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I. BACK 1 Ankunft in St. Louis
ОглавлениеAm 12. April 2007 kam ich in St. Louis an. Als ich das Gateway verließ, strömte mir von einem nahen Bistro ein wohlig–warmes Kaffee–Haselnuss–Aroma entgegen. Ich liebte diesen Geruch! Und nicht nur das: Für mich hatten amerikanische Flughäfen eine ganz eigene Atmosphäre, die ich in ihrer Essenz durch genau diesen Geruch – dieses feine, dieses süße, dieses hochsynthetische Kaffee–Haselnuss–Aroma – repräsentiert sah. Ein emsig strudelndes Ameisenrudel überkitzelte mich und ich fühlte mich wie zuhause:
Endlich! Endlich wieder in den USA! Endlich wieder in der Forschung! Wie sehr hatte ich beides vermisst!
Ich begab mich zur Gepäckausgabe. Ming Li und George wollten mich vom Flughafen abholen. George war Ming Lis Mann. Ich kannte ihn seit Mai 2001. Damals hatte ich Ming Li eingeladen, einen Vortrag an der Johannes Gutenberg–Universität, an der ich zu jener Zeit Forschungsgruppenleiter gewesen war, zu halten. George hatte Ming Li zu diesem Anlass begleitet und die beiden hatten die Gelegenheit genutzt, einen Kurzurlaub anzuhängen (das übliche Programm: Neuschwanstein, Schwarzwald, Kölner Dom und Hofbräuhaus). Ich verstand mich gut mit George. Er wirkte ein wenig verloren, ja, andeutungsweise verrückt, hatte eine hohe Stirn, schütteres hellbraunes Haar, und verbrachte seine Zeit hauptsächlich in seiner Werkstatt, um den perfekten Knieschoner zu kreieren. Wie Ming Li mir kürzlich erzählt hatte, hatte er mittlerweile sogar einen Prototyp entwickelt und zum Vertrieb eine kleine Firma gegründet: „nO.peelinG.whilE.knEEling“ (das Unternehmen besaß ein Internetportal und war innOVativ, daher die eindrückliche Schreibweise).
Ming Li und George hatten Verspätung, was mich nicht störte. So hatte ich die Muße, in der Wartezone eine Zigarette zu rauchen. Nach meinem dritten Päckchen sah ich die beiden auf mich zukommen. Und ich musste schmunzeln über dieses ungleiche Paar: George war zwei Meter groß und dünn und kam schlaksig dahergestapft, Ming Li maß höchstens einen Meter fünfzig, war ein bisschen pummelig und stöckelte kaum Schritt halten könnend auf wackeligen Knöcheln neben ihm her. Mit ihrem Schottenrock, ihren schwarzen Wollstrumpfhosen, ihrem rosafarbenen Parker, und ihren glatten pechschwarzen Haaren nahm sie sich beinahe wie Georges Adoptivtochter aus. Unterstrichen wurde dieser Eindruck von ihrem dankbar–milden, fernöstlichen Lächeln. Doch der Eindruck täuschte: Eindeutig hatte Ming Li in der Beziehung „die Hosen an“. Und sie führte ein strenges Regiment! Sie war allerdings, wie man zugeben musste, überaus freundlich zu George, wenn er sich fügte.
Das Hallo bei unserem Wiedersehen war groß, aber ich merkte Ming Li an, dass sie angespannt war (sie schob sich ständig ihre überdimensionierte Hornbrille über die zuckende, barbykleine Nase nach oben). Ich konnte Ming Lis Anspannung verstehen. Mich mutete unsere neue Situation auch seltsam an: Früher waren wir als unabhängige Forscher gleichberechtigte Kollaborationspartner in vielen Projekten gewesen. Jetzt war sie mein Boss. Ich hoffte, das würde funktionieren!
Auf dem Weg nach Ladue, einem gediegenen Viertel in St. Louis, in dem die beiden residierten, eröffnete mir Ming Li, ich solle erst einmal bei ihr und George wohnen. Dann könne ich mich in aller Ruhe auf Wohnungssuche begeben. Für den Abend, fuhr Ming Li fort, sei ein Essen geplant. Sie werde für uns kochen! Am nächsten Morgen wolle sie mit mir ins Labor gehen, mich den Mitarbeitern vorzustellen und die Formalitäten für meine Registrierung an der Uni anzuleiern. Und das Wochenende biete sich an, ein Apartment für mich zu suchen (ein One–Bedroom genüge für den Anfang wohl!). Wenn wir danach noch Spielraum hätten, könnten wir einige Sachen für mich besorgen, die ich eventuell brauchte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, sagte zwischendurch „ja“ und „gut“ und manchmal auch „aha“, und schaute aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Häuser und Gärten.
