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12 „Dich krieg ich noch!“

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Köln, im vergangenen Juni

Wenige Monate bevor Daniel versucht hatte, sich von der Südbrücke zu stürzen, hatte er eine Begegnung gehabt, die man als „mystisch“ bezeichnen könnte. Oder als Begegnung „der dritten Art“. Oder gar als „Hexenwerk“? Egal. Er hatte er eine Begegnung gehabt. Und die könnte durchaus dazu beigetragen haben, dass seine „gewagte Theorie“ sich bald tatsächlich „konkretisieren“ würde. Doch zu Daniels Begegnung. Dies war der Tag!

Es war ein durchwachsener Junitag. Vorhin hatte die Sonne geschienen, nun nieselte es, worüber sich Daniel nicht wunderte, denn was sonst könne einen passenderen Rahmen abgeben zu seinem Leid, als dieses hässliche Grau. (Schon seit Monaten litt Daniel an einer Schaffensblockade. Und jetzt – er kam gerade vom Einkaufen – musste er auch noch diese Einkaufstüten durch den Regen schleppen!) Im Bewusstsein dieser tristen „Stimmigkeit“ schnaufte er erkennend und setzte seinen beschwerlichen Weg durch die Kölner Südstadt klaglos fort. Ja, klaglos, denn er habe sich damit abgefunden, dass sie nun einmal beschwerlich seien, seine Wege. Sein Weg in den Supermarkt genauso wie der nachhause. Seine beruflichen Wege in der Archäologie – scheiß Steinschweindesaster! – genauso wie die in der Schriftstellerei – vermaledeite Schaffensblockade! Und seine Wege mit Frauen sowieso! – Ach, Agathe!, seufzte er, Immer das Gleiche! Immer beschwerlich. Und letztlich immer tragisch! Zum aus der Haut fahren war es! Daniel nickte: Aber aus der könne er nun einmal nicht fahren, weshalb er sie eben klaglos ertrage, seine beschwerlichen Wege. Geistesabwesend bog er in eine Straße ein (nur schnell nachhause!) und wunderte sich:

Wieso waren hier plötzlich so viele Leute? – Schande! Er war auf dem Südstadtfest gelandet!

Eigentlich hatte er dieses Fest meiden wollen – zu feiern gab es nun wirklich nichts, in diesen schweren Zeiten! – doch hatte er sich, geistig in „höheren“ Ebenen schwebend, verirrt und war jetzt in dieses Getümmel geraten. Gereizt bahnte er sich seinen Weg durch Gelächter, Gegröle, an Ständen vorbei. Auf einmal hörte es auf zu nieseln und die Sonne spitzte verwundert zwischen den aufbrechenden Wolken hervor. Daniel war jedoch (wiederum) nicht verwundert:

Alles hatte sich eben gegen ihn verschworen! Jetzt stimmte ja gar nichts mehr! Noch nicht mal das Wetter! Zum Kotzen war das!

Ungehalten stapfte er weiter über das nasse Kopfsteinpflaster, rumpelte hier einen Passanten an, zischte missmutig, und schnitt dort einem herumtollenden Kleinkind eine Grimasse, die selbst einen deutschen Finanzbeamten in (Existenz)Angst und Bange hätte versetzen können. Beinahe schon hatte er den unliebsamen Trubel hinter sich gelassen, als ihm ein schwarzes Zelt der Größe eines Wohnwagens auffiel. Es war mit orientalischen Goldornamenten verziert und über dem tief verschleierten Eingang prangte ein gewaltiges Schild in der Form eines Krummsäbels, auf dem in Arabisch anmutenden, aber auch dem des Lesens mächtigen Deutschen verständlichen Lettern geschrieben stand:

„Erkenne deine Zukunft! Schaffe dich selbst!“

Das sah vielversprechend aus, dachte sich Daniel. Und das wäre doch genau das Richtige für ihn!

Neugierig näherte er sich dem Zelt, blieb vor ihm stehen und klopfte an den Eingangsschleier, was natürlich keiner hören konnte. Irritiert schob er den Schleier beiseite und trat ein.

