Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 5

2 Der Draht

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Daniel hatte die Südbrücke erreicht. Ihre Stahlbögen säumten den Gehweg wie den Kreuzgang eines Klosters, in dem er nun seinen Frieden fände. Jeder Pfeiler, an dem er vorbei schlurfte, legte sich wie ein Bleikruzifix auf die viel zu schwere Last, die er ohnehin zu schleppen hatte, weshalb seine müden, tristen Schritte unmerklich schwächer werdend auf der Mitte der Brücke verklangen. Er schaute sich um.

Stille.

Schwerfällig hob er sein Bein und wälzte sich vorsichtig auf seinem Bauch über das Brückengeländer. Daniel atmete durch und drehte sich, behutsam tippelnd mit den Füßen tastend, dem düster dahin fließenden Rhein zu. Als klebte ihm noch diese verfluchte Hostie am Gaumen, schluckte er, und krallte sich entschlossen an den Handlauf in seinem Rücken. Bang fixierte er das unter ihm wabernde dämonische Schwarz.

Sollte er tatsächlich springen? Da rein? Das Wasser war bestimmt kalt. Und wenn er lange zu leiden hätte? Oder sich etwas bräche! Oder blutete! Oder es ihm die Gedärme aus dem Leib ...

„Was machen Sie da?“, unterbrach eine arglos–quäkende Frauenstimme Daniels finale Kontemplation.

Er fuhr herum, fasste nach, suchte Tritt, klammerte sich und stotterte:

„Mein, mein, mein Hund ist mir ins Wasser gefallen. Da runter. Wollte gerade nach ihm sehen.“

Vor ihm stand eine etwa vierzigjährige, große Frau. Die fülligen Backen und die barock gewölbte Stirn verliehen ihrem runden Gesicht einen mädchenhaften Ausdruck. Sie hatte lange Locken und trug einen weiten, hellen Mantel. Die Augen aufgerissen schlug sie die Hände vorm Mund zusammen und heraus fuhr ihr:

„Das ist ja furchtbar!“ Sie machte einen Satz auf Daniel zu, stellte sich neben ihn an das Geländer und reckte ihren Hals. (Die Situation war Daniel äußerst peinlich.) „Ich sehe nichts!“, rief die Frau außer sich, „Oh mein Gott, hoffentlich ist dem armen Tier nichts passiert! Was war’s denn für ein Hund?“

„Ein Zwergschnauzer, glaube ich“, antwortete Daniel mit säuerlichem Oszillieren um die spitze Nase, „Kenne mich mit Hunden nicht besonders aus. Ist mir zugelaufen“.

„Da ist er!“, schrie die Frau und zeigte, sich wuchtig über das Geländer beugend, auf den Fluss, wobei sie ihn fast in die Tiefe gerissen hätte, den beklagenswerten Daniel, der sich nun erschüttert und mit flehenden Augen an den Handlauf schmiegte.

„Passen sie doch auf!“, keuchte er, „Beinahe hätten Sie mich da runtergeschubst!“

„Oh, Entschuldigung“, zuckte sie die Schultern, „Ich dacht, ich seh den Hund.“ Sie stützte sich auf das Geländer, um sich weiter darüber zu beugen, und musterte das Schwarz in der Tiefe. Nach einem Moment fragte sie, als glaubte sie es eigentlich selbst nicht mehr so ganz: „Ist er das da unten?“

„Eher nicht“, befand Daniel, ohne richtig hin–, sondern eher verdrießlich wegzusehen.

„Ich glaub, Sie haben recht. Ist wohl ein Strauch, der da treibt.“

„Wahrscheinlich.“

Sie nickte, richtete sich auf und drehte sich Daniel zu, der sich – noch immer das Geländer klammernd – ein (verlegenes) Lächeln abrang. Verwundert hob sie die Brauen und fragte:

„Was machen Sie eigentlich hier auf der anderen Seite des Geländers?“

„Och, von hier aus sieht man besser“, zuckte er ertappt die Schultern, fasste panisch das Geländer nach (er hatte einen Moment des freien Falls gefühlt!), und hechelte: „Aber ich komm jetzt lieber wieder rüber, bevor Sie mich doch noch da runterschubsen. Könnten Sie bitte einen Schritt zurücktreten?“

„Tut mir leid“, druckste die Frau, und trat zwei Schritte zurück.

Schwer seufzend schickte Daniel sich an, das Geländer zu übersteigen. Und wäre da nicht dieser Draht gewesen, der unter dem Handlauf hervorspitzte, hätte er ihn „ungeniert“ genießen können, jenen frischen Lebensmut, der nun in ihm keimte (die Unbekannte gefiel ihm!). Nun aber spitze da dieser Draht heraus, bedrohlich, lauernd, wie der Stachel eines sinistren Skorpions, dem sich Daniels behände schwingendes Bein jetzt unaufhaltsam näherte. – Bis er zustach, der Stachel, sich durch Daniels Hose bohrte, ihm die obersten Hautschichten über den Adduktoren aufkratzte und ihn schreien und mit schmerzverzerrter Miene den Handlauf umarmen ließ.

„Oh mein Gott, was ist denn nun schon wieder?“, sprang die Frau vor Schreck noch einen Schritt zurück.

