Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 6
3 Das Füllhorn des Seins
ОглавлениеVor zwei Jahren – Daniels „gewagte Theorie“
Wie sehr hatte sich Daniel auf diesen Augenblick gefreut. Nach Monaten des Schweißes, der Zweifel, des Verzweifelns, der Hoffnung, der Angst, des Jauchzens, des Schluchzens, der Offenbarung, des Verwerfens und Wiederaufnehmens war es nun endlich soweit: Das erste Interview! Beim „Westdeutschen Rundfunk“! Anlass dieses für ihn großartigen Ereignisses: Sein erstes Buch hatte es tatsächlich in die Bestsellerliste geschafft. Eingeladen war er in „Der Autor spricht“ mit Anita Zöllner.
Es war vierzehn Uhr. Die Aufzeichnung für die nächste Sendung lief gerade. Daniel saß wie eine „reife“ Windel (d.h. außen flauschig–locker, doch im Innern prall gespannt) in seinem Sessel. Zu diesem Anlass trug er – eine antiexistenzialistische Note! – eine weiße Buntfaltenhose und einen weißen Rollkragenpulli, was den Eindruck der Windel insgesamt verstärkte. Mittlerweile hatte er den oder das „Meuchelg(e)nom“, sein Buch, vorgestellt und Frau Zöllner, die Sie ja alle kennen, wollte die Fragerunde eröffnen.
Als hätte sie ein Problem mit ihrer Sitzunterlage, rutschte sie an den Rand ihres Sessels und dehnte ihren Nacken. (Frau Zöllner ekelte sich abgrundtief, wenn jemand eine Sitzunterlage warmgesessen hatte, auf der sie zu hocken hatte, und tatsächlich hatte der Produktionsleiter mit seinem heißen Hintern zuvor ihren Sessel bebrütet!) Sie presste die dünnen, spitz angewinkelten Beine zusammen (Frau Zöllner trug an diesem Abend einen knielangen, enganliegenden Rock in Veilchenblau) und streckte ihr zerbrechliches Kreuz durch (und zu diesem Rock eine fliederfarbene Bluse, die in Brusthöhe von einem dichten Rüschenbund geziert war). Nach einem Moment der Sammlung hüstelte Frau Zöllner diskret (und, wie sich dies für eine Dame von Welt gehört, mit vorgehaltener Hand) und hob schließlich an:
„Vielen Dank für diese durchaus inspirierende Einführung in Ihr vieldiskutiertes Erstlingswerk.“
„Aber das habe ich doch gerne gemacht!“, entgegnete Daniel, und lächelte sie zugewandt an.
Er schlug die Beine übereinander, während seine Arme stoisch auf den Armlehnen seines Sessels ruhen blieben.
„Schön“, kräuselte sich Frau Zöllners Oberlippe, als spürte sogar diese noch jene Wärme des Sessels. Sie, Frau Zöllner, streckte ihr Kreuz noch weiter durch und fuhr fort: „Herr Wolter, zu meiner ersten Frage: Mir, wie bestimmt vielen anderen Lesern Ihres ‚Meuchelg(e)noms‘, ist es bei der Lektüre oft so ergangen, dass ich eigentlich gar nicht richtig wusste, woran ich war.“
„Ach ja?“
„Ja“, bestätigte Frau Zöllner, den Kopf leicht in den Nacken legend. Sie erläuterte: „Liest man bei Ihnen etwas – egal, was man sich da herauspickt –, spürt man, dass die Szenen, ihre Inhalte, gewissermaßen miteinander verschwimmen. Und daraus scheint sich ein über allem schwebender Odem der Transzendenz zu erheben, der jedes Wort durchdringt, die Wahrnehmung des Lesers unmerklich, doch unausweichlich infiltriert.“
„Das haben Sie wirklich schön gesagt!“, nickte Daniel anerkennend.
„Oh, danke!“, stutzte Frau Zöllner verlegen. Sie räusperte sich und fuhr fort: „Zu meiner Frage: Ist dieses Unbestimmte, das durch alles in Ihrem Text schimmert, eher die quasi automatisch aus Ihnen zwischen die Zeilen geflossene Eigenschaft des Autors, oder ist es ganz bewusst gewollt, eine besondere Botschaft, die Sie uns mit auf den Weg geben wollten?“
Nun hellwach erläuterte Daniel, von harmonischen, nahezu „symphonisch–dirigierenden“ Schwingungen seiner Rechten untermalt:
„Natürlich schwebt diese – um Ihre Worte zu gebrauchen: – ‚Transzendenz‘ auch in mir, aber ebenso natürlich war das Hineinsickern eines jeden Tropfens dieser Transzendenz in den Text auch gewollt, bewusst gesetzt, als ganz spezifisches Stilmittel, das dem Werk die nötige Tiefe verleihen sollte ... und auch konnte, das desgleichen allerdings eines verdeutlichen wollte: Im Grunde gibt es doch keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem Erleben des Autors, dem Erleben der Figuren, und last but not least dem Erleben des Lesers, auf das es letzten Endes und letztendlich ja auch vor allem ankommt. Nicht wahr?“
„Hmhm“, nickte Frau Zöllner versonnen.
Daniel streckte die Beine aus, lehnte sich entspannt in seinem Sessel zurück und nippte an seinem Wasser. Er war zufrieden:
Hatte er diesen wesentlichen Gedanken, diesen Stein der Weisen sozusagen, doch gleich zu Anfang und angemessen im kunstvollen Gemäuer seines Vortrags unterbringen können!
