Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 13
10 Zimtschnecken
ОглавлениеWiener Innenstadt, vor sechsunddreißig Jahren
Das Kinderzimmer war erfüllt von einer zarten Duftmelange aus Zimt, Vanillezucker, Kardamom, Kakao und allerlei anderen köstlichen Ingredienzien, die aus der im Erdgeschoss des Hauses gelegenen Backstube bis hinauf in den zweiten Stock, in Charlottes Reich, drang. Der Biedermeier–Raum war dämmrig von einer rot beschirmten Nachttischlampe beleuchtet, die auf einer kleinen Kommode neben Charlottes leerem Bett stand. Die zerwühlte, reich berüschte Daunendecke war halb herumgeschlagen und verströmte noch Charlottes Wärme und mildes Milchbreiaroma. Sie war gerade erst aufgestanden, vom Klirren einer leeren Teigschüssel geweckt worden, die in der Backstube auf den Steinfußoden gefallen war. Gegen die Nacht spiegelte sich im Fenster das Bild der vergnügt auf ihrem Schaukelzebra wippenden Charlotte. Wipperchen um Wipperchen schaukelte sie sich an einen an der Wand stehenden, mit allerlei Stofftieren gefüllten Bastkorb heran –, bis die bekuften Vorderläufe des Zebras gegen den vorderen Rand des Korbs stießen, sich dort einklemmten und Charlottes Köpfchen von der abgebremsten Bewegung wie eine Lottokugel nach vorne kippte.
Ihre drallen Händchen glitten langsam von den Haltegriffen ihres Schaukelzebras, bis die Fingerspitzen einen Moment auf dem Griff ruhten. Ein jeder der Fingernägel war in einer anderen Farbe lackiert: In Gelb, Grün, Rot, Blau und Rosa, von links nach rechts, wo der Daumen links, und von rechts nach links, wo der Daumen rechts war. Charlotte blies in den Haarvorhang vor ihren Augen, wischte sich die langen Karamelllocken aus dem Gesicht, und tätschelte ihre Henriette (so nannte sie ihr Schaukelzebra) zwischen den Ohren. Ein wenig tapsig stieg sie ab und wackelte auf den Korb zu. Ihr geblümtes Nachthemd war verrutscht und steckte zu einem guten Teil in ihrer berüschten, mit Affen und Giraffen bedruckten Unterhose, die sich stramm über ihr kräftiges Popöchen spannte. Charlotte beugte sich über den Korb, wühlte darin, und zog ein „Steiff“–Zicklein heraus.
„Hast du Hunger, Zicky?“, fragte sie ihr Stofftier.
Charlotte lächelte, als wäre sie mit der Antwort ihres Zickleins höchst zufrieden, klemmte es unter den Arm und trottete mit erwartungsvoll gespitzten Lippen aus ihrem Zimmer.
Im Flur war es dunkel. Sie näherte sich einer ausgetretenen Holztreppe, die in die unteren Geschosse des Hauses führte. Zwischen den gegenläufigen Holzgeländern drang ein schwacher Lichtschein nach oben, der Charlottes Stupsnase von unten sanft beleuchtete. An der obersten Treppenstufe blieb sie stehen, nahm Zicky unter ihrem linken Arm hervor, klemmte sie unter den rechten, und hob den linken, um sich schön artig am Geländer festzuhalten, während sie langsam – Schrittchen für Schrittchen, genau so, wie sie es von Mama und Papa gelernt hatte! – die Treppe hinabstieg.
Im Erdgeschoss schlug Charlotte ein herrlicher Duft entgegen, sodass sie wie angehalten stehen blieb. Ihr Näschen vibrierte noch von diesem köstlichen Duftschlag, ja, vibrierte immer stärker, drohte fast hinwegzuflattern in dieses Paradies der Gerüche, der Aromen.
Oh wie das duftete, oh wie das roch! Nach Zimtschnecken, hm, Puddingstückchen, ah, Sacher–Torte, uh, Apfelstrudel, Streuselkuchen, Schokoladenhörnchen ... Hmmmm!
Charlotte war nahezu in eine Trance versetzt von all diesen Düften. Sie hob ihren Kopf, sodass ihre Karamelllocken die Affen und Giraffen auf ihrer Unterhose wie unter einem Schleier verbargen und ihre schnuppernde Stupsnase einer winzigen Radarantenne gleich über der Kleinen sondierte. Die zierlichen Nasenflügel öffneten und schlossen sich aufgeregt und schnell und schneller.
