Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 7

4 Die Datei

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Wieder im Jetzt

Einige Stunden nach dem vereitelten Brückensprung. Nun war es also soweit. Daniels „gewagte Theorie“, die „Vision“, sollte sich zu verwirklichen beginnen. Das Hexenwerk würde erblühen! Oder, um es mit Daniels Worten zu sagen: Die Grenze von Realität und Fiktion sollte verschwimmen. Aus Fiktion Realität werden? Nein. Noch nicht. Noch ginge es in die andere Richtung. Die Sache entwickelte sich eben – noch. Zur Sache also:

Es war ein schöner Morgen. Die quirligen Sonnenstrahlen hüpften vergnügt über das von Tau glänzende Kopfsteinpflaster, die Spatzen sprangen exaltiert, ihr Morgenbad zu nehmen, durch die vermoosten Regenrinnen. Daniel (er kam gerade aus dem St. Antonius Krankenhaus zurück) bog in seine Straße ein und schlurfte in Richtung Sechsundzwanzig (das Haus, in dem er wohnte). Zu guter Letzt hatte er diese ihn bis ins Mark erschütternde Tetanusimpfung hinter sich gebracht und wollte nun noch an seinem „Manuskript“ arbeiten. Zwar müde, aber deutlich besserer Laune als in der Nacht, schlenderte er (die Sechsundzwanzig hatte er jetzt erreicht) auf seinen Hauseingang zu.

Zum finalen Sprung in den Rhein war es also nicht gekommen, dachte er. Und darüber war er froh, wie auch darüber, Charlotte getroffen zu haben. (Frau Schwan hatte ihm nach dieser gräulichen Tetanusimpfung das Du angeboten!) Eine außergewöhnliche Frau!

Er stapfte die Treppen zum Hauseingang hoch.

Und eine schöne Frau! Diese noble Blässe ihrer makellosen Haut. Das holde Näslein. Diese hinreißenden Augen. Und nicht zu vergessen: die Lippen, diese zartrosa Leckerbissen! Irre! Und erstaunlich. Denn solche Kleinode schöpferischer Blüte hatte er nicht zum ersten Mal bewundern dürfen. Genau. Schon einmal war ihm die Gnade solch elysischen Erlebens widerfahren!

Daniel (das Treppenhaus war er hinaufgestiegen) verharrte auf der vorletzten Treppenstufe und schaute sinnierend zur Decke.

Ja, diese Ähnlichkeit war erstaunlich. Wie Agathe! Charlotte könnte in der Tat Agathes Zwillingsschwester sein. Ob sie auch so vernascht war wie Agathe, seine Strudelmaus? (Sein Blick senkte sich und er betastete seine Taschen.) Wo, verflucht, war der Schlüssel? – In der Hand! (Er schüttelte den Kopf, trat an die Wohnungstür heran, und sperrte auf.) Doch seine Strudelmaus war Vergangenheit! Und es war absurd, verpufften Träumen hinterherzujagen. Außerdem galt es jetzt, alle Kräfte auf dieses Manuskript zu bündeln, endlich damit weiterzukommen, endlich einen Einfall zu haben!

Zuversichtlich schnaufend betrat er seine Wohnung, hängte seinen Mantel an die Garderobe, bückte sich, hob seinen Mantel auf, und hängte ihn an die Garderobe. Er bückte sich. ... Als der Mantel schließlich hing, am Haken, trottete er, Daniel, in die Küche, um sich Kaffee aufzusetzen.

Daniel wohnte in einer weitläufigen Altbauwohnung mit Jugendstilstuckdecken und einem schönen, indes nicht immer ganz gepflegten Parkettfußboden. Auch die Einrichtung – Antiquitäten, die er sich noch mit Agathe angeschafft hatte – ließ liebevolle Pflege missen, woran sich Daniel derweil nicht störte. Irgendwann strebe ohnehin alles dem Verfall zu. Und da mache es doch keinen Sinn, sich diesem Axiom wie ein Sisyphos entgegenzustemmen.

Den Kaffee hatte Daniel nun aufgestellt. Er meditierte auf das Gluckern und Tropfen, und schenkte sich schließlich ein. Genüsslich inhalierte er das würzige Aroma, schlurfte zu seinem Schreibtisch, nahm Platz, und schaltete den Computer an.

Es arbeitete leise. Daniel verdrehte die Augen. Und wartete. Geduldig.

Eigentlich könnte er die Wohnung noch mal aufräumen. Sah ziemlich wüst aus, im Moment, fast wie in einem Schweine... Der Ventilator surrte arrhythmisch. Daniel gähnte. Auf einmal zogen sich seine Brauen zusammen: Der „Windows“Reigen stockte! War diese Scheißkiste immer noch nicht hochgefahren? Verzweifelt bohrte sich Daniels Blick in eine „Windows“–Kugel. „Ah!“, entfuhr es ihm plötzlich. Hatte es diese Gurke also doch noch geschafft! Genervt checkte Daniel seine E–Mail. Nichts da. Also an die Arbeit!

