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SECHS

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Karen Manning legte den Kopf in den Nacken und starrte in das dichte Grün der Bäume, das die Sonne aussperrte. In der Nacht hatte es geregnet, und die Erde unter ihren Füßen war noch feucht, was die Luftfeuchtigkeit noch mehr in die Höhe trieb und ihre Bluse am Rücken kleben ließ. Der Ort, an dem sie war, schien alles zu schlucken – Luft, Geräusche, Licht. Was, wie sie fand, auch recht passend war.

Der Anruf, den sie mit Bangen erwartet hatte, war vor etwa einer Stunde gekommen. Der atemlos vorgetragene Bericht eines Mannes, dessen Hund einem nur schwach wahrnehmbaren Geruch gefolgt war. Jetzt schien der Gestank alles und jedes zu durchdringen. Er schürte ihre Wut und ihre Frustration, bis ihr die Kontrolle darüber zu entgleiten schien. Wie jedes Mal.

»Haben wir eine Spur?«, fragte sie schließlich, während sie nach unten sah.

Der nackte Körper der Frau hatte sich von Kopf bis Fuß in ein gelbstichiges Grau verfärbt – bis auf die Stelle, an der das dünne Seil, mit dem ihr das Leben genommen worden war, einen schwarzen Ring hinterlassen hatte. Karen hielt ein feuchtes Foto in der Hand, das die junge Frau in glücklicheren Zeiten zeigte. Sie trug einen gelben Bikini und winkte lächelnd in die Kamera.

»Nichts Neues«, sagte John Wakefield, der sich mit einiger Mühe neben die Leiche hockte und mit einem Arm das dichte Unkraut unter ihr untersuchte.

Auf den ersten Blick würde niemand vermuten, dass Wakefield sein Leben der Jagd nach Mördern gewidmet hatte. Plausibler schien, dass er als Märchenonkel in einer Kindersendung auftrat. Oder als Bibliothekar arbeitete.

Die erste Leiche und der erste Brief waren wenige Tage vor seiner Pensionierung aufgetaucht. Wakefield war der beste Ermittler der Polizei und hatte es als seine Pflicht empfunden, weiterzumachen. Als er seine Entscheidung bekannt gegeben hatte, war ein Stoßseufzer der Erleichterung durch Virginia gegangen.

»Peinlich sauber«, sagte er, während er sich mühsam wieder aufrappelte. Die Arthritis in seinen Knien bereitete ihm starke Schmerzen, und Karen streckte den Arm aus, um ihm zu helfen.

»Wir haben Zeit, um methodisch vorzugehen ... Alle Zeit der Welt.«

Es lief immer nach exakt dem gleichen, fast schon langweiligen Schema ab. Eine junge Frau verschwand, und kurz danach tauchte sowohl bei der Polizei als auch bei der Familie der Frau ein Brief auf, in dem sehr anschaulich beschrieben wurde, was der Entführer – sie nannten ihn inzwischen »Sammler« – mit ihr vorhatte. Dann, genau sechzehn Tage später, wurde die Leiche in einer ländlichen Gegend Virginias abgelegt – stets nackt, erdrosselt und ohne die geringste Spur.

Karen stöhnte frustriert und ging tiefer in den Wald hinein, wobei sie alle Äste abknickte, die sich ihr in den Weg stellten. Sie blieb erst stehen, als sie dem Gestank der Verwesung und dem Lärm der Streifenwagen, die auf der unbefestigten Straße hin- und herfuhren, entkommen war.

Sie konnte einfach nicht verstehen, wie Wakefield es fertig brachte. Tag für Tag über den paar armseligen Beweisen zu brüten, die sie bis jetzt hatten, und dabei Unmengen seiner verdammten Kräutertees zu trinken. Sie wollte etwas tun. Irgendetwas. Bei der Jagd auf diesen Dreckskerl machten sie so wenig Fortschritte, dass er vermutlich an Altersschwäche sterben würde, bevor sie ihn erwischten. Und bis dahin würden noch einige hundert unschuldige Frauen die letzten Tage ihres Lebens in der Hoffnung verbringen, dass es möglichst bald zu Ende war.

Hinter sich hörte sie unsichere Schritte, die auf sie zukamen, doch sie drehte sich nicht um.