Charlotte drückte ihre Zicky ans Herz und marschierte weiter. Aus der angelehnten Tür zur Backstube hörte man leise die Stimmen von Erwachsenen – Charlottes Eltern –, die sich in einem der zur Straße hin gelegenen Verkaufsräume aufhalten mussten. Charlotte schlich, bemüht ihr wackeliges Gleichgewicht haltend, auf die Tür zu. Ihre Linke näherte sich vorsichtig dem Türgriff, krallte sich an ihm fest und sie schwang sich wie ein Tarzan mit der sich öffnenden Tür in den Raum.
Freudig überrascht von dem, was sie dort sah, ließ sie den Türgriff los und ihre nackten Füße landeten mit einem satten Patsch auf dem kalten Steinfußboden. Ihre Augen strahlten: Vor ihr stand ein Handkarren der Größe eines Kinderbetts, dessen mittlere Ablagefläche überfüllt war mit zuckerig–butterig glänzenden Zimtschnecken. Charlotte reckte ihren Hals so weit, dass es fast quietschte (was natürlich übertrieben war), sie aber auf jeden Fall auch die obere Ablagefläche des Wagens überschauen konnte.
Und auf der waren ja auch welche!, dachte sie. Und sooo dicke und viele!
Charlottes Augen funkelten begeistert. Langsam näherte sie, ihr Zicklein mit beiden Händen haltend, dessen Kopf einer über den Rand der mittleren Ablagefläche hinausspitzenden Zimtschnecke an. Der kleine Plastikknopf, den das Stofftier auf die Nasenspitze aufgenäht hatte, nahm Witterung auf und die Augen des Tieres schienen zu leuchten, fast so wie die Charlottes, welche nun Zickys Nase bedächtig an der Zimtschnecke auf und ab streichen ließ. Charlottes Zünglein leckte saftig über ihre zarte Oberlippe.
„Ja, das ist gut!“, flüsterte sie dem Tier aufgeregt schmatzend zu.
Charlotte lächelte und während das Zicklein genüsslich an der Zimtschnecke „knabberte“, begutachtete sie mit weit aufgerissenen Augen die köstliche Fracht des überladenen Handkarrens. Wie sehr wünschte sie sich, wenigstens eine dieser Schnecken zu essen.
Schnecken essen, Schnecken essen!, grinste sie, und, „Ach herrje! Ach herrje!“, seufzte sie, denn sie erinnerte sich, dass ihr der Papa das aber streng verboten hatte, das „Schnecken essen“. Die Schnecken seinen fürs Geschäft und außerdem sei es gar nicht gut für ihre Zähnchen, wenn sie immer so viel Süßes esse. Charlotte schnaufte sehnsuchtsvoll. Ihre Augen wurden traurig.
Sie könnte sich doch die Zähnchen putzen, danach!, dachte sie.
Charlottes Linke löste sich von Zicky, sodass deren Schnauze tief in die Zimtschneckenspirale eintauchte, und näherte sich zögerlich einer wirklich prächtigen Zimtschnecke am Rand der oberen Ablagefläche des Karrens an, zitterte, wollte schon zugreifen, aber Charlotte hielt sie, die Hand, sich die mahnenden Worte des Vaters in Erinnerung rufend, in schier übermenschlicher Anstrengung im Zaum. Entschlossen (wenn auch widerwillig) trat Charlotte einen Schritt zurück.
Nein!, schüttelte sie ihren Kopf. Papa hatte ihr das verboten!
Die Schnauze der Ziege nahm, nachdem sie die Nüstern von Zimt– und Zuckermasse freigeblasen hatte, wieder Witterung auf. Charlotte presste das Tier fest gegen ihren Bauch und nun blies auch ihr Näschen.
Eine einzige Schnecke vielleicht? Nur eine einzige! Da waren doch so viele! Sie schüttelte abermals ihren Kopf, heftiger sogar, sodass ihr und ihrem Zicklein die Karamellhaare ins Gesicht und um die Ohren flogen. Nein, nein! Das fiele Papa auf! Und er hatte ja auch gesagt, sie könne nicht einfach immer alles wegmampfen. Die Sachen seien schließlich fürs Geschäft und das würde dem Umfratz schaden, wenn sie die ganzen Teilchen verdrücke. ... (Zögern) ... Wer war dieser Umfratz eigentlich?