Trotz des züchtig verschleierten Eingangs strahlte der Raum, in dem Daniel nun stand, etwas Schummeriges, ja, nahezu Puffiges aus. Er, der Raum, (und insofern auch er, Daniel) war von zwei jeweils links und rechts neben dem Eingang stehenden Salzlampen beleuchtet. Auf kleinen, ebenfalls orientalisch verschnörkelten Beistelltischen standen Wasserpfeifen und allerlei Schälchen mit Kräutern, die angenehm dufteten.

Patschuli!, war sich Daniel sicher, doch vor weiteren Überlegungen wurde seine Aufmerksamkeit durch eine wie aus dem Nichts aufflammende Kerze abgelenkt, die auf einem Tisch vor ihm stand. Das Flackern beleuchtete vage eine hinter dem Tisch sitzende Frau, die eine spitz zulaufende, an einen Zauberhut erinnernde Kopfbedeckung trug. Die Frau hatte hellblonde, im trüben Licht fast weiß erscheinende Haare und große, eindringliche – und wie Daniel fand: leicht wahnsinnige – Augen, die ins Leere starrten. Die Hände der Frau ruhten auf einer kindskopfgroßen Glaskugel, über ihren Schultern hing ein schwarzes Cape.

„Hallo“, sagte er.

„Setz dich, Daniel!“, hieß ihm die Frau mit kristallener Stimme.

Daniel war verblüfft:

Woher kannte die seinen Namen? Hatte sie etwa sein erstes Buch gelesen und das Interview mit der guten Zöllner gesehen? Ein wenig verwirrt wusste er zwar nicht, warum er sich setzen sollte, doch nahm er, wie von magischer Hand hineingedrückt, in einem Korbsessel gegenüber der Glaskugel Platz. Daniel sah die Frau an. Sie starrte nach wie vor ins Leere. Auf einmal hatte er das Gefühl, als erinnere sie ihn an jemanden. An jemanden, den er jüngst gesehen hatte!, neigte er den Kopf: Aber an wen, verdammt noch mal?

„Fünf Euro, bitte“, sagte die Frau, und lächelte

„Bitte?“, fragte Daniel erstaunt, und er hatte für einen Moment den Eindruck, sie sei die Kleine aus der „Hawaii–Bar“ gewesen, die ihm am letzten Wochenende noch diesen allerletzten Pikkolo aufgeschwatzt habe.

Aber nein, das konnte nicht sein. Die hatte keinen Hut aufgehabt! Oder?

„Fünf Euro für die Sitzung“, hatte die Frau unterdessen erläutert.

„Was für eine Sitzung?“

„Na, die für den Blick in deine Zukunft.“

Daniel begann zu begreifen:

Wahrscheinlich war er einer – wahrscheinlich nebenberuflichen – Wahrsagerin ins Netz gegangen. Mal sehen, ob sie ihm da was wahrlich Wahres wahrzusagen hatte.

Schon gespannt wühlte er in seinen Taschen und schließlich in seinen Einkaufstüten, wo er letztlich fündig wurde. Er öffnete seinen zerfledderten Geldbeutel, zog einen Fünfer heraus, knickte ihn längs, und legte ihn wie eine Schaukel auf die Glaskugel, neben der mittlerweile die Hände seines Gegenübers ruhten. Es hob diese an, ließ sie zweimal gegenläufig über die Kugel huschen und der Schein war verschwunden. Daniel schluckte. Die Frau musterte ihn. Er war verunsichert:

Oder war sie dieses bizarre Wesen gewesen, das sich ihm vor zwei Wochen im Volksgarten vor die Füße geworfen hatte? (Daniel hatte sich bei diesem ungewöhnlichen Vorfall – eine überaus attraktive Blondine hatte sich „nimm–mich“–wimmernd und unbekleidet vor ihm auf den Boden gelegt – derart erschrocken, dass er panisch die Augen zugekniffen hatte und davongerannt war, wobei er die Augen auf seiner Flucht selbstverständlich wieder [panisch] geöffnet hatte, um nicht hinzufallen.)

Die Frau lächelte. In ihrem Gesicht breitete sich eine Wärme aus, die Daniel als einladend, ja, saugend empfand.