Inzwischen überaus überdrüssig, hämmerte er das Passwort seiner Manuskriptdatei ein, nippte missmutig an seiner Tasse, die Datei öffnete sich – und er spuckte vor Schreck den Kaffee auf den Bildschirm.

Was war das denn?

Hektisch fummelte er ein Kleenex aus der Schachtel, wischte die ohnehin reinigungsbedürftige Bildschirmfläche sauber und mochte seinen Augen nicht trauen:

Text war das! – Aber da hatte doch vorher nichts gestanden! Wo war nur seine leere Seite? Sein einsames Leerzeichen? (Hastig scrollte er durch die Zeilen.) Tatsächlich: Da stand ein Text! – Wer hatte den denn geschrieben? Und worum ging es hier?

Er scrollte zurück zum Anfang und las mit offenem Mund:

In dieser Nacht war wenig Betrieb in der Notaufnahme des St. Antonius Krankenhauses, lediglich ein unscheinbares Pärchen mit einem etwa vierjährigen rothaarigen Mädchen, das quengelnd und mit rotzverschmierter Nase auf den blauen Sitzbänken herumturnte. Zwischen Schmerz und Ekel schwankend, setzte sich Daniel der Kleinfamilie gegenüber. Frau Schwan nahm neben ihm Platz. Er versuchte, das Mädchen zu ignorieren, sich zu konzentrieren, auf die weiße Wand vor ihm ...

... gegen die er die Göre am liebsten wie eine lästige Fliege geklatscht hätte!

Daniel sammelte sich, konzentrierte sich wieder auf die weiße Wand ...

... und diese rotzverschmierte Nase! Die ...

Daniel blickte verdutzt auf und begriff:

Hier ging’s um ihn! Das musste just nach dem vereitelten Brückensprung und nur wenige Momente vor dieser gräulichen Tetanusimpfung gewesen sein! Diese verdammte Tetanusimpfung! Diese Tortur! Nein! Nicht schon wieder!

Mit nervös zuckenden Augen las Daniel weiter:

... Die Kleine streckte ihm die Zunge heraus und grinste ihn mit geradezu unerhörter Unverschämtheit an. Daniel kochte:

Übers Knie legen sollte man diese verwöhnte Rotzgöre einfach einmal, ihr ordentlich den Hintern versohlen und die schlechten Manieren ...

„Stimmt etwas nicht, Herr Wolter? Haben Sie Schmerzen?“, erkundigte sich Frau Schwan, besorgt seine Knie beäugend. (Sie hatte bemerkt, wie sich Daniels Hände in seine Knie verkrallt hatten.)

„Es geht schon“, schnaufte er erleichtert.

„Ich dachte nur.“

Daniels Hände entspannten und seine Hosenbeine lagen wieder auf den Schuhen auf. Frau Schwan neigte ihm die Stirn zu und flüsterte:

„Ganz schöner Frechdachs, die Kleine.“

„Ja, ein aufgewecktes Kind“, nickte er.

„Aber etwas ungezogen, finde ich. – Hm. Die Eltern scheint’s jedenfalls nicht weiter zu kümmern.“

„Ach“, erwiderte er sanft den Kopf wiegend und die Brauen einfühlsam hebend, „ich finde es im Grunde gut, dass Kinder heutzutage mehr Freiräume genießen und man ihnen mit größerem Verständnis begegnet.“

„Da kann ich Ihnen eigentlich nur beipflichten“, lächelte sie angenehm berührt.

Mit einer gewissen Verzückung um die Augen betrachtete sie das Kind, und Daniel sie:

Was für eine Erscheinung! Das, das, das, ...

Daniel hatte es ein wenig die Gedanken verschlagen, weshalb er vorerst weiter–„das“–te. Frau Schwan hatte ihren Mantel – ein hellblauer Leinenmantel mit rosafarbenem Winterfutter, das sich auf den Kragen fortsetzte – sorgfältig auf ihren fülligen Schoß gebettet. Ihre zarten, bleichen Hände ruhten ineinander gefaltet auf dem plüschigen Futter und hielten die gelben Wollhandschuhe wie ein Blumensträußchen fest. Daniels Blick bohrte sich in die „Blumen“, huschte ertappt nach oben, stolperte über eine anmutige, sommersprossenübersäte Stupsnase und verhedderte sich schließlich in den Augen.

... das, das, das war doch nicht zu fassen!, ent–„das“–te sich Daniel. Welch Augen!, begriff er nun. Erst jetzt in diesem linden Neonlicht konnte er sie überhaupt würdigen, diese wundervollen zitronatgrünen Augen. – Wie die von Agathe! – Wahnsinn, dass es solch wundervolle Augen zweimal geben konnte!

„Der nächste, bitte“, schnarrte es plötzlich wie aus einem Fahrkartenautomaten.

