farbiger, der sein knallrotes Calypsohemd über der Hose trägt, hat einen Kopfhörer über die schwarzen, gekräuselten Haare gezogen. Seine Arme und sein massiger Oberkörper zucken im Takt. Dann bleibt Anna-Lenas Blick auf dem Professor hängen.

Er ist nur von hinten zu sehen. Er beugt sich nach vorne, bewegt dann den Kopf nach hinten, hebt gleichzeitig den rechten Ellenbogen, nimmt offenbar einen Schluck Kaffee, stellt die Tasse wieder ab und lehnt sich zurück an die Kopfstütze. Anna-Lena ist sich nicht sicher, ob der Mann im hell-grauen Anzug auch wirklich ihr Professor ist. Doch dann dreht er sich überraschend um und blickt angestrengt in Anna-Lenas Richtung. Als Jan die schlanke, junge Frau im hell-blauen Pullover erkennt, lächelt er. Wie zur Begrüßung hebt Anna-Lena ihr Strickzeug in die Höhe. Dabei fällt ihr eine Strähne ihres langen, dunklen Haares ins Gesicht. Sie streift das Haar lächelnd aus der Stirn. Der Augenkontakt dauert nur wenige Sekunden. Bis Jan sich wieder umdreht und nach vorne schaut.

Jan hat Anna-Lenas Blick im Nacken gespürt. Er hält zwar nicht viel vom Gedankenlesen oder von Telepathie. Denn mit diesen Phänomenen hat er sich nicht wirklich auseinandergesetzt. Doch dass Menschen von anderen Personen wahrgenommen werden, ohne dass auch nur einer ihrer fünf Sinne aktiviert ist, das ist möglich. Er hat ihn einige Male erlebt: den Blick im Nacken, der ihn zwang, sich umzudrehen.

'Schön, dass Anna-Lena mit von der Partie ist', denkt Jan. 'Konferenzen, Vorträge und Gesetzes-Texte sind ja oft so trocken. Mit ihrer offenen Art und ihrem herzerfrischenden Lachen schafft sie gute Laune', hofft er. In Gedanken sieht er das junge, feine Gesicht mit der herabgefallenen dunklen Strähne in der Stirn. Er schneidet den Gedankenstrom ab. Aus dem visuellen Gesicht schält sich wellenartig eine Überblendung, die ihre Scharfzeichnung in einem anderen Konterfei erhält. Auch das neue Gesicht ist das einer Frau. Es wirkt selbstbewusst. Die blauen Augen blitzen. Die Züge sind klar und deutlich. Er kennt die blonde Frau seit vielen Jahren. Sandra schaut ihn streng an. Auf Jan wirkt sie, als ob sie eine Frage stellt.

Wenn Jan früher allein auf Reisen ging, hatte Sandra ihm den Koffer gepackt. Immer hatte sie eine kleine Überraschung dazugelegt. Mal ein Buch oder auch ein Foto oder ein kleines Zettelchen, auf das sie ein kleines Herzchen malte. Diesmal war Sandra kurz angebunden aus dem Haus gegangen. “Ich muss los, bin spät dran. Also mach's gut.” Sie hatte den Autoschlüssel aus der Handtasche gekramt und noch gefragt, wann er wieder zurück sei. Dann war die Haustür ins Schloss gefallen.

Gestern Abend saßen beide am Esstisch in der Küche. Die Herren Söhne waren noch nicht zu Hause. Jan und Sandra sprachen über den Piloten-Streik. Sandra meinte, Jan solle doch noch einmal versuchen, auf eine andere Linie umzusteigen, weil ja kein Streikende in Sicht sei. Jan entgegnete, die Plätze der anderen Fluglinien seien ausgebucht, und es sei ja an der Zeit, dass die Piloten-Gewerkschaft einknickte. Er wollte an seiner Planung festhalten.

“Sturkopf, du wirst ja sehen, was du davon hast.”

“Wo sind eigentlich Florian und Stefan?”, wechselte Jan das Thema.

“Keine Ahnung.”

“Wir hatten doch vereinbart, dass die Jungs Bescheid geben, wenn sie nicht zum Abendbrot kommen.”