»Alles in Ordnung, Karen?«

»Nein.«

Wakefield stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick, der auf die Bäume vor ihr gerichtet war. »Nach einer Weile fängt man an zu denken, dass man selbst daran schuld ist. Aber so ist es nicht. Es ist seine Schuld.« Er beugte sich vor und versuchte, ihr in die Augen zu sehen. »Das war meine Rede. Hat sie geholfen?«

»Nein.«

»Was könnte ich denn sagen, um Ihnen zu helfen?«

Sie wirbelte herum und sah ihn an. Ihre Stimme klang unangenehm laut in der stillen Umgebung. »Sie könnten mir erklären, warum zum Teufel Sie ausgerechnet mich für diesen Fall ausgesucht haben. Für so etwas eigne ich mich nicht, und wir wissen beide, dass es, politisch betrachtet, nicht unbedingt Ihr bester Schachzug gewesen ist.«

Wakefield nickte nachdenklich, doch ihr plötzlicher Wutausbruch ließ ihn völlig unbeeindruckt. »Die Frage ist berechtigt ... Ich habe Sie ausgesucht, weil ich müde bin und Sie nicht. Sie sind stark, engagiert und voller Energie. Ich kann in die Ermittlungen nichts dergleichen einbringen. Nicht mehr. Das Einzige, was ich beisteuern kann, ist meine Erfahrung. Und was das Politische angeht: Im Pensionsalter zu sein und trotzdem einen Job anzunehmen, den niemand haben will, hat lediglich einen Vorteil – man braucht sich weder um Politik noch um Konventionen zu scheren. Ich könnte heute Abend Captain Pickering zu Hause besuchen und seine Frau verprügeln, und nichts würde passieren. Gar nichts.«

»Kennen Sie seine Frau? Eine Tracht Prügel würde ihr gut tun.«

Er lachte so gutmütig wie immer.

»John, ich muss es einfach mal loswerden. Dieser Fall macht mich verrückt. Jedes Mal, wenn ich versuche, klar zu denken, stelle ich mir vor, wie ich diesem Kerl den Kopf abreiße.«

»Vielleicht sollten Sie sich ein Buch über Meditationstechniken kaufen.«

»Ja, so weit wird es noch kommen.«

»Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass er vielleicht krank ist?«

Sie verdrehte die Augen. »Unsinn. Er ist lediglich einer von vielen Männern, der keine Freundin abbekommt. Wissen Sie, wer krank war? Jack the Ripper. Der Kerl hatte Initiative und war wenigstens originell. Nicht so ein Verlierertyp, der zu wenig Aufmerksamkeit von seiner Mutter bekommen hat und sich unbedingt selbst im Fernsehen sehen will.«

Diese Bemerkung löste bei Wakefield ein lautes, ironisches Lachen aus, das so gar nicht zu seinem Aussehen als Märchenonkel passen wollte. »Soll ich Ihnen sagen, warum ich Sie für diesen Fall ausgesucht habe? Weil Sie Humor haben und über den Tellerrand sehen können. Ich behaupte jetzt einfach mal, dass Sie die Erste sind, die Jack the Ripper als jemanden mit Initiative beschreibt.« Er legte ihr väterlich die Hand auf die Schulter. »Ich hätte die besten Leute für diese Sonderkommission haben können. Stattdessen habe ich mich für Sie entschieden.«

»Sie sind lustig, John.« Sie tippte sich auf die Brust. »Im Ernst. Hier drin, wo es am meisten zählt, lache ich gerade.«

»Detective Manning?«

Die beiden drehten sich um und sahen einen Polizeibeamten in Uniform im Laufschritt auf sie zueilen.

»Der Captain ist gerade eingetroffen. Er möchte mit Ihnen sprechen.«

Wakefield blinzelte ihr zu. »Hoffentlich hat er nicht gehört, was Sie über seine Frau gesagt haben.«

Als Karen zwischen den Bäumen hervortrat, sah sie Captain Pickering, der an einem Streifenwagen lehnte und ungerührt das Chaos um sich herum musterte. Sie ging langsamer und bemühte sich nach Kräften, die respektvolle, gehorsame Untergebene zu spielen, wie er es erwartete. Allerdings war es dafür schon etwas zu spät – der Captain konnte sie nicht ausstehen und hätte seine Meinung über sie selbst dann nicht geändert, wenn sie sich ein Bein für ihn ausgerissen hätte.

Als sie zur Leiterin des SWAT-Teams für ihren Bezirk ernannt worden war, hatte Pickering, der früher selbst einmal ein SWAT-Team geführt hatte, dies als Affront und Schmälerung seiner Verdienste aufgefasst. Und er war beileibe nicht der Einzige gewesen. In ganz Virginia hatte man sich den Mund über die »Quotenfrau« zerrissen, und plötzlich waren so viele Blondinenwitze im Umlauf gewesen, dass sie allen Ernstes überlegte, ihre Haare braun zu färben. Schließlich kam es so weit, dass er und sein Männerklub keine Gelegenheit ausließen, um ihr die Arbeit so schwer wie möglich zu machen.

