Читать книгу Die Methode Cortés - Klaus M. G. Giehl - Страница 9
5 „Entheiligt“
ОглавлениеAls ich am Morgen nach meiner erschütternden Erkenntnis aufwachte, verspürte ich eine Art Beruhigung darüber, dass ich dem Ganzen ein wenig Zeit zum sich Setzenlassen hatte geben wollen. Diese Beruhigung änderte derweil nichts an meinem Schrecken über die Einsicht, dass mir die Forschung keinen Spaß mehr machte. Mir schien, als hätte ich etwas Wichtiges „entheiligt“. Frustriert fuhr ich zur Arbeit. Im Institut angekommen, freute ich mich auf den Feierabend.
Ich beschloss, mich hinter meinem Schreibtisch zu verstecken und so zu tun, als hätte ich zu lesen. Irgendwie musste ich Zeit gewinnen! Noch bevor ich mein Großraumbüro erreicht hatte, rief Ming Li nach mir. Sie musste mich an ihrem Zimmer vorbeihuschen gesehen haben und wollte anscheinend wieder etwas von mir.
Ich hielt an und drehte mich um. Sie fragte, ob ich heute Bilder von den Immunhistochemien, die ich vor ein paar Tagen gemacht hätte, schießen könne. Die Bilder brauche sie für einen Vortrag, den sie nächste Woche in San Diego halten müsse. Ich war höchst genervt, weil herumzufotografieren meinen Feierabend verschöbe, aber ich stimmte zu. Schließlich konnte Ming Li nichts für die Schwierigkeiten, in denen ich steckte. Überdies wurde mein Ärger über die verschobenen Mußestunden durch das Entzücken darüber gepuffert, dass sie nächste Woche außer Haus wäre. Dann würde mich auch keiner stören, wenn ich mich mit sinnlosen Verrichtungen zum Dienstschluss und ins Wochenende hangelte.
Mein Großraumbüro betretend war ich froh, dass die anderen Mitarbeiter nicht da waren. (Sie wuselten bereits fleißig im Labor.) So konnte ich in Ruhe bei einem Käffchen meine E–Mail checken. In der Annäherung an meine Schreibecke führte ich mir vor Augen, dass mein gegenwärtiges Berufsethos kein Ethos war, das man sich in der Forschung leisten konnte. Dieses Ethos konnte man sich im Prinzip in keinem Beruf leisten. Typen wie mich in meiner gegenwärtigen Verfassung hatte ich früher zügig aus meinem Labor entsorgt!
Ich war unglaublich von mir selbst genervt. Kopfschüttelnd erinnerte ich mich an die Worte eines Freundes und Kollegen. Unmittelbar vor seinem Vorruhestand hatte mir der Gute gestanden, in den letzten Berufsjahren eigentlich nur noch damit beschäftigt gewesen zu sein, E–Mails zu checken – und zu schreiben, um auch genug E–Mails zu checken zu haben. Ich war auf dem besten Weg, auf genau dieses Niveau abzurutschen! Dereinst, nach dieser Beichte, hatte ich mich gewundert, wie ein ehedem hochengagierter und erfolgreicher Wissenschaftler eine derartige Drückebergermentalität hatte entwickeln können. Ich hatte meinen Freund gefragt, ob er okay sei, hätte am liebsten seinen „Ölstand geprüft“, um mich zu vergewissern, ob ihm nicht ein wesentliches Elixier fehle. Mein Freund hingegen hatte schlicht gemeint, er habe genug Geld und wolle sich einfach nur noch um den Garten kümmern und das Leben genießen. Das hatte ich nicht verstehen können. Forschung war doch der Genuss schlechthin! Mein Freund hatte zwar andere Gründe gehabt für seinen Begeisterungsverlust als ich, aber ich verstand ihn jetzt: Ich quälte mich mit meiner Arbeit und träumte von meiner Smuk und schönen Stränden.
Während ich auf die Betriebsbereitschaft meines soeben eingeschalteten Computers wartete – inzwischen saß ich an meinem Schreibtisch – fragte ich mich, ob es nicht erbärmlich sei, dass ich mich gerade einmal vier Wochen nach meinem sogenannten „Neuanfang“ am liebsten schon wieder verkrümelt hätte. Ich beantwortete mir die Frage zunächst nicht und machte mich ans „Werk“: Ich checkte meine E–Mail.
Mein Blick versank in Buchstabenspiralen – und ich sann über das „erbärmlich“ nach, das mir gegen mich herausgerutscht war:
Nein, mir meine Zweifel einzugestehen war nicht erbärmlich. Sollte es sich bei meinem Desinteresse an der Forschung um ein konstantes Phänomen handeln, würde ich es besser früher erkennen als später. Im Augenblick gälte vor allem zu klären, ob es sich tatsächlich um ein konstantes Phänomen handelte oder bloß um eine vorübergehende Irritation.
Letzteres hätte denkbar sein können, weil mein „Neubeginn“ nicht nur der Versuch war, in mein altes Leben zurückzukehren, sondern mit diesem Versuch auch erheblich Änderungen des Lebens verbunden waren, das ich während der letzten Jahre geführt hatte. Ich hatte dieses freie Dasein auf meiner Smuk liebgewonnen!
In den nächsten beiden Wochen setzte sich mein „Phänomen“ allerdings nicht nur kontinuierlich fort, sondern verstärkte sich zusehends. Ich verrichtete meine Arbeiten widerwillig und flüchtete mich in sinnlose Ablenkungen. Mir drängte sich immer mehr die Einsicht auf, dass ich mit Ming Li über die Sache reden musste. Aber ich schob das Unvermeidliche vor mir her und quälte mich mit Zweifeln und schlechtem Gewissen.