Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 9
ZWEITES KAPITEL 6 Im Pluto: die erste Verabredung
ОглавлениеDer Tag nach Daniels Tetanusimpfung. Aus kürbisschwerem Schlaf erwacht rutschte Daniel am frühen Nachmittag wie eine Dali’sche Uhrflade aus seinen Träumen und von seinem Schreibtischsessel auf den Boden. Mit gequälter Miene (sein Nacken war verspannt) stand er auf, schenkte sich Kaffee (der inzwischen kalt war) ein, und stellte sich (kognitiv bestenfalls „reduziert“) vor das Küchenfenster.
Jede Menge Pfützen auf der Straße, formte sich nun doch ein Satz in seinem Hirn. Musste ganz schön geschüttet haben.
Schläfrig betrachtete er die Straße. Eine Katze saß auf dem Bürgersteig und testete mit ihrer behutsam tastenden Vorderpfote angewidert die Bodenverhältnisse der Straße. Neben dem Tier lag eine umgekippte Mülltonne. Daniel besann sich:
Langsam musste er los ins „Pluto“! (Dieses war ein Café in der Nähe. Nachdem Charlotte ihm in der Nacht das Du angeboten hatte, hatten sich die beiden dort für den Mittag verabredet!)
Daniel stellte seinen Kaffee auf die Fensterbank und näherte sich vorsichtig der Garderobe. Zögerlich streckte er seine Hand aus, griff beherzt seinen Mantel und streifte ihn sich souverän lächelnd über. Die beiden machten sich auf den Weg.
Als Daniel seinen Fuß auf das kühle, nasse Trottoir setzte, schüttelte es ihn und er kehrte noch einmal um, seine Schuhe anzuziehen. Nun marschierte er los. Er blieb stehen, bückte sich, verknotete seinen rechten Schnürsenkel, und ging weiter. Nach einigen Schritten bückte er sich.
Das Lokal hatte hohe Stuckdecken, war fliederfarben gehalten und dominiert von zwei zu einer Kreuzung hin zusammenstoßenden Fensterwänden, an denen üppige Blumenstöcke aufgereiht waren. Charlotte saß am entferntesten der Fenstertische unter dem ausladenden, bis unter die Decke reichenden Astwerk eines Gummibaums. In der Annäherung an Charlotte dachte Daniel:
Sie musste eben erst gekommen sein: Vom Nieselregen glänzte noch ein feiner Tröpfchenschleier zuckern auf ihrem Haar. (Daniel musste sehnsüchtig schnaufen und ergänzte gedanklich:) Diesem karamellbraunen, wildromantischen, sinneverzwirbelnden Haar, durch das ihre wundervollen, zitronatgrünen Augen wie kandierte Himmelsfrüchte hervorfunkelten. Und jene Lippchen! Jene vollen, zarten und rosa wie Marzipanschweinchen schimmernden!
Daniels Herz raste, und nun noch mehr, denn Charlottes „Marzipanlippen“ lächelten ihn, der (sich seines Mantels entledigend) geschmeidig auf den Stuhl ihr gegenüber glitt, jetzt cremig an.
„Hallo. Ich wollte mir gerade was bestellen“, begrüßte sie Daniel, und leckte über ihre Lippen, „Was willst du?“
„Marzipanli... ...stollen“, musste er gar nicht lange überlegen.
Der Ober, ein distinguiert wirkender, schlanker Herr in grauer Livree, näherte sich ihnen in dezenten Tänzelbewegungen. Nachdem er in einer schwer nachvollziehbaren, aber gekonnt inszenierten Cha–Cha–Jive–Kombination vor den beiden ausgetänzelt war, neigte er ihnen entgegenkommend sein Haupt zu, lächelte diskret, reckte sich wieder gerade und strich sich die anthrazitfarbenen, streng nach hinten gekämmten Haare glatter. Mit sanfter, fast gehauchter Stimme fragte er:
„Guten Tag, die Herrschaften. Sie wünschen?“
„Guten Tag“, antwortete Charlotte, ihren Oberkörper beschwingt hin und her wippend (offenbar hatte der Ober sie inspiriert), „Also ich hätte gern eine Wiener Melange und diesen entzückenden Käsekuchen, den sie in der Auslage haben. Und für den Herrn bitte ein Stück Marzipanstollen und, und ...“
„... ebenfalls eine Melange bitte“, ergänzte Daniel, und hob seinen Mantel auf, um ihn wieder über die Stuhllehne zu legen.
