Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 12
9 Bauerndrama
ОглавлениеVom „Pluto“ aus nahm sich Daniel ein Taxi und abstattete seiner Bank einen Besuch, denn allzu lange mochte er seinen armen Laptop dann doch lieber nicht in Einzelhaft belassen. Außerdem wollte er an seinem Roman arbeiten und war auch ein bisschen neugierig, ob sich wieder etwas getan hatte mit der Datei, wobei er ihr das allerdings, so einsam und allein in einem Schließfach darbend, im Grunde nicht so recht zugetraut hatte.
Endlich zuhause stellte er den Laptop auf den Schreibtisch, schaltete das Gerät an, machte sich einen Kaffee, kehrte nach einer Stunde zurück, verfolgte den verzweifelten Tanz der „Windows“–Bälle, lauschte dem verheißungsvollen Rauschen der Ventilatoren, entdeckte eine unerquicklich knirschende Dissonanz im Zirpen der Platinen, transferierte einen Weinkorken vom Boden in den Papierkorb, und öffnete schließlich die Datei. Unterdessen relativ gelangweilt scrollte sich Daniel durch die Zeilen.
Was sollte in einem Bankschließfach schon großartig mit dieser doofen Datei geschehen sein? Und geschehen war inzwischen ohnehin nicht viel. Gut, mit Charlotte in den Zoo zu gehen war besser als ... Moment!, stutzte er, und sein Blick schien sich wie der Saugnapf eines zwergmännlichen Löcherkrakens am Bildschirm festzusaugen: Das hatte doch heute Morgen noch nicht dagestanden! Da war er sich sicher! War das schon wieder ein neuer Text?
Er, Daniel, blies bestürzt die Bäckchen auf und las:
Gegen zehn verließ Daniel seine Bank – der Laptop hatte just in das Schließfach gepasst – und begab sich auf den Weg nachhause. Es war ein schöner Tag. Die Sonne strahlte, ein kräftiger Regenbogen überspannte den Himmel, einige beschäftigungslose Jugendliche steckten gerade einen Kleinbus in Brand, und eine Rentnerin verprügelte einen Taschendieb mit ...
Wahnsinn!, wunderte sich Daniel. Das war doch nicht zu fassen! Da stand in der Tat ein neuer Text! Und was der beschrieb, das hatte er doch gerade erst erlebt!
Die Fassungslosigkeit hatte den Tonus Daniels linker Hand erschlaffen lassen, sodass die sich nun sacht in der Gravitation neigen könnende Tasse einen Schwall heißen Kaffee über seine Hose goss. Er schrie, warf die Tasse in den Papierkorb, und studierte den Text gründlich.
Nachdem er diesen zu Ende gelesen hatte, lehnte er sich entsetzt in seinen Schreibtischsessel zurück.
Das schlug doch dem Fass den Boden aus! Das hatte er tatsächlich gerade erst erlebt! Und diese Sache da mit seinen ehemaligen Schwiegereltern und den drei Ambossen – was für ein Schwachsinn! –, die durfte doch nicht wahr sein! Das also hatte es mit dem Koffer auf sich gehabt! Gut zu wissen! Oder träumte er bloß? Schon ein wenig im Zweifel, zwickte sich Daniel vorsichtig in seine zarte Nasenspitze. Als hätte man ihm mit einem Vorschlaghammer den Fuß zertrümmert, zuckte er – das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzerrt – zusammen und war sich nun sicher: Nein! Er träumte nicht! – Aber wie war dies möglich, dass sich da offenbar von selbst ein Text schuf, der sich genau über das ausließ, was er just erlebt hatte? Und mehr: Jetzt erzählte ihm diese scheiß Datei sogar diese merkwürdige Geschichte mit Franz und Severine! ... Komisch. Konnte er diesem Schmarrn überhaupt Glauben schenken? ... ... ... ... ... ... ...
Draußen auf der Straße schrien die Vögel, die von der Katze gejagt wurden, verzweifelt um Hilfe. Plötzlich knisterte es leise. (Daniel dachte angestrengt nach:)
Na ja, diese Episode mit dem Tretboot damals war schon verdächtig gewesen. Und die anderen Sachen passten auch. Mit Waldi (Frau Wagners Hund, wie bereits erwähnt) – Friede seiner Asche! –, mit der glitschigen Treppe auch, und das mit dem Silvesterböller sowieso! – Aber stimmte das alles überhaupt? Und wenn: Wie könnte er sich in Zukunft gegen diese Anschläge wehren? Wie sollte er sich verhalten? (Daniels Blick verfinsterte sich.) Zur Polizei gehen konnte er nicht. Die würden ihn bestenfalls auslachen – er hatte nur diesen blöden Text als „Beweis“! – und ihm schlimmstenfalls eine Verleumdungsklage anhängen.
Daniel sprang auf und tigerte getrieben durch die Wohnung.
Was verdammt noch mal sollte das alles? Spielte hier tatsächlich Magie ihr listiges Lied? Und wenn, warum? Warum berichtete diese verfluchte Datei, was er gerade erlebt hatte? Warum diese Horrorgeschichte mit seinen ehemaligen Schwiegereltern? Und was zum Teufel sollte er machen mit diesem Hexenwerk?