Charlotte grübelte, während ihr Zicklein heftig zappelte, alles unternahm, sich aus Charlottes Umklammerung zu befreien und über diese leckeren Zimtschnecken herzufallen. Der klebrige Knopf des Tiers vibrierte. Es fletschte seine Zähne. Und Charlotte überlegte, ganz scharf, ganz pointiert (für eine Dreijährige!):
Hm. Der Umfratz. Was ging der sie überhaupt an? Und so viele Teilchen konnte sie doch gar nicht wegmampfen. Für den Umfratz bliebe also immer noch was übrig. Genau! Der sollte sich mal nicht so blöd anstellen, dieser doofe Umfratz! Charlotte seufzte. Aber Papa hatte ihr das ja auch erklärt. Weil der Umfratz dann immer kleiner werde, bis er so klein sei, dass es noch nicht mal mehr langen würde, ihrer Zicky was zum Essen zu kaufen.
Charlotte stockte, als wäre ihr hier eine erhebliche Lücke in Vaters Argumentation aufgefallen. (Dies musste einen schon beeindrucken, wie sich schon in frühen Kindheitstagen bei Charlotte ein solch kritischer Verstand anzukündigen schien!) Und auf einmal fiel es ihr wie Zimtstreusel von den Augen:
Genau! Was denn hatte dieser Umfratz mit ihrer Zicky zu tun? Der hatte ihr doch noch nie was zum Essen gegeben, dieser doofe Umfratz! Darum hatte sie sich schließlich immer selber kümmern müssen, ihre arme Zicky zu füttern! (schwerer Seufzer) Aber Papa hatte es halt gesagt. (Nicken) Stimmt. Und was Papa sagte, das stimmte eben. Ach herrje, das konnte sie ihrer Zicky wirklich nicht antun, dass der Umfratz immer kleiner würde!
Charlotte schaute das Tier mit melancholischen Augen an. Auf einmal hoben sich ihre Brauen und ihre Pupillen blitzten feurig. Jetzt hatte sie tatsächlich begriffen:
Klar, warum war sie da nicht gleich draufgekommen! Sie musste sie doch gar nicht ganz essen, die Schnecke, sondern nur ein klitzekleines Stückchen! – Von jeder. Dann fehlte auch keine und das würde dann ja weder der Papa noch dieser doofe Umfratz merken, wenn sie nur ein ganz, ganz klitzekleines bisschen von jeder ...
Sanft lächelnd, denn sie war nun mit sich im Reinen, legte Charlotte Zicky auf den Boden, trat an den Karren heran, stellte sich auf die Zehenspitzen – beängstigend wie ein aromaverstärkter Zimtdämon über sich hinauszuwachsen schien sie! – und griff sich eine ziemlich dicke Zimtschnecke von der oberen Ablagefläche. Charlottes Stupsnase schnaubte aufgebracht, ihr erregt vibrierendes Mündchen biss flugs in die Schnecke, kaute geschwind, der Schlund schluckte eilig, und sie legte das Gebäckstück hastig zurück auf seinen Platz. Sie schaute – keiner da! – und schnappte sich die nächste Schnecke, biss, die Augen sprühten ekstatisch, die Kiefer kauten eifrig und schon hatte sie auch dieses Teil wieder zurück gelegt und das nächste näherte sich ihrem gierig offen stehenden Mund. Schnapp! (Dazwischen hätte man den Finger besser nicht gesteckt!) So ging es weiter. Und mit sich ins Erstaunliche steigernder Geschwindigkeit griff sich Charlotte eine Zimtschnecke nach der anderen, biss jeweils einmal hinein und legte das nun wie eine Straßenbahnfahrkarte am Rand gestanzte Gebäckstück zurück auf den Karren. Man konnte Charlottes Bewegungen kaum folgen. Ärmchen und Locken flogen, das Mündchen schnappte in allen Raumkoordinaten und der Schlund überschlug sich fast vor Schlingen. Charlottes zarter Bauch spannte schon einem Vierundzwanzigpfünder Presssack gleich, doch ihr Mund und ihr Schlund arbeiteten emsig und zuverlässig wie ein nagelneuer „Gardena–de–Luxe“–Schredder.
Alle Zimtschnecken auf der oberen Ladefläche waren jetzt mit kleinen, halbkreisförmigen Lücken an den Rändern versehen, jeweils immer nur ein klitzekleiner Biss. Charlotte hielt kurz inne. Ihre Augen glühten, ihre Stupsnase schnaubte, ihre zimt– und zuckerverschmierten Lippen zitterten.
