Читать книгу Der Schatzjäger - Gesamtausgabe - Ladina Bordoli - Страница 10
Kapitel 2
ОглавлениеAm Montagmorgen wartete Hanna gespannt auf das sich nähernde Schiff. Ein frischer Wind schlug ihr entgegen und bauschte den leichten Stoff ihrer bunten Bluse auf. Sie hatte die blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und trug die opulenten orientalischen Ohrringe ihrer Großmutter. Ein Erbstück, welches das intensive Blau ihrer Augen aufgreifen und hervorheben sollte.
Immer wieder kontrollierte sie die Zeit auf ihrer Armbanduhr und drehte sich um die eigene Achse. Sie hätte ihn unter Hunderten Menschen wiedererkannt. Sein Haar, das wie das Gefieder eines Raben glänzte, war in diesen Breitengraden eher selten. Außerdem trug er es entgegen der aktuellen Mode halblang. Seine Erscheinung besaß daher etwas Rebellisches, das Hanna über alle Massen faszinierte. Das passte so gar nicht zu seinem beschaulichen, gutbürgerlichen Beruf. Gastreferent für Völkerkunde. Klang wie Frühstücksflocken ohne Milch – staubtrocken.
Das Schiff legte an. Von Valerio noch immer keine Spur. Langsam machte sich in Hannas Magengegend leichte Nervosität breit. Sie nagte an ihrer Unterlippe und ließ den Blick erneut suchend über die Köpfe der Tagestouristen gleiten. Vielleicht war er schon an Bord? Und wenn nicht? Dann wäre das bestimmt das letzte Mal gewesen, dass sie sich von einer zerknüllten Papierserviette mit Punkten und Nummern dermaßen aus der Fassung bringen ließ.
Das Schiff fuhr los, und Hanna suchte sich einen Platz an der Reling. Das Wasser des Sees reflektierte das Licht der Sonne, als wäre es mit Strasssteinen gesprenkelt worden. Sie schloss die Augen und ließ den Wind sanft wie eine Feder über ihr Gesicht streichen. Plötzlich spürte sie jemanden im Rücken. Sie schlug die Augenlider auf. Eine Hand hatte sich neben ihre auf das Geländer gelegt. Sie wandte sich um und blickte direkt in zwei belustigt glitzernde, unergründliche Tümpel.
»Valerio.« Ihre Stimme klang heiser vor Nervosität.
Er stand kaum einen halben Meter von ihr entfernt, die Haare vom Wind zerzaust. Er schmunzelte verwegen. »Hanna.« Er deutete eine kurze Verbeugung an. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das Rätsel so schnell lösen kannst. Ich gebe zu, ich bin beeindruckt.«
Hanna lachte belustigt. »Woher wusstest du, dass ich heute auf dem Schiff sein würde? Du kanntest meine Freitage nicht, zumal sie jede Woche wechseln. Vielleicht wäre es mir aber generell nicht gelungen, die kryptische Botschaft so rasch zu entziffern.«
Er legte den Kopf schief und zuckte die Schultern. »Ich habe geplant, jeden Morgen um neun Uhr an der Anlegestelle zu warten. Die letzte Sitzung mit meinen Berufskollegen fand am Freitag statt. Ich hatte also Zeit.«
»Es war ein Glücksfall, dass ich den Hinweis so schnell deuten konnte. Möglicherweise hättest du zwei Wochen jeden Tag vergebens hier ausgeharrt ...«
»Es gibt keine Zufälle.« Valerios kantiges Gesicht nahm einen ernsten Zug an. »Falls du heute allerdings nicht aufgetaucht wärst, hätte ich dir weitere Hinweise gesendet.« Seine Augen blitzten belustigt auf. Vermutlich stellte er sich gerade vor, welchen Spaß er dabei gehabt hätte, Hanna quer durch Zürich zu lotsen.
