Читать книгу Der verstellte Blick: Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung - Klaus Hennicke - Страница 21

1.3 Aufbau und Gliederung 1.3.1 Personenkreis

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Ich beziehe mich auf Kinder und Jugendliche, die als »geistig behindert« bezeichnet werden und die in dem Ausmaß intellektuell beeinträchtigt sind, wie es die international anerkannten Definitionen der ICD-10 und des DSM-5 vorschreiben: »Intelligenzminderung« (intellectual disability) liegt ab einem IQ kleiner 70 vor. Ich bevorzuge den Begriff »Intellektuelle Beeinträchtigung«, meine aber das gleiche, wohl wissend, dass der IQ-Wert allein definitorisch wie sozialrechtlich nicht ausreicht, sondern vor allem das Ausmaß der Behinderung, also die Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, entscheidend ist.

Menschen mit Behinderungen sind keine homogene Gruppe. Es ist aus meiner Sicht wenig hilfreich, im Diskurs alle Funktionsbeeinträchtigungen (körperlich, geistig, seelisch, sensorisch) und die daraus folgenden Behinderungen gleichzusetzen. Es liegt auf der Hand, dass die unmittelbaren Folgen für den Betroffenen, die Auswirkungen auf Aktivität und Teilhabe je nach Art der Beeinträchtigung höchst unterschiedlich sind. Die Forderung nach »Barrierefreiheit« (oder auch nach schulischer Inklusion) für körperlich oder sensorisch beeinträchtigte Kinder ist vergleichsweise problemlos zu realisieren, weil sie sich in den intellektuell erfassbaren Lern-, Arbeits- und Lebensbedingungen genauso gut wie nichtbeeinträchtigte zurechtfinden. Sie sind im Prinzip für alle Tätigkeiten in den meisten Kontexten einsetzbar. Assistenz bezieht sich wesentlich auf die unmittelbaren Einschränkungen infolge der jeweiligen Funktionsbeeinträchtigungen.

Bei kognitiv-intellektuell beeinträchtigten Menschen und – eingeschränkt – bei seelisch behinderten findet sich eine gänzlich andere Situation. Sie benötigen Lern-, Arbeits- und Lebensbedingungen, die speziell ihren intellektuellen und neuropsychologischen resp. seelischen Voraussetzungen angepasst sein müssen. Assistenz muss wesentlich weitgehender je nach Ausmaß der Beeinträchtigungen gestaltet sein und betrifft mehr oder weniger alle Lebensbereiche. Schlussfolgerungen für die eine Gruppe können daher nicht bruchlos auf die andere Gruppe übertragen werden, sonst entstehen völlig unrealistische Forderungen. »Barrierefreiheit« z. B. für Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung kann es in der modernen Gesellschaft nicht geben! Im konkreten Diskurs muss immer klar sein, um welche »Behinderten-Gruppe« es sich handelt.

Die »Behinderten-Hierarchie«, die sich aus den Feststellungen ableiten lässt, ist aus meiner Sicht eine harte Realität in der modernen Gesellschaft und im übrigen Teil sozialrechtlicher Normen (Eingliederungshilfe, Versorgungsmedizin). Ich denke auch, dass entsprechend real in den sozialen Haltungen und Zuschreibungen eine Wertigkeit der unterschiedlichen Behindertengruppen auszumachen ist, an der die intellektuell beeinträchtigten Menschen an unterster Stelle stehen.

Meine Erfahrungen mit diesen Kindern und Jugendlichen stammen aus meiner langjährigen beruflichen Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychiater in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, als Oberarzt in Kliniken, als Leiter eines kinder- und jugendpsychiatrischen Dienstes, als Berater und Supervisor von Förderschulen für geistige Entwicklung (FSGE) und in anderen Kontexten, viele von ihnen auch zusammen mit ihren Familien, ihren Heimbetreuern und Helfern im Rahmen der Eingliederungs- und Jugendhilfe und insbesondere mit ihren Lehrern in den FSGE. Als Lehrender an einer Fachhochschule und als Lehrbeauftragter für Neurologie und Psychiatrie im Studiengang Sonderpädagogik habe ich versucht, diese Erfahrungen den Studierenden der Heilpädagogik und der Sonderpädagogik nahezubringen und ihnen zu zeigen, zu welchen Äußerungsformen diese Kinder und Jugendlichen fähig sind, wie sie ihr Leiden ausdrücken und was man ihnen anbieten sollte, damit es ihnen besser geht, welche Hilfesysteme wofür zuständig sind und wie diese idealerweise gestaltet werden könnten.

Der verstellte Blick: Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit intellektueller Beeinträchtigung

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