„Ich hab mir den Oberschenkel aufgerissen!“, luftschnappte Daniel, „Da muss was höllisch Spitzes unter dem Handlauf herausgeschaut haben.“ Er sah, nichts Gutes ahnend, auf seinen rechten Schenkel, konnte aber im Dunkeln nichts erkennen, doch fühlen, und zeterte: „Meine Hose wird warm! Ich blute!“

„Das ist ja fürchterlich! Sie Armer! Kommen’s, ich helf Ihnen“, beruhigte sie Daniel, schoss auf ihn zu, packte seinen Mantel und versuchte energisch, ihn zu sich auf die rettende Seite des Geländers zu zerren.

„Scheiße!“, schrie er aus der Höhle seines Mantels, „Es steckt noch in meinem Schenkel!“, und er klammerte den Handlauf enger.

Die Frau ließ von Daniels Mantel ab und wandte sich seiner Hose zu. Ihr Blick strich über das Textil.

„Ja“, nickte sie interessiert, „da hat sich ein Draht in Ihrer Hose verheddert.“

„Können Sie ihn rausziehen?“, hauchte Daniel.

„Ich versuch’s.“ Vorsichtig, Millimeter um Millimeter, zog sie den Draht aus Daniels Hose. Er schloss die Augen. „So, geschafft“, pustete sie, und beteuerte: „Sie können jetzt zu mir rüber. Ich halt Sie fest“, und sie packte Daniels Mantelkragen und zerrte an ihm, als wollte sie einen Sack Kartoffeln zu sich rüber hieven.

„Das ist sehr nett, danke“, ächzte Daniel, seinen bedrohlich eingeengten Hals wie einen schlüpfenden Engerling nach links und nach rechts und wieder nach links windend.

Endlich auf dem Gehweg, lehnte er sich entkräftet und den Mantel bis über beide Ohren gezogenen gegen die Brüstung. Die Frau streckte ihm lächelnd die Hand entgegen und meinte:

„Guten Abend. Darf ich mich vorstellen: Charlotte Schwan.“

Daniel schaute zu Frau Schwan auf (sie mochte einen halben Kopf größer sein als er), zupfte sich den Mantel straff und ergriff sie, die Hand.

„Angenehm! Wolter, Daniel Wolter“, schüttelte er sie.

„Sie zittern ja!“, wunderte sich Frau Schwan, seine schlotternden Knie betrachtend.

„Na klar! Mir steckt der Schreck in den Knochen! Zuerst stoßen Sie mich beinahe hier runter und ich sehe mich schon in den Fluten versinken. Und dann reißt’s mir auch noch den Schenkel auf!“

„Lassen Sie mich mal nachschauen, Herr Wolter.“

Frau Schwan bückte sich und ließ den Lichtkegel einer gürkchengroßen Schlüsseltaschenlampe wie einen Suchscheinwerfer über Daniels Hose wandern.

„Seien Sie bitte vorsichtig!“, flüsterte er gepresst.

„Ja, ja. Ich pass schon auf“, beschwichtigte sie ihn. Sorgfältig inspizierte sie seine Hose, nickte, sah zu ihm, sich die Taschenlampe unters Kinn haltend (Daniel zuckte zusammen), auf, und erläuterte sanft lächelnd: „Ja. Sie haben da ein Loch in der Hose, etwa reiskorngroß. Und wenn ich mich nicht täusche, ist da auch ein bisschen Blut.“

„Verflixt, heute kommt wirklich alles zusammen! Meine Tetanusimpfung ist abgelaufen!“

„Oh, das ist schlecht!“

„Ausgesprochen schlecht!“, stellte Daniel, den Hals empört streckend, richtig, „Doch ich denke“, erläuterte er siech sackend, „es gibt noch Hoffnung: Soweit ich weiß, hat die Notfallambulanz im St. Antonius Krankenhaus rund um die Uhr geöffnet.“

„Ach, ins St. Antonius sind’s ja nur zehn Minuten“, war Frau Schwan erleichtert, und versicherte, fürsorglich Daniels Schulter tätschelnd: „Aber ich lass Sie da jetzt natürlich nicht alleine losstiefeln.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen“, wischte er sich den Angstschweiß aus der Stirn, „Aber nehmen wir besser ein Taxi. Noch kann ich mir kein Bild vom Ausmaß der Verletzung machen, weshalb ich den Oberschenkel nicht allzu sehr belasten möchte im Moment.“

„Da haben Sie wohl recht. Einen Augenblick, ich ruf uns eins.“

Wie ein begossener Zwergschnauzer stand Daniel neben Charlotte Schwan, während sie auf das Taxi warteten.

Warum musste gerade ihm, Daniel Wolter, Derartiges widerfahren?, haderte er still mit manch peinlichem Moment seiner Rettung „wider Willen“. Warum bloß? Warum?

Doch brauchte er nicht hadern, denn bald würde er eine ganz eigene „Art“ finden, mit solch peinlichen Momenten zu „verfahren“. Wie ein „Hexenmeister“ würde er mit ihnen und noch ganz anderen Momenten verfahren, ach, „verfahren“, „verhexen“ würde er sie eben, diese Momente. Doch dazu gleich. Zunächst sei eine „gewagte Theorie“ vorgestellt, die Daniel vor Jahren entwickelt hatte und die wie eine Vision sein sollte, von seinen nahenden „Hexenkünsten“. Zu Daniels „gewagter Theorie“ also, für einen Augenblick. Oder einen Moment? Einen peinlichen? Aber egal:

Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen

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