„Nun höre zu!“, sagte sie. Daniel betrachtete ihre puppenhaften Lippen und durchdringenden Augen. Sein Blick wurde lahm und er hörte der Frau wie hypnotisiert zu, als sie anhob: „Du irrst im falschen Garten.“ Sie hielt inne. Daniel lächelte abwesend. Sie nickte und fuhr fort: „Du irrst im falschen Garten, denn du suchst die falschen Blumen. Es sind nicht deine, und deswegen geht es momentan auch nicht voran in deinem Leben.“

Diese Worte hatten Daniel aus der Hypnose gerissen:

Hatte sie doch tatsächlich den Finger ins richtige Loch gesteckt! Woher wusste die, dass es nicht voranging in seinem Leben, dass er in dieser verflixten Schaffensblockade feststeckte? Schien also was von ihrem Handwerk zu verstehen, die Dame. – Aber was sollte diese Scheiße mit dem Garten? Natürlich war das sein Garten, den er da beackerte!

„Du glaubst mir nicht“, unterbrach die Frau die Stille, die für einige Sekunden zwischen ihnen geherrscht hatte.

„Na ja, mit solch ‚blümeranter‘ Sprache kann ich wenig anfangen. Ich bin eher fürs ...“

„Deswegen wandelst du ja auch im falschen Garten“, unterbrach sie ihn.

„Also hör mal“, erwiderte er genervt, „Ich denke, sehr wohl im richtigen Garten zu wandeln. Hab halt mit ein paar Problemchen zu kämpfen momentan. Und gerade mit denen würdest du mir besser helfen, für die fünf Euro, die du mir abgeknöpft hast.“

Die Frau atmete langgezogen durch die Nase aus, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und ließ ihre Schultern unter einem (ebenfalls langgezogenen) Einatmen nach hinten gleiten, sodass ihr Umhang eine schwarze, nietenbenagelte Bluse freigab, die ihre gewaltigen Brüste kaum zu bändigen wusste. Daniels Blick klebte. Die Frau nahm ihre Rede wieder auf:

„Was du brauchst, ist ein Ziel, eine ...“

„Das hab ich doch!“, fuhr ihr Daniel dazwischen, „Und dass dieses Ziel mein Ziel ist und sein soll, wird mir keiner ausreden!“

Mit zusammengepressten Lippen wiegte die Frau zweifelnd den Kopf, und ließ beschwörend ihre Hände über der Kugel schweben. Sie starrte in das Kristall.

„Ja“, sagte sie endlich, „Was du brauchst, ist jemand, an den du dich anlehnen kannst, der dir hilft, der dir Stütze ist, dem du ver...“

„Quatsch!“, unterbrach Daniel sie, und er dachte, die habe es ja echt ganz schön nötig. (Fehlte bloß noch, dass sie sich ihm als „Stütze“ anbot, diese komische Tante.)

Die Frau schloss die Augen und konzentrierte sich. Ihre Hände pulsierten über der Kugel, sie atmete ruhig. Unversehens schien eine Wolke in der Kugel zu pochen und die Frau riss die Augen auf. Ihre Hände waren zwei gefrorenen Spinnen gleich über der Wolke erstarrt, die sich jetzt auftat und ein grünes Flimmern versprühte. Langsam sanken die Spinnen fast zum Äquator der Kugel. Sie hob sich an und schwang wie von einem unsichtbaren Band gehalten zwischen den Spinnen auf und ab. Die Brauen der Frau schoben sich zusammen und sie näherte ihren Kopf dem Flimmern an, sodass es in bedrohlichen Wellen über ihre Stirn wogte und von dort in ihr Augenweiß schwappte, das nun auch grün glomm.

Eine in der Tat beeindruckende Vorstellung!, musste sich Daniel respektvoll eingestehen. Die fünf Euro waren nicht zum Fenster rausgeworfen, selbst wenn er hier nichts Brauchbares über seine Zukunft erführe.

Die Frau hielt ihre Nase über das grüne Flimmern, das sich inzwischen spiralig aus der Kugel herausschraubte, inhalierte es, und ihre Hände bewegten sich im Rhythmus der Kugel, bis sie verharrten. Die Flimmerspirale verschwand in den Nasenlöchern der Frau. Ihre Augen schlossen sich. Und ...