»So wie bei einer Schnitzeljagd?«
»Genau.«
Sie musterte ihn. Abgesehen davon, dass er die Blicke aller Frauen auf Deck magnetisch anzog, war er der sonderbarste Mann, der ihr je begegnet war. Er vermittelte ihr den Eindruck, ein Mysterium zu sein, das es zu ergründen galt. Hanna gab zu, dass er ihre Neugier weckte. Sie hatte bisher noch nie einen Mann getroffen, der sich benahm, als wäre er eine hebräische Bibel, die man zuerst übersetzen musste, um in den Genuss ihrer Weisheit zu kommen.
Er lehnte sich lässig neben Hanna an die Reling und hielt den Blick in die Ferne gerichtet. Dabei berührte sein Arm ihren gelegentlich. Es war nicht aufdringlich und wirkte auch nicht geplant. Eher vermittelte es eine Form natürlicher Vertrautheit. Einige Minuten schwiegen sie beide. Es war seltsam, sich einem Menschen so verbunden zu fühlen und ihn gleichzeitig nicht zu kennen. Hanna wollte Valerio keinesfalls verhören, dennoch verspürte sie den Drang, ihn mit Tausenden Fragen zu bombardieren.
»Warum Völkerkunde? Warum nicht Musik, beispielsweise? Oder Kunst? Oder Veterinärmedizin?«
Valerio musterte sie von der Seite. Wenn er grinste, bildeten sich kleine Furchen in den Augenwinkeln, und die Spitzen seiner langen, vollen Wimpern berührten sich beinahe.
»Weil Völkerkunde alles zusammen ist. Musik, Kunst, Medizin, Kultur und Religion. Wie nanntest du es noch? Sauerkraut und Pralinen gewissermaßen.« Er entblößte eine Reihe weißer Zähne, während er schallend lachte.
»Du machst dich lustig über mich!« Hanna stieß ihn scherzhaft in die Seite.
Sofort wurde er ernst. »Das würde ich nie wagen. Du faszinierst mich. Das ist alles.«
Die Antwort war so unverblümt und ehrlich, dass Hanna spürte, wie sie errötete. Betreten senkte sie den Blick und fand keine Worte. Das war sonst gar nicht ihre Art. Sie gehörte zu der schlagfertigen Sorte Mensch. In Valerios Gegenwart fühlte sie sich jedoch seltsam entwaffnet. Ein Gefühl, dass sowohl betörend als auch beängstigend war.
Nach knapp zwei Stunden Fahrt tauchte vor ihnen endlich die Insel Ufenau auf. Das Boot legte an, und sie gingen von Bord.
Valerios Blick schweifte durch die Gegend und tastete die Gesichter der Besucher, die das Kursschiff verließen, ab. Ein bisschen zu kritisch, um arglos zu wirken, fand Hanna, schob den Gedanken jedoch beiseite.
»Warst du schon einmal hier?« Valerio betrachtete sie aufmerksam.
Sie nickte. »Als kleines Mädchen bei einem Tagesausflug der Grundschule. Ich kann mich aber kaum noch daran erinnern.«
»Am besten folgen wir dem Weg entlang der Westflanke der Insel bis zur Bootsanlegestelle im Süden. Danach könnten wir uns auf dem Bootssteg ein Picknick gönnen, aber auch zur Inselmitte gehen und uns die Kirche St. Peter und Paul ansehen. Wie du möchtest«, schlug er vor und berührte Hanna leicht an der Schulter, während er in die beschriebene Richtung zeigte. Sie spürte dort, wo Valerios Finger sie gestreift hatten, ein wohliges Kribbeln. Sie wünschte sich, seine Hand möge bis ans Ende ihrer Tage dort ruhen. Natürlich hielt er sich bei solchen Gesten noch höflich zurück, was Hannas Sehnen umso mehr schürte.
Sie folgten dem Naturpfad, schwiegen und lauschten dem Knirschen ihrer Schritte auf dem Kies. Es hatte etwas Vertrautes und Entspanntes, wenn man sich in gegenseitiger Stille wohlfühlte. Hannas Blick schweifte durch die Gegend. Entlang des Ufers wogte das sandfarbene Schilf friedlich im Rhythmus des Winds hin und her. Satte grüne Weiden und ein