Wir erreichten Ming Lis Haus, einen im modernen Stil gebauten, von großen Bäumen umgebenen Bungalow. George trug mein Gepäck rein (er hatte darauf bestanden!). Ming Li zeigte mir zuerst die neue Küche und geleitete mich dann in mein Zimmer. Meine Sachen – George hatte sie dort abgestellt und sich zurückgezogen – solle ich in diesem Schrank da aufhängen. Er sei leer. Das Bad befinde sich gegenüber, Handtücher für mich lägen frischgebügelt da (George bügelte gern), und eine Tube Zahnpasta auch, wenn ich die benötigte. In der Küche könne ich mich bedienen, wenn ich Hunger hätte, solle aber alles wieder schön auf seinen Platz zurückstellen, wenn ich fertig sei. Nicht wahr? Ming Lis Nase zuckte. Sie, Ming Li, ergänzte: Und etwas zu trinken sei auch da. Jetzt aber wolle sie mit dem Kochen anfangen, damit wir endlich in die Gänge kämen. Ming Li schob sich die Brille auf der zuckenden Nase nach oben und verschwand in Richtung Küche. Ich sah mich um in meiner Bleibe, ein hübsches Gästezimmer mit Blick auf den Vorgarten.
Das Ambiente wirkte amerikanisch, was mich allerdings nicht wunderte. Schließlich war ich in Amerika! Doch mir kamen diese vielen, mich auf meinen Verweilort hinweisenden Details besonders vor: Die schwarze Nachttischlampe aus „Home Depot“ (die gleiche hatte ich in meinem Arbeitszimmer in Austin stehen). Die Steckdosen mit den zwei parallelen Schlitzen und dem zentriert unter diesen befindlichen Löchlein (wie allgegenwärtige „Funny–“ oder besser „O–faces“). An der Wand die lustigen Kippschalter, die man, glaube ich, nach oben klappen musste, um das Licht anzuknipsen. Und die runden, goldglänzenden Türknöpfe, die mir beim Öffnen der Türen immer ein wenig Schwierigkeiten bereitet hatten. Alles war mir vertraut und doch fremd. Dann war da dieser dezente Geruch, der fast allen amerikanischen Häusern eigen war. Er ist schwer zu beschreiben. Eine Mischung aus Bakelit, Imprägnierungsspray, Zink und Wolle vielleicht. Ich hatte nie herausfinden können, woher er stammte. Möglicherweise vom Holz, das man für die Konstruktion verwendete? Oder von der Isolierung? Kurzum, ich mochte diesen Geruch. Er symbolisierte für mich etwas Ruhiges und Verlässliches.
Ich ging zum Fenster und schaute auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort stand unter mächtigen Life Oaks einer dieser riesigen amerikanischen Caravans, deren untere Hälfte mit Folie aus Holzimitation beklebt waren. Ich liebte diese Schiffe.
Mann, was hatte ich durch meinen Weggang aus Austin alles aufgegeben! Den idealen Beruf, das ideale Umfeld! Mein Leben hätte perfekt sein können! – Nicht ganz, führte ich mir vor Augen. Meine Kinder hatten gefehlt. Die waren mir wichtiger als alles andere.
Ich beendete den Gedanken und machte mich auf den Weg in die Küche. Womöglich konnte ich Ming Li beim Kochen helfen.
Ming Li hatte sich eine weiße Schürze umgebunden und rührte in einer Wokpfanne. Sie schien Mühe zu haben, in die Pfanne zu sehen, denn sie war wirklich winzig. (Ming Li meinte ich. In beiden Fällen.) George stand, eine Flasche Chardonnay öffnend, am Küchentisch und lächelte, als träumte er von Knien.
Ming Li und George hatten sich in Philadelphia kennengelernt. Er stammte aus Philadelphia, sie aus Shanghai. Sie hatte damals in einem Labor in Philadelphia gearbeitet, er zuhause an seinen Knieschonern. Bei einer Soiree mit den beiden vor einer geraumen Zeit hatte mir Ming Li erzählt, sie habe George dann einmal gefragt, ob er sie heirate. Dadurch hätte sie bessere Karten, die Greencard zu bekommen. Das mit den Karten habe dann geklappt. Mit dem Job sei auch alles gut gegangen. Und später, hatte Ming Li kichernd ergänzt, habe sie festgestellt, dass George doch eigentlich ein ganz netter Kerl sei. So seien sie noch immer verheiratet. George hatte damals mit dem für ihn typischen abwesenden Lächeln kommentiert, er könne Ming Li jetzt sowieso nicht mehr „umtauschen“.
Unterdessen hatte George die Weinflasche entkorkt und mich bemerkt. Er fragte, ob ich ein Glas Wein wolle. Ich bejahte und erkundigte mich bei Ming Li, ob ich ihr beim Kochen helfen könne. Sie verneinte. Sie habe alles im Griff, sei ohnehin gleich fertig.
