Читать книгу Der verstellte Blick: Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung - Klaus Hennicke - Страница 19
Fallbeispiel 1.1: Ralph 15 J.
ОглавлениеAuszug aus dem Schulbericht der Förderschule für geistige Entwicklung
Ralph ist 15 Jahre alt und besucht unsere Schule seit dem 4. Schuljahr. Er hat das Down-Syndrom mit allen seinen typischen körperlichen Besonderheiten.
Ralph nimmt an allen Unterrichtsangeboten der Klasse teil, so er sich nicht verweigert. Regelmäßige Bewegungs- und Entspannungsphasen werden in den Unterrichtsablauf eingebaut Im Unterrichtsalltag benötigt er viel Zuspruch und zusätzliches Lob. Ralph ist in guten Phasen ein freundlicher und kontaktfreudiger Schüler, dann arbeitet er langsam und zum Teil ausdauernd und konzentriert. Seit dem Beginn des Schuljahres (d. h. seit ca. fünf Monaten; K. H.) erleben wir bei Ralph immer häufiger auffällige Verhaltensweisen. Er kommt müde und antriebslos in die Schule, legt sich auf den Teppich und wartet erstmal ab. Manchmal schläft er ein. Er verschließt sich und zeigt sehr häufig Verweigerungstendenzen, macht einen abwesenden und depressiven Eindruck. Auffällig sind gelegentliche »Selbstgespräche«. Wenn er nicht möchte, verweigert er die Mitarbeit im Unterricht und bei den meisten Diensten. Er beteiligt sich nicht an der Vorbereitung des Frühstücks und hat Mühe, die erste Unterrichtsphase auf dem Stuhl gemeinsam mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern zu verbringen. Mit Unterstützung eines Mitschülers ist er manchmal zur Mitarbeit bereit. Vermehrt traten im vergangenen Schuljahr ziemlich regelmäßig Wutausbrüche auf, ohne sicher erkennbare Auslöser. Diese Wutausbrüche äußerten sich durch Schreien (Brüllen), lautes Rufen (Wehklagen) und Aggression gegenüber Dingen (Tische und Stühle werden umgeworfen, Regale leergeräumt). Ralph zog sich in der vergangenen Woche auch einmal vor seinen Mitschülerinnen und Mitschülern nackt aus und spielte mit seinen Händen an Penis und After. Nur mit Hilfe der Mutter war es möglich, ihn wieder anzukleiden. Es fällt ihm nicht leicht, zu seinen Mitschülern und Lehrkräften eine altersangemessene Distanz zu halten. Oftmals sucht er in emotionalen Momenten den intensiven körperlichen Kontakt.
Unterrichtsbesuch
Ralph wird fast nur nach Aufforderung aktiv. Beim Unterrichts-Thema »Salat« muss er vom Mitschüler und von den Lehrkräften aufgefordert und angeleitet werden, die Zutaten zu »schnippeln«. Früher habe er das mit Begeisterung gemacht. Nach kurzer Zeit lehnt er sich zurück, stützt seinen Kopf in die Hände und »träumt« vor sich hin oder er wischt sich mit den Händen heftig über das ganze Gesicht, insbesondere über Nase und Mund. In der Pause wirft er sich auf den Boden und schreit.
Elterngespräch
Der Junge wohnt beim Vater nach der Trennung der Eltern bzw. dem Auszug der Mutter aus der gemeinsamen Wohnung vor ca. einem halben Jahr. Hinzu kommt, dass die ebenfalls beim Vater lebende ältere Schwester sich zum Auslandsstudium verabschiedet hat.
Ralph musste weitere belastende Ereignisse in den letzten zwölf Monaten verkraften: Den plötzlichen Weggang der (geliebten) Klassenlehrerin und den Wechsel der Einzelfallhilfe.
Die aggressiven Zustände würden auch zu Hause auftreten. Eine deswegen geplante Terminvereinbarung in einer psychiatrischen Institutsambulanz scheiterte, weil man regional nicht zuständig sei. Außerdem sollte aufgrund dieser Symptomatik erstmal ein niedergelassener Kinder- und Jugendpsychiater angefragt werden.
Die Eltern versichern, dass sie beide sehr bemüht seinen, die Folgen ihrer Trennung für die Kinder möglichst abzumildern, z. B. durch gute Absprachen und häufige Besuche mit Übernachtungen. Die Belastungen und Veränderungen von Ralph sehen beide Eltern. Sorgen machen ihnen die aggressiven Äußerungsformen des Jungen, die den Schulbesuch gefährden und das Leben zu Hause an die Grenzen bringen. Meine Einschätzung aber, dass ihr Kind in einen erheblichen depressiven Zustand geraten sei und seine Verhaltensweisen in diesem Kontext verstanden werden könnten, kommt für sie überraschend.