... „Ah!“, schrie sie auf einmal, fuhr erschrocken auf ihrem Stuhl zurück und starrte auf die Kugel; ihre unvermittelt zitternden Hände bedeckten das Kristall, als wollten sie etwas verbergen, die Kugel sank auf den Tisch, und die Frau sah Daniel ernst an. „Ja, ich habe es jetzt gesehen, ganz genau“, eröffnete sie ihm, „Du hast Großes vor, aber steckst fest momentan, kommst nicht voran.“ Daniels Nacken verspannte sich und er lauschte begierig. Die Frau fuhr mit gejagter Stimme fort: „Und ja, es handelt sich um deine Bestimmung! Und genau die musst du wahrwerden lassen! Du musst es schaffen! Zu viel hängt davon ab, denn die Welt baumelt wie an einem seidenen Faden an der Erfüllung deiner übermächtigen, ja, übermenschlichen Aufgabe.“ Daniel lächelte versonnen, auch erleichtert. „Doch wirst du ...“, ergänzte die Frau mit sanfter, Daniels Seele beinahe streichelnder Stimme, „... deine Aufgabe nicht alleine lösen können. Du wirst Hilfe benötigen. Die Hilfe einer Frau. Einer blonden Frau. Einer Frau mit schönen, großen Brüsten.“ Hier machte die Zauberhutträgerin ein Hohlkreuz. „Einer dir noch unheimlichen Frau, die dich leiten wird durch dunkles Tal, durch das Tal deines Schicksals, das dich letztlich, dank deines grandiosen Genies und dank ihrer großmütigen Hilfe, zu leuchtenden Gipfeln führen wird. Zu deinem Ziel!“ Beglückte Erlösung breitete sich in Daniels Zügen aus. „Und sie wird dir fünf Kinder gebären und bis ans Ende deiner Tage ...“

Daniel schrak zurück, als hätte man ihm eine tollwütige Schnappschildkröte ins Gemächt geworfen.

Was sollte er denn mit Kindern? Und deren gleich fünf!

„Nein, nein!“, wedelt er der Frau die Innenflächen beider Hände entgegen, „Kinder wären mein Ende! Da kann man sich doch gar nicht mehr konzentrieren und die bringen einem alles durcheinander!“

„Du wirst ja nicht alleine sein“, beruhigte ihn die Frau ermutigend lächelnd.

Daniel sprang aus seinem Korbsessel auf und ergriff seine Einkaufstüten. Er schüttelte den Kopf und sagte:

„Ich habe keine Zeit für so einen Schmarrn. Muss zurück an meine Arbeit.“

„Du wirst nicht vorankommen mit deiner Arbeit. Nicht, wenn du dich den dich leitenden Mächten verschließt. Nicht, wenn du dich deiner eigentlichen Bestimmung nicht stellst!“

„Auf so eine Bestimmung pfeif ich!“

Er wandte sich ab, um aus dem Zelt zu eilen.

„Ich werde da sein!“, rief ihm die Frau nach. Er schüttelte den Kopf, warf den Eingangsschleier hinter sich, und verschwand in der Menge. „Wenn du es am wenigsten erwartest“, schloss die Frau.

Sie stand auf und stemmte die Hände in die Hüften. Ihre mächtigen Brüste glitzerten wie Discokugeln im Schein der Kerzen. Einen Moment betrachtete sie versonnen den Eingang. Dann drehte sie sich um, schob einen Vorhang hinter dem Stuhl zur Seite, und begab sich in ein hinten liegendes Abteil des Zeltes.

Hier standen drei leere Tische. Am mittleren lehnte ein Besen. Die Frau kniff verärgert die Lippen zusammen. Auf einmal fauchte sie mit der Stimme eines alten Weibes:

„Dich krieg ich noch, Bürschlein!“ Doch sofort hatte sie sich wieder gefasst und murmelte vor sich hin: „Aber es ist klar, dass du noch was brauchst, vorher.“

Sie nickte lächelnd, griff den Besen, setzte sich darauf und stob auf ihm in die Höhe und durch die Hinterwand des Zeltes, das sich just in diesem Augenblick in schwarzen Nebel verwandelt hatte. Der Nebel verflog, das Zelt war verschwunden.

Genau so hatte sie sich zugetragen, Daniels „Begegnung“. Doch deren Bedeutung hatte er dereinst so wenig verstanden, wie er sie jetzt verstand ... aber erfahren würde.

Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen

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