„Können wir dir wirklich nicht helfen, mein Schatz?“, versicherte sich George mit besorgt gekräuselten Brauen (Brauenflöhe hätten darauf rodeln können!).
„Nein, ich bin gleich fertig“, schüttelte sie ihren kleinen Kopf.
„Nimm wenigstens einen Schluck Wein mit uns!“, wiegte George, erneut Bedauern mimend, seinen dünnen Hals.
„Okay“, nickte sie, und schob sich ihre Brille mit dem Zeigefinger auf der nervös zuckenden Nase nach oben.
Ming Li huschte zu uns an den Tisch, wir prosteten einander zu, und sie huschte zurück an ihren Topf, wo ihre Brille sofort beschlug. Sie putzte sie an ihrer Schürze ab, setzte sie wieder auf, und schob sie, nachdem sie ein wenig heruntergerutscht war, mit dem Zeigefinger auf dem nervös zuckenden Nasenrücken nach oben. George und ich quatschten derweil und schauten Ming Li bei ihren Verrichtungen zu (sie rührte wieder). Ein schlechtes Gewissen brauchte weder er noch ich zu haben. Wir hatten unsere Hilfe angeboten!
George kannte meine Familie. Meine Frau war im Übrigen mittlerweile meine Ex–Frau. Wir waren am 30. Februar 2007 geschieden worden. Mein Anwalt Harsdörffer hatte mir irgendwann in einer E–Mail davon berichtet. (Ich hatte ihm nach jenen unsäglichen Ereignissen in Mohammédia [siehe Band II: „Das Laienpassionsspiel“] gebeten, mich nicht mehr mit Details meiner nach wie vor laufenden zivilrechtlichen Verfahren zu belästigen. Über meine Scheidung hatte er mich dennoch informiert, was ich gerne gutgeheißen hatte, weil man gute Nachrichten eben immer gerne hört.) Jedenfalls war George daran interessiert, wie es mit den Kindern und mir weitergehe. Ming Li regte vom Kochtopf aus an, ich könne die beiden doch jetzt einmal an Weihnachten besuchen. Sie schob sich ihre Brille nach oben und rührte wieder in ihrem Topf. Ich erklärte Ming Li und George nochmals die zerstörerische Dynamik eines (und im Besonderen meines) Rosenkrieges und meinen Entschluss, den Kontakt zu meiner Ex–Frau und den Kindern abzubrechen, um eben diese Dynamik zur Ruhe zu bringen. Meine Erklärung hielt ich kurz. George verstand sie, empfand mein Vorgehen aber ein wenig „hart“. Ich erläuterte, dass die Kinder weiter diesem Rosenkrieg auszusetzen „härter“ wäre. Das sah George ein, und Ming Li nickte.
Sie war inzwischen mit dem Kochen fertig. Bedachtsam zog sie sich die Schürze aus, schob die Brille auf dem nervös zuckenden Näslein nach oben, kam, das Weinglas in der Rechten, auf George und mich zu, und sagte schließlich frohgemut:
„Ach Jakob, das wird sich schon regeln. Du wirst hier eine wunderschöne Frau kennenlernen und mit ihr neue Kinder haben. Dann hast du wieder eine Familie und kannst dich voll auf deine Arbeit konzentrieren.“
Ming Lis Statement ärgerte mich. Energisch erklärte ich ihr:
„Meine Kinder sind nicht substituierbar wie ein verfallener Artikel aus dem Supermarkt. Zumindest nicht für mich.“
Ming Li blinzelte irritiert und putzte ihre Brille.
Im weiteren Verlauf des Abends sah Ming Li von ähnlich gelagerten Statements ab, was meine Kinder betraf. Bezüglich potentieller Partnerinnen offerierte sie mir aber noch manch exquisite Idee, die mich beinahe jeweils ein Bambusstückchen verschlucken ließ (die Soße war echt klasse!). Ich erläuterte Ming Li, ich bedürfe in derartigen Angelegenheiten keiner Hilfe. (Ich hatte mich auf die Partnertipps, nicht auf die Bambusstückchen bezogen.)
Ansonsten war der Abend angenehm, denn das Essen schmeckte, wie angedeutet, vorzüglich. Beim Dessert (Litschis auf Zitronensorbet) besprachen Ming Li und ich, was alles zu erledigen sei. Ganz oben auf der Liste der Prioritäten stand ein Strahlenschutzantrag, der gestellt werden musste, damit ich mit den Experimenten beginnen konnte. Ich fragte Ming Li, ob sie einen Laptop übrig habe, auf dass ich mit dem Antragsschreiben loslegen könne. Meiner habe vor kurzem den Geist aufgegeben. Ming Li nickte. Sie habe ein Zweitgerät, das sie mir leihen könne. Sie erhob sich, mir das Laptop zu bringen.