“Du tust, als sei ich daran Schuld, wenn sie sich nicht an die Abmachung halten.”

“Das nicht,” sagte Jan beschwichtigend, “aber du könntest ruhig ein bisschen strenger sein.”

“So! Da haben wir's wieder mal. Der ach so beschäftigte Herr Professor reist mit seinen Studenten in der Weltgeschichte herum. Er delegiert anstatt selbst zu handeln. Wie bequem! Von seiner Frau, die treu und brav zu Hause bleibt, verlangt er, dass sie den Haushalt besorgt, die Kinder erzieht – freilich in seinem Sinn - und so ganz nebenbei noch einen Vollzeit-Job ausfüllt.”

“Mensch, bist du geladen!”, entgegnete Jan betroffen. “Was ist dir denn über die Leber gelaufen?”

Sandra blieb Jan die Antwort schuldig. Eine Zeit lang war nur das Ticken der Küchenuhr zu hören.

“Sag mal,” nahm Jan den Faden wieder auf, “weiß du denn, wo die Jungen sind?”

“Nein. Weißt du's?

Das fanden dann beide komisch. Sandra lachte und Jan stimmte ins Gelächter ein.

“Und wo könnten sie sein?”

Sandra hob die Augenbraue. Die Fragestellung brachte wieder dicke Fragezeichen. Jan hätte es dabei belassen können. Doch im Hinblick darauf, dass er einige Zeit nicht zu Hause sein würde und sich wünschte, dass alles daheim seine Ordnung hätte - auch wenn er ein paar tausend Kilometer entfernt sei - fragte er ganz ohne Hintergedanken:

“Weißt du eigentlich, was die Jungs so treiben? Mit wem verbringen sie ihre Zeit bis in den späten Abend hinein?”

Wieder spürte Sandra, wie ihr Unmut wuchs. Schon wieder war es ihr, als ob Jan sie grundlos kritisierte. “Warum soll ich ihnen nach spionieren?”, fragte Sandra schnippisch. Auch diese Frage blieb ohne Antwort.

Dass seine Ehe brüchig war, darüber war sich Jan schon seit einiger Zeit im Klaren. Und er hatte erkannt, dass sie beide gleichermaßen bemüht waren, ihren immer wieder aufflammenden Streit zu überdecken. Denn einen totalen Bruch wollten beide nicht. Das Bild der heilen Familie hielten sie nach außen aufrecht. Und wenn sie dennoch gelegentlich ihren Zwist austrugen, dann schien es so, als ginge es allein um die Erziehung der Kinder. In bald zwei Dutzend Ehejahren hatte Jan gelernt, dass wichtige Gespräche wohl nur dann zum Erfolg führen, wenn der Zeitpunkt günstig ist. So insistierte er diesmal nicht.

Er stand auf und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Er sagte “Gute Nacht” und verschwand im Bad. Vor ein paar Wochen war er aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen. Jan bezog die Couch im Arbeitszimmer mit neuem Bettzeug und packte seinen Koffer. Als Stefan eine Stunde später nach Hause kam, hatte Jan gerade die Leselampe gelöscht. Und als Florian kurz darauf die Haustür aufschloß, war Jan im Halbschlaf.

Als die Anschnallsignale im Anflug auf New York aufleuchten, ist Professor Schröder wieder voll auf seine Exkursion fokussiert. Im Anschluss an den offiziellen Teil will er mit seinen Studenten noch nach Lancester County in Pennsylvania. Den Ausflug muss er noch organisieren. Für die drei Stunden-Fahrt will er einen Kleinbus mieten. Und dann ist da noch sein Treffen mit einem französischen Finanz-Wissenschaftler. Jan will den Franzosen für ein Round-Table-Gespräch zum Thema „Wann kommt der totale Crash?“ an seine Uni einladen. Er hofft, auch einen Vertreter der Weltbank zu gewinnen. Die Termine muss er noch vereinbaren, wenn er im Hotel ist. Er wird wie immer im Excelsior am Central Park wohnen. Den Rabatt für seine Exkursion hatte er schon bei der letzten Reise ausgehandelt.

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