Da der Widerstand stärker war, als sie sich hatte vorstellen können, beschloss sie nach ein paar Monaten zu kündigen. Doch vorher setzte sie sich mit Stift und Papier an ihren Küchentisch, schrieb ihre Qualifikationen auf und verglich sie mit denen der Männer, gegen die sie sich bei der Bewerbung um die Stelle durchgesetzt hatte. Nach einer Weile hatte sie schwarz auf weiß, dass sie mit Ausnahme eines Beamten erheblich qualifizierter war als alle anderen. Und selbst im Vergleich zu dem Mann, dessen Leistungen sich mit den ihren vergleichen ließen, hatte sie in den meisten Bereichen noch einen kleinen Vorsprung. Als sie schließlich den Stift fallen ließ und aufstand, war sie fest davon überzeugt, dass sie die Beförderung verdient hatte. So einfach würde sie sich nicht unterkriegen lassen!

»Sie wollten mich sprechen?«

Er antwortete nicht, sondern griff durch das offene Fenster in seinen Wagen, holte eine Akte heraus und drückte sie Karen in die Hand. Sie blätterte die Seiten um und las hin und wieder einige Stellen, die ihr interessant erschienen.

»Ja, Sir?«

»Ich brauche Ihr Team, um den Mann zu verhaften. Heute Abend.«

»Wie lautet die Anklage?«

Seine Mundwinkel zogen sich zusammen. Wenn er nicht aufpasste, würde er die Falten bekommen, die ihre Mutter so fürchtete.

»Wir haben einen Hinweis bekommen, dass er als eine Art dilettantischer Handlanger für die kolumbianischen Drogenkartelle gearbeitet hat. Außerdem soll er die Ramirez-Brüder erledigt haben.«

Sie nickte und widerstand dem Drang, auf ihrer Unterlippe herumzukauen, während sie weiterblätterte. Die Ramirez- Brüder waren zwei Drogendealer, die man letzten Monat mit hübschen kleinen Löchern im Schädel gefunden hatte. In der Akte wurden sie allerdings mit keinem Wort erwähnt, und nichts deutete daraufhin, dass jemand den Mann, den sie verhaften sollte, als »dilettantisch« beschreiben würde. Sie musterte die Kopie eines Zeitungsfotos, auf dem ein windschiefes Haus abgebildet war. »Er wohnt nicht gerade in einem Palast. Ich frage mich, was er mit dem vielen Geld macht, das er verdient.«

»Wenn Sie zu der Adresse fahren und ihn festnehmen würden, anstatt hier herumzustehen, könnten wir es herausfinden.«

Karen brachte es fertig, seinen Sarkasmus mit einem Lächeln zu ignorieren. Langsam gewöhnte sie sich sogar daran. »Haben wir den Mann beobachten lassen? Wissen wir etwas über seine Gewohnheiten oder ...«

»Haben Sie etwas dergleichen in der Akte gesehen?«

»Nein.«

»Dann können Sie wohl davon ausgehen, dass wir das nicht getan haben. Karen, das hier ist doch keine große Sache. Wir gehen davon aus, dass der Kerl bewaffnet ist, und daher wollen wir keinen Streifenwagen schicken. Fahren Sie mit Ihrem Team hin, und nehmen Sie den Kerl fest.«

»Sir, wir haben es hier mit einem ehemaligen SEAL der Navy zu tun, und Sie haben mir gerade gesagt, dass er für ein Drogenkartell arbeitet. Sollen wir ihn wirklich auf diese Weise verhaften? Wäre es nicht besser, wenn wir warten, bis er in die Stadt fährt, und ihn dann wegen irgendeines Verkehrsdelikts anhalten? Etwas Unauffälliges, bei dem wir von Anfang den Überblick über die Situation haben.«

Pickering sah sie über seine Sonnenbrille hinweg an. »Es ist schon eine ganze Weile her, dass er beim Militär war. Jetzt ist er Möbelbauer oder so etwas Ähnliches. Sein Haus liegt ein ganzes Stück von den nächsten Zivilisten entfernt, und ich habe nicht vor, ihn auf einer belebten Straße festnehmen zu lassen, wenn es keinen zwingenden Grund dafür gibt. Wenn der Einsatz Sie überfordert, muss ich mir eben jemanden suchen, der damit kein Problem hat.«

Wieder ein gezwungenes Lächeln. »In Ordnung, Sir. Ich mache es.«

Die letzte Mission

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