Das Thema dieses Buches ist der Versuch, Antworten zu finden auf die Frage, warum es uns so schwerfällt, »normales« seelisches Leiden bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren. Was verstellt uns den Blick auf diese eigentlich »normale« Wirklichkeit? »Verstellen« könnte nach dem Duden bedeuten, dass wir Realitäten verdrehen, verfälschen, verschleiern, vielleicht sogar auch manipulieren und uns damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit verbauen, versperren, zustellen; (umgangssprachlich) verrammeln.3
Der belgische Psychologe und Psychoanalytiker J. de Groef (1997, S. 18) vermutet ein »Gefühl der Unheimlichkeit (Angst und Faszination)«, wenn wir Menschen mit geistiger Behinderung begegnen. Wir suchen dringend nach Orientierung und Klarheit, was wir denken und wie wir handeln sollen, und finden nicht den »richtigen« Weg in diesem Konflikt. Der Soziologe J. M. Kastl schreibt:
»Das Anstarren anderer Menschen verletzt elementare Regeln des Verhaltens im öffentlichen Raum (Goffman 1971, S. 87). Es stellt einen Übergriff in den Intimbereich des Anderen dar. (…) Aber auch demonstratives Wegsehen ist (…) eine Normverletzung. Die ›offiziell erwünschte Reaktion‹ im öffentlichen Raum ist eine subtile ›höfliche Gleichgültigkeit‹. (…) Der Konflikt zwischen ›Anstarren-wollen‹ und ›Wegsehen-müssen‹ (führt zu) tiefgreifender Ambivalenz im Umgang mit behinderten Menschen« (Kastl 2017, S. 11).
G. Cloerkes, der wohl bekannteste deutschsprachige »Behinderten-Soziologe«, stellt fest, dass die soziale Wirklichkeit von Menschen mit Behinderungen von vornherein eine »negative soziale Reaktion« hervorruft, und dass auch der Behinderung selbst »allgemein ein entschieden negativer Wert zugeschrieben wird«. Beides sollte klar benannt werden dürfen, sonst kann dies
»(…) schnell zu Euphemismen und zu einer Unehrlichkeit führen, die Menschen mit einer Behinderung nicht verdient haben. Behinderung ist nichts Positives, auch nicht unter einem anderen Etikett. Das Menschsein von uns allen ist mit Positivem und Negativem verbunden. Beides sollte man ehrlich bezeichnen dürfen, denn jeder ist viel mehr als eines seiner Attribute.« (Cloerkes 2007, S. 9)
Ein längeres Zitat aus systemisch-familientherapeutischer Sicht mag diese Ambivalenzen und Konflikte zusammenzufassen:
»Familien, in denen es von einem Mitglied heißt, es habe eine Behinderung, zu begleiten und ihre Selbstgestaltungskräfte zu unterstützen, erfordert eine professionelle Haltung, die Autonomie anerkennt, und eine Ressourcenfindungsperspektive, die sich in der Bereitschaft äußert, Ressourcen auch unter widrigen Umständen entdecken zu wollen. Das bedeutet aber auch, das ›eigentlich Unerträgliche‹ anzuerkennen. Der Umgang damit erfordert von professionellen Helferinnen eine Haltung, Gegebenes als Ausgangspunkt zu nehmen, die Ressourcen darin zu erkennen und den Klienten die Fähigkeit zu unterstellen, zu Lösungen beizutragen. Vor allem aber fordert er die Bereitschaft, Leid und Schweres anzuerkennen. Zum Leben gehören auch die Abgründe – und zur Ressourcenorientierung der Blick in diese Abgründe« (Tsirigotis 2016, S. 392).
Ist es das »eigentlich Unerträgliche« an der geistigen Behinderung, was uns einerseits so sprachlos macht oder was uns andererseits nötigt, uferlos zu debattieren, was der »richtige Weg« in der Wahrnehmung davon betroffener Menschen ist? Wenn wir nur noch »den Behinderten« und nicht den Menschen sehen können oder wenn wir glauben, nur noch den Menschen ohne seine »sogenannte« Behinderung wahrnehmen zu dürfen?
Im naiven inklusiven Diskurs wird »Behinderung« schlichtweg als »Bereicherung« verstanden, ohne zu klären für wen eigentlich, und als Ausdruck von Vielfalt unter den Menschen, als Diversität, bagatellisiert. Die angesprochenen Konflikte werden negiert. Die Infantilität der Bilderwelt der Pädagogik4 (Kastl) suggeriert eine heile Welt des fröhlich lachenden »Behinderten« und sieht Diversität als lustiges Neben-/Miteinander.
Weit verbreitet ist die Grafik, mit der die Unterschiede zwischen Exklusion, Separation, Integration und Inklusion veranschaulicht werden sollen. Der naive Einschluss aller Menschen in eine unterschiedslose soziale Gemeinschaft kann vielleicht noch als Utopie einer sehr fernen Weltordnung gelten, mit der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Realität der Gesellschaften hat dies nichts zu tun. Hier geschieht eine unzulässige Auflösung menschlicher Eigenschaften. Es scheint so, als ob »Behinderung« resp. deren faktische Funktionsbeeinträchtigung aus dem Blickfeld verschwinden solle. Wenn sie dann doch unvermeidbar da ist, dann soll sie als Teil der menschlichen Vielfalt keine Fürsorgeimpulse mehr auslösen.
Die Ideologie der Inklusion würde dies natürlich vehement bestreiten. Im Kern aber wird im Diskurs auf die politischen und ökonomischen Bedingungen wirklicher Inklusion weitgehend verzichtet, auch die realen Beeinträchtigungen behinderter Menschen werden kaum unverstellt beschrieben. Denn wenn man es täte, müssten die Bilder der realen Welt, der politischen, ökonomischen, finanziellen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für wirkliche Inklusion gezeichnet werden wie auch die ganz konkreten unvermeidlichen Lebensprobleme der Menschen infolge ihrer Beeinträchtigungen. Im Großen und Ganzen verbleibt derzeit Inklusion im eher technokratischen Schaffen von gemeinsamen Bedingungen (z. B. »gemeinsamer Unterricht« als Kernforderung inklusiver Beschulung), ohne deren wirkliche individuelle, soziale und politische Dynamiken zu thematisieren.