„Das gibt zu denken!“, neigte Frau Zöllner nachdenklich und insofern stimmig ihren Kopf nach rechts. Daniel schmunzelte geheimnisvoll. „Und wie meinen Sie das genau?“, hakte sie nach, ihren Kopf nicht minder stimmig nach links neigend.
„Hm? Was?“, blinzelte Daniel verunsichert.
„Na, was Sie da eben beschrieben haben, diese Verwischung der Schranken zwischen Leser, Autor und Werk, wenn ich Sie da richtig verstanden habe.“
„Ach so, das! Hm. Ich glaube, da haben Sie mich ganz richtig verstanden!“, lächelte Daniel wohlwollend, und er erläuterte, nach wie vor legere in seinem Sessel ausgestreckt: „Wissen Sie, worauf ich eigentlich hinaus wollte mit meiner ein wenig provozierenden, vielleicht sogar ‚gewagten‘ These, ist die Macht der Feder, die Macht des durch die Feder Geschaffenen, und dessen kaum zu begreifende Schnittstelle mit der zufälligen Existenz des Seins, mit der von uns als real empfundenen Welt eben! Eine Schnittstelle, die einem Kondensator gleicht, der sich durch Handlung wie durch Wahrnehmung – oft auch gemeinsame Wahrnehmung – auflädt, bis hin zur Schwelle seiner Kapazität, wobei seine unumgängliche Entladung – wie in einem Feuerwerk diviner Inspiration! – dann in alle Richtungen erfolgen kann.“
„Aha“, sackte Frau Zöllners Kopf nun leicht nach vorne, und es machte den Eindruck, als hätte sie nichts verstanden.
„Genau“, nickte Daniel, „Und ich möchte hier noch einen Schritt weiter gehen, gar eine womöglich ‚weisende Vision‘ wagen. Schauen Sie mal: Die Macht des Lebens und die Macht des Schreibens haben doch einiges miteinander gemeinsam, ja, sind in ihrer Quintessenz kaum voneinander zu unterscheiden: Beide schaffen ein Bild, das bleibt, das einen Eindruck hinterlässt.“ Daniel macht eine Pause, hob bedeutsam seinen Zeigefinger, und schloss: „Und der steht am Schluss, der zählt, auch über den Schluss hinaus!“ Seinen Zeigefinger betrachtend ergänzte er: „Dieser Eindruck.“ Er besann sich einen Moment, sein Blick verlor sich erleuchtet zwischen den Scheinwerfen, und er entfaltete mit wieder gesenktem Finger: „Verstehen Sie? Am Ende zählt eben nur das Bild, eben, weil es bleibt, eben, weil es die Fiktion gebärt, sie prägt, eben. Und unseren Geist! Unser Leben! Und genau hier schließt sich der Kreis: Sei es vom Meister des Wortes geschaffen“, Daniel fügte eine Oktave tiefer gegriffen, die Stirn leicht zu Frau Zöllner geneigt und ihr eindringlich in die Augen schauend hinzu: „– aus der Feder des verstehenden Literaten geflossen – “, und er kehrte erhobenen Hauptes und mit glitzernden Augen in die Grundtonlage zurück: „oder aus der Fülle des Lebens gequollen. Geschaffen aus dem Drama beliebig dahingewürfelter Existenz, aus ihr erwachsen, jener ursprünglichen Suppe, dem chaotischen Kosmos des Seins, der es, das Leben, schafft, wie er es nimmt. Der es formt, wie er es zerfließen lässt. Und genau das ist es ja, was uns bestimmt, was uns Mensch sein lässt. Verstehen Sie?“
„Ich hoffe schon“, antwortete Frau Zöllner mit einem Hauch der Diffusion um ihre Augen. Sie streckte ihren Rücken durch und wandte, sich ordnend, ein: „Aber was wäre dann der Punkt, den Sie mit diesem letzten Statement machen wollten, Herr Wolter?“
Daniel richtete sich in seinem Sessel auf und erläuterte pochend enthusiastisch und mit wie Glühbirnen strahlenden Augen:
„Also den kann ich im Prinzip auf einen Punkt bringen, diesen Punkt, auf eine einfache Formel reduzieren, sozusagen: Am Ende ist es doch einerlei, ob ein Bild – eine Fiktion! – aus dem gewöhnlichen Leben entsteht oder dem geistigen Füllhorn des großen Literaten entstammt. Am Ende ist doch alles gleich, ist doch alles Fiktion, die für uns zählt, die – um es ein bisschen überspitzt zu formulieren: – für uns real wird. Tatsächlich wird!“ Daniel verharrte einen Augenblick, seufzte verstehend, ja, als hätte er diesen letzten, diesen entscheidenden Punkt nun endlich sogar selbst verstanden – wirklich verstanden! –, und fuhr aufs Äußerste beseelt fort: „Und die uns leben lässt!“
Daniel sackte wie ausgewrungen (er hatte in der Tat alles gegeben!) in seinen Sessel zurück und genoss das begeisterte Toben der ungehörten Massen, das ihn durchdonnerte. Frau Zöllner blickte etwas hilflos zu ihrem Produktionsleiter. Der flüsterte Müller, seinem Assistenten, zu:
„Heinz. Hier müssen wir ein wenig schnipseln! Kuck mal, ob du was aus dem Archiv über diesen Wolter findest. Ein paar Sequenzen bloß. Das langt.“
„Wird gemacht“, nickte Müller, und verschwand hinter den Kulissen.