Nach Stunden erfolglosen Tigerns blieb Daniel in der Küchentür stehen. Langsam sackte er nach vorne, bis seine Stirn auf dem Türrahmen auflag. Die Arme pendelten schlaff wie die Ärmchen einer verlassenen, zu depressiven Verstimmungen neigenden Handpuppe. Auf einmal baute sich eine lebhaft werdende Spannung in seinen hängenden Bäckchen auf und er strahlte. Er hatte eine Idee! Die Idee:
Käme er dieser vermaledeiten Datei schon nicht auf die Schliche, dann könnte er ihre Schwänke wenigstens „nutzen“, als Basistext, als Inspirationshilfe quasi für den neuen Roman, der ja zugegebenermaßen so besonders weit noch nicht gediehen war.
Einem frisch aufgezogenen Blechhoppelhäschen gleich vor Energie strotzend richtete sich Daniel auf, sprang in nahezu vollendeter Bewegungseleganz in seinen Schreibtischsessel und machte sich ans Werk:
Charlotte musste bleiben. Auch ihre bezaubernden Karamellhaare und diese betörenden Marzipanlippchen, wiewohl lispeln müsste sie! Wie Agathe! (Daniel seufzte.) Außerdem fand er Lispeln immer schon so süß! Aber Lispeln als Fußpflegerin? Im Prinzip kein Widerspruch, doch zog die Fußpflege zumindest im übertragenen Sinne keinem Leser vor Begeisterung die Schuhe aus. Vielleicht könnte sie – ebenfalls wie Agathe! – Cellistin sein! (Daniel seufzte wieder.)
Nein, Charlotte musste etwas anderes sein. Etwas Fundamentales! Etwas, das das Potenzial besaß zur Tragödie, den Stoff hergab für den elementaren Kampf des Menschen mit den Mächten der Natur. Genau, Charlotte musste ein Bauernmädchen sein! Und nicht sie hätte ihn aus dieser doch peinlichen Ohnmacht getätschelt, in die er nach jener furchtbaren Tetanusimpfung gefallen war, sondern er hätte sie vor dem Sprung in den Rhein bewahrt! Ja, das war’s! Und danach war sie ihm unsagbar dankbar gewesen, hatte sich natürlich unsterblich in ihren Retter verliebt und ihm ihr unsägliches Leid gebeichtet: Sie lebe auf dem Bauernhof ihrer Eltern im idyllischen Berchtesgaden, das Anwesen sei allerdings total verschuldet, werde wahrscheinlich bald unter den Hammer kommen, und morgen solle schon einmal ihre Lieblingsziege Lisa gepfändet werden, worüber sie, Charlotte, aber ebenso sie, Lisa, unfassbar unglücklich sei. Deswegen habe sie, Charlotte, sich in ihrer Verzweiflung von der Südbrücke stürzen wollen.
Südbrücke? Berchtesgaden? Unmöglich! Die war selbst für einen Selbstmord zu lang, diese Anreise. Dann wohnte sie eben mit ihren Eltern auf deren Bauernhof im idyllischen Rondorf im Süden von Köln. Da war’s ja nun wirklich auch ganz nett und das war nur einen Katzensprung entfernt. Gut. Jedenfalls hatte er Charlotte getröstet, ihr eine still vor sich hin kullernde Träne von der bleichen Wange gewischt und gesagt:
„Mach dir keine Sorgen, ich kümmere mich um die Sache.“
„Wie ‚kümmern‘?“, hatte sie überrascht gefragt.
„Na, ich zahl einfach die Schulden!“
Ob er sich da nicht ein bisschen zu weit vorgewagt hatte? Mittellos war er zwar nicht gerade, nach dem Erbe, das Tante Erna ihm vermacht hatte (immerhin eine Million!). Aber er hatte ja noch nicht mal gefragt, wie hoch der Hof belastet sei! Doch das war nicht wichtig. In der Fiktion brauchte er sich schließlich um keine Bilanzen zu scheren und es schadete gar nichts, jemandem in Not auch einmal etwas Gutes zu tun! – So, zurück zur Figur. Er hatte sie lange genug da stehen lassen, die arme Charlotte, deren Augen nun feucht leuchteten und eine herzverschlingende Wärme ausstrahlten. – Wie schön es doch war, einen anderen Menschen glücklich zu machen!
Und Daniel tippte. ... Der Bauernhof war jetzt saniert (hunderttausend Euro hatte er investieren müssen!), aus ihm und Charlotte war ein wundervolles Pärchen geworden (was sonst, ein wundervolles Bärchen bestimmt nicht!), sie war mit Lisa zu ihm nach Köln gezogen (das Landleben war einfach nichts für ihn!) und dann stand die Hochzeit an. – Und für die müsste er sich etwas Besonderes einfallen lassen.
Daniel schrieb wie ein Besessener. – Und nach ein paar Stunden speicherte er die Datei ab und begab sich zur Nachtruhe. Er war zufrieden, nicht nur mit seinem Bauerndrama, sondern vor allem, weil er jetzt wieder in der Lage war, überhaupt etwas zu schreiben, ein Glück, das er allerdings dieser durchgeknallten Datei zu verdanken hatte. Rätselhaftes hatte schon manchmal seine Vorteile und Verständnis war gelegentlich entbehrlich. Jetzt musste er diese mysteriöse Starthilfe bloß nutzen und endlich seinen großen literarischen Wurf unter Dach und Fach bringen, worüber er sich gleichwohl nicht grämte, denn bis morgen hätte er bestimmt eine Idee, wie die Geschichte weiterginge. Irgendeine dramatische Wende, vielleicht? Oder eine vollkommen ... Chrrr ...
Er war eingeschlafen.