Читать книгу Daniel Wolters seltsame Reise zwischen den Zeilen - Klaus M. G. Giehl - Страница 8
5 Donner
ОглавлениеVor zwei Jahren, Zentralfriedhof Wien
Der Himmel war bedeckt von schwarzen Wolken, die dünne Blitze durch den violetten Horizont schossen. Der Wind fegte braune Blätter über den Boden und fauchte, wütenden Dämonen gleich, zwischen den kalten Grabsteinen hervor. Eine Schar schlafender Krähen war über einen mächtigen, kahlen Baum gestreut wie das letzte Laub des Herbstes.
Unter dem Baum standen Herr und Frau Semmel vor dem Grab ihrer Tochter Agathe. Herr Semmel, ein stämmiger Mittsechziger, trug einen hellgrauen Mantel und einen hellgrauen Hut, Frau Semmel, eine drahtige Mittsechzigerin, einen dunkelgrauen Regenmantel und ein dunkelgraues Kopftuch. Herr Semmel hatte das Kinn gegen den Hals gedrückt, sodass es von seinem Doppelkinn wie von einem Fleischwurstkringel gerahmt wurde. Die kleinen, dunklen Augen starrten auf den Boden. Er schnaufte schwer durch seine kartoffelige Nase. Seine Hände ballten sich in seinen Manteltaschen.
Frau Semmel seufzte und zog ein dunkelgraues Taschentuch aus ihrer dunkelgrauen Handtasche. Sie schnäuzte sich ihre Habichtsnase heftig (auch weiter Entfernte hätten sich die Ohren zuhalten müssen!) und tupfte sich bedachtsam eine einsam kullernde Träne von der eingefallenen Wange. Herr Semmel nahm die Hände von den Ohren und sah seine Frau an. Sie nickte und kniff die schmalen Lippen zusammen. Ihre tiefsitzenden Augen glühten bedrohlich im Schatten der Brauen. Nun nickte auch er.
Sie öffnete wieder ihre Handtasche und nahm ein Foto heraus. Es war ein Hochzeitsfoto ihrer Tochter: Agathe und Daniel standen Arm in Arm im bunten Konfettiregen. Er mit Zylinder, sie mit Brautschleier. Sie strahlte, er auch.
Herr und Frau Semmel fixierten das Bild einen Moment. Dann sahen sie einander an. Er runzelte die Stirn. Sie lächelte verheißungsvoll und zerriss das Bild langsam, und zwar genau zwischen Daniel und Agathe. Agathes Hälfte steckte sie zurück in ihre Handtasche, Daniels Hälfte zerfetzte sie und warf die Schnipsel auf den Boden, wo sie mit dem Laub in einem spiraligen Sog zwischen die Grabsteine gesaugt wurden und wie in geisthaften Schlünden verschwanden.
Herr Semmel legte Frau Semmel tröstend seine Rechte auf die Schulter und sagte:
„Den kriegen wir. Keine Bange.“ (Er hatte Daniel gemeint.)
„Ja“, nickte sie bitter, „Früher oder später kriegen wir den! Diesen Lump!“
Ein gewaltiger Blitz durchzuckte den Himmel und die (tauben) Krähen flatterten in die hereinbrechende Nacht. Die Semmels setzten ihre Sonnenbrillen auf (ein jeder von ihnen die eigene, und zwar auf die eigene Nase). Sie drehten sich um und gingen zurück zu ihrem Wagen. Es donnerte und fing an zu regnen.