„Kommt sofort“, bestätigte der Ober einnehmend lächelnd.
Er kippte den Kopf knapp zur Seite und zog sich aus der Kippbewegung heraus harmonisch wiegend in einer in Rücklage gehaltenen Tangoschrittfolge zurück.
„Der Käsekuchen hier ist super“, untermauerte Charlotte ihre Bestellung mit erwartungsfroh bebendem Kehlkopf.
„Ich hoffe, der Marzipanstollen kann da mithalten“, bemerkte Daniel, das Beben betrachtend, und schluckte.
„Denke schon. Aber die Melange auf jeden Fall. Die ist absolute Spitzenklasse!“
„Find ich auch“, nickte er, und ergänzte mit einem schlitzohrigen – oder besser: „schlitzäugigen“ – Blitzen in den Augen: „Fast so deliziös wie die originale aus Wien. Einfach fantastisch. – Wie eben vieles aus Wien!“
Bei seinem letzten Satz hatte Daniel Charlotte „aufmunternd“ mit dem rechten Auge zugezwinkert.
„Hast du etwas im Auge, Daniel?“, erkundigte sie sich „bekümmert“ und ihm tief in beide sehend.
„Bitte? Ach so! Eine Mücke vielleicht“, hatte Daniel verstanden, und rieb sich geistesgegenwärtig das linke.
„Du warst schon in Wien?“, hakte Charlotte zugewandt nach.
„Früher ein paarmal. Tolle Stadt.“
„Ja, echt toll.“
„Wieso bist du eigentlich aus Wien weg?“, schob Daniel wissbegierig zischelnd wie die nette, stets bemühte Nachbarin den Kopf nach vorne.
„Aus beruflichen Gründen, na ja, und richtig weg dann wegen so einer Beziehungsgeschichte“, verfinsterte sich ihr Blick, „Zwar ist die inzwischen vorbei, bin aber trotzdem in Köln geblieben. Find’s auch schön hier und mein Job läuft mittlerweile richtig gut.“
Daniel nickte wie der nur allzu gut (was auch immer) verstehen könnende Pastor und fragte:
„Und was machst du beruflich?“
„Ich arbeite in der ‚Mobilen Fußpflege‘!“, belebte sich Charlottes Blick wieder.
„Ach, dann bist du eine Fußpflegerin!“
„Genau. Hab’ aber auch eine abgeschlossene Pediküreausbildung und etliche Kurse in Nageldesign gemacht.“
„Hm, hm. Interessant. Fußnageldesign ...“
„Fingernageldesign!“, empörte sich Charlotte nun schon ein wenig.
„Sag ich doch, sag ich doch!“, beruhigte er sie eilig, und schlussfolgerte: „Willst also von den Füßen auf die Hände expandieren?“
„Spiele mit dem Gedanken“, hatte sie sich (bei diesem Thema!) schnell gefasst, „Ist allerdings noch Zukunftsmusik.“
„Aber bestimmt eine gute, ach, was heißt ‚gute‘: eine blendende Idee!“
„Das auch, doch vor allem noch ein Traum. Na ja, sei’s drum. – Und du bist Archäologe oder so was, nicht wahr?“
„Nein, ich hab Archäologie studiert, war auch einige Jahre in der Branche tätig, hab aber mit Anfang vierzig umdisponiert.“
„Ach ja?“
„Ja“, nickte Daniel. Die Haut auf seiner Nase fältelte sich verdrießlich. Es war ihm unangenehm, über diese Sache zu sprechen. Dieses „Steinschweindesaster“ hatte ihm in der Tat die Karriere ruiniert. Sich allerdings jetzt und hier darüber auszulassen, hielt er für deplatziert, weshalb er auf das Finale der Katastrophe und deren „Lösung“ fokussierte: „Um es auf den Punkt zu bringen, diesen quasi auf eine einfache Formel zu reduzieren: In der Archäologie ging es für mich irgendwie irgendwann nicht mehr weiter. Doch dann ermöglichte mir eine unerwartete Erbschaft vor ein paar Jahren, einen alten Traum wahr werden zu lassen, das mir Wesentliche – das Kreative! – in seiner Reinform zu verwirklichen, kurzum, es mit der Schriftstellerei zu versuchen.“
„Dann bist du Schriftsteller?“
„Ja“, warf Daniel, sich eine störende Strähne aus der Stirn wischend, den Kopf nach hinten.