Die Kleinfamilie verschwand in der Pforte zu den Untersuchungsräumen. Daniel atmete auf – Endlich war das Kind weg! – und wandte sich behaglich Frau Schwan zu.

„Sie sind aus Köln?“, fragte er sie mit einem anheimelnden Vibrato in der Stimme.

„Nein, aus Wien“, sah ihn Frau Schwan überrascht an, „Ich wohne erst seit ein paar Jahren hier.“

Wien!, durchschoss es ihn. Das hatte er sich gleich gedacht! Der Akzent war eindeutig. Aber das durfte doch nicht wahr sein, dass sie aus Wien stammte! Wie Agathe! (Daniel rutschte getrieben auf seinem Sitz hin und her.) Und diese Haare! Schaumig gelockt von hellem Braun, wie eine Melange – oder Karamell? –, was allerdings nicht wesentlich war, denn diese Haare waren – Agathes Haare! Ob Frau Schwan auch Cello spielte?

„Und Sie sind aus Köln?“, hatte sie sich unterdessen interessiert erkundigt.

„Nein, aus Mainz, ursprünglich“, riss sich Daniel aus seinen Träumen, „Bin zum Studium hierhergezogen.“

„Aha.“

„Wissen Sie“, erklärte er ernst, „ich ertrage den Karneval einfach nicht.“

„So, so“, verstand sie schmunzelnd, „Und was haben Sie studiert?“

„Archäologie.“

„Das ist ja aufregend! Dann kommen Sie bestimmt ganz schön rum. Haben Sie auch so eine Peitsche wie Indiana Jones?“

„Nein. Außerdem bin ich kein Archäologe mehr. Inzwischen habe ich mich für einen anderen Berufsweg entschieden. Ich bin ...“

Auf sprang die Pforte zu den Untersuchungsräumen. Und heraus stob der Vater, wie ein wilder Eber schnaubend und das quiekende Kind auf dem Arm. Im Hintergrund zankte sich die Mutter mit dem Arzt, einem rotgesichtigen Herrn Anfang vierzig. Als wollte sie ihm jetzt den Kopf vom Hals herunterschlagen, hob sie ihren Schirm, wandte sich dann aber doch den ihren zu und marschierte – kategorisch klackenden Schrittes und den Schirm schneidig unterm Arm – aus dem Raum. Daniel und Frau Schwan schauten sich an. Und die Phalanx der Kleinfamilie rauschte empört an ihnen vorbei.

Der Arzt beugte sich mit verängstigt klimpernden Augen und erregt zuckenden Ohren aus der Tür, um Daniel in den Untersuchungsbereich zu winken. Daniel zögerte.

Jetzt also war es soweit! Die Tetanusimpfung!

Daniel ward, als schwinde ihm jede Kraft, als werde sie gleichsam weggesaugt, als falle er in sich zusammen. Frau Schwan stand auf.

Wollte sie ihn etwa begleiten?, wunderte er sich, sich wieder entfaltend, in Hoffnung entfaltend wie eine Brötchentüte im letzten Atem eines terminalen ...

Daniel las gespannt weiter, Zeile um Zeile, Seite um Seite, bis an das Ende des Textes. Dann sank er bestürzt in seinen Schreibtischsessel zurück und stierte ins Leere.

Verdammt, das hatte er doch gerade erst erlebt! Die Rotzgöre. Das Gespräch mit Charlotte. Diese bestialische Tetanusimpfung. Und sogar das Du, das Charlotte ihm danach angeboten hatte! Unglaublich! Das stimmte wirklich alles! Aber wer hatte das geschrieben? (Daniel kratzte sich am Kopf.) War hier Magie am Werk? (Er spitzte die Lippen.) Blödsinn, Magie gab’s nur im Märchen. Und sein Leben war momentan alles andere als ein Märchen!

Daniel seufzte wie eine verwunschene Waldfee und überlegte:

Aber was sonst könnte es mit diesem Text auf sich haben? Vielleicht hatte sich ein Hacker einen Spaß mit ihm erlaubt. – Dann müsste dieser Typ ihn ausspioniert haben und das Dateipasswort kennen!

Daniel änderte es geschwind.

Merkwürdig. Ein Hacker? Hm. Womöglich war es einfach nur ein hyperintelligentes Computervirus gewesen? – Das müsste allerdings über das Internet eingedrungen sein!

Entschlossen schaltete Daniel den WLAN–Router ab. Er lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und sinnierte.

War er nun sicher? Kaum zu sagen, denn weder die Virus– noch die Hacker–Variante überzeugte. Aber was sonst konnte hinter diesem mysteriösen Text stecken? Möglicherweise doch Magie?

Und Daniel grübelte und grübelte und grübelte –, bis ihm der viel zu schwer gewordene Kopf wie ein überreifer Halloweenkürbis in den Nacken sackte und er – einer trockengelaufenen Lenzpumpe gleich schnarchend – in seinem Schreibtischsessel einschlief.

Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen

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