Nach einigen Malen Luftholen wandte sie sich entschlossen der mittleren Ladefläche zu, sich zwischen diese und die obere hineinschiebend. In Charlottes karamellbelocktem Kopf sprudelte es vor Vergnügen. Zwischen den Ablageflächen des Karrens bebte es. Und von Charlotte konnte man nur die mit Affen und Giraffen bedruckte Unterhose und ihre strammen Schenkelchen sehen, die auf den Zehenspitzen wackelnd den Oberkörper der Kleinen in den Karren hinein streckten. Als Charlotte gerade in die vorletzte Zimtschnecke beißen wollte, hörte sie wie aus weiter Ferne eine Männerstimme fragen:
„Was machst du denn da, Charlotte?“
Ihr Vater war’s! Sie zog ihren Kopf, den sie sich vor Schreck an der oberen Ablagefläche anstieß, dass es blechern knallte, aus dem Karren hervor, drehte sich mit hektisch arbeitenden Kiefern und fieberhaft schlingenden Schlundwerkzeugen zu ihrem Vater um, schluckte den letzten Krümel der vorletzten Schnecke hinunter und pustete außer sich:
„Ich wollt sie nicht aufessen und hab sie auch gar nicht aufgegessen. Ganz bestimmt nicht! Da fehlt keine einzige!“
Charlottes Vater – ein großer Mann mit hellbraunen Locken und einem runden, gutmütigen Gesicht – hob erstaunt und auch ein wenig besorgt die Brauen. In diesem Moment erschien Charlottes Mutter – eine puppenschöne, rothaarige Frau mit einer sommersprossenübersäten Stupsnase – in der Tür. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen und zeterte:
„Oh mein Gott! Was hast du denn da gemacht? Das ganze Tablett hast du ruiniert!“
Charlottes Unterlippe schob sich trotzig nach vorne und sie entgegnete, die Brauen ernst zusammengezogen:
„Gar nix hab ich ruminiert! Keine einzige hab ich gegessen!“ Ihre Händchen krallten sich verzweifelt in die vorletzte Zimtschnecke, die sie in ihrer Aufregung ganz vergessen hatte zurückzulegen und die sie nun verkrampft vor ihrem Bauch festhielt. „Nur reingebissen, halt, hab ich“, ergänzte sie.
Charlottes Vater schüttelte den Kopf und betrachtete das Chaos, das seine Tochter hinterlassen hatte. Eine jede der Zimtschnecken war persönlich mit einem Stanzbiss seiner Tochter signiert. Diese Ware war unwiderruflich verloren!
Doch Charlotte hatte es gut gemeint, dachte er.
Er lächelte, gab seiner Tochter einen liebevollen Klaps auf ihr kräftiges Popöchen, zupfte ihr das Nachthemd glatt und sagte ernst:
„Aber mach das nicht noch mal! Versprichst du mir das?“
„Das mach ich!“
„Gut, mein Schatz. Und jetzt geh schnell nach oben in dein Bettchen, bevor du dir noch einen Schnupfen holst auf den kalten Steinplatten hier unten.“
Charlotte legte die zerknäulte Zimtschnecke auf den Karren, griff sich ihre Ziege, wandte sich geknickt ab – wie gerne hätte sie auch noch diese letzte Schnecke gestanzt! – und schickte sich an, die Treppen hinauf zu stapfen. Ihr Vater hakte unvermittelt nach:
„Ach, Charlotte.“ Sie drehte sich um und schaute ihn fragend an. „Nimm dir besser eine Schnecke mit“, fuhr er fort, „Zicky sieht hungrig aus.“
Charlotte strahlte wie die Sonne auf dem Bild, das sie jüngst für Papa gemalt hatte, schnappte sich zwei Zimtschnecken (als Dreijährige war sie des Zählens noch nicht mächtig) und eilte mit Zicky unter ihrem rechten Arm nach oben. Die Zimtschnecken hatte sie in ihr Nachthemd gelegt, das sie mit der Linken zu einem Sack angelupft hatte.
Ihr Vater schaute ihr nach und schüttelte schmunzelnd den Kopf. Die Affen und Giraffen verschwanden hinter der nächsten Treppenwindung. Nun schmunzelte auch Charlottes Mutter.