„Wow. Das ist ja aufregend.“
„Das auch“, schnaufte er ernst, und erläuterte gemessen: „Vor allem aber ist es eine große Verantwortung.“
„Wieso?“
„Nun“, hob er feierlich das Kinn hebend an, „Abermillionen Menschen lesen deine Werke. Die wissen zwar meist, dass das primär Kunst, Kreation ist. Gleichwohl vermittelst du Werte, Ideen, die das individuelle Leben, ja, ganze Gesellschaften prägen. Du schaffst sozusagen den Kompass, an dem sich der Einzelne, doch auch das Gesamte orientiert. Und das ist eine große Verantwortung. Zumindest, wenn du als Autor zu den Taktgebern unseres kulturellen Schöpfens und Denkens gehörst.“
Daniel nickte (offenbar sich selbst) zustimmend und trocknete mit einer Serviette, die der Ober glücklicherweise zuvor auf dem Tisch platziert hatte, bedachtsam die Oberlippe ab. Charlotte hielt einen Moment andächtig inne. Dann fragte sie, Daniel mit Augen anschauend, die funkelten, wie Augen nur von höchster Bewunderung funkeln konnten:
„Und zu denen gehörst du?“
„In aller Bescheidenheit:“, lächelte Daniel, und enthüllte: „Ja.“
„Wahnsinn!“, rutschte Charlotte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, „Hast du schon viel geschrieben?“
Ebenso glücklicherweise erschien just der Ober (ob des Tabletts, das er trug, tanzte er seine Sambaschrittfolge nur angedeutet) und brachte die Bestellung. Nach der Nuance einer Discofox–Einlage (eins, zwo, tepp, – eins, zwo, tepp, ...) sagte er:
„Die Herrschaften.“
„Danke, danke, Sie können das hier ruhig so stehen lassen“, ließ Daniel ihn wissen.
Der Ober verbeugte sich leicht und zog sich geschmeidig tänzelnd zurück.
„Netter Bursche“, kommentierte Daniel mit generöser Milde in den Augen.
„Find ich auch.“
„Doch zu deiner Frage“, mochte er Charlotte gar nicht lang im Ungewissen lassen, „Was heißt ‚viel geschrieben‘? – Meinst du viele Seiten? Viel Bedeutung? Viel Wirkung? Nun, für mich zählt letzten Endes die Wirkung, und letztlich vor allem die Bedeutung. Und in beidem habe ich schon viel erreicht.“
„Irre!“, musste sich Charlotte kurz an ihrem Stuhl festhalten, und fragte: „Arbeitest du derzeit wieder an einem Buch?“
„Natürlich! Der Künstler ruht nie!“
„Ach so. Und was isses?“
Daniel neigte sacht den Kopf nach hinten und zur Seite, zog belangreich die Brauen zusammen und antwortete überlegt:
„Ich pflege grundsätzlich nicht über meine Werke zu sprechen, bevor sie vollendet sind. Zu groß wäre die Gefahr, dass Teile des Gedankenguts in falschem Kontext – und bevor die Zeit reif ist, wirklich reif ist! – an die Öffentlichkeit dringen, eben deshalb missverstanden werden und so gesellschaftlichen Schaden anrichten.“
„Wusste gar nicht, dass man da so aufpassen muss“, nickte Charlotte verständig, „Dann hast du ja wirklich einen verdammt verantwortungsvollen Job.“
„Als Job würde ich das nicht bezeichnen. Eher als Berufung. Und was die betrifft und ihre Verantwortung: ja, wie ich bereits angedeutet habe.“
„Und bist du schon weit mit deinem jetzigen Buch?“
„Ziemlich“, schreckte Daniel von seiner Melange, die doch ein wenig zu heiß war, zurück. „Der Feinschliff fehlt allerdings noch. Und der ist schwierig und kann langwierig sein, besonders bei einem Werk, wie ich es gerade vollende. Ich betrachte es schon jetzt als meinen großen Wurf.“ Daniel seufzte. „Als mein Vermächtnis!“
„Toll! Wenn’s fertig ist, musst du mir unbedingt davon erzählen.“
„Das mach ich doch gerne. Aber natürlich schenk ich dir auch ein Exemplar.“ Daniel atmete ruhig durch, sah Charlotte tief in die Augen und hauchte: „Mit einer Widmung von mir.“
„Das ist furchtbar lieb!“, freute sie sich. Daniel lächelte sanft. „Ich kann’s kaum noch erwarten!“, klatschte sie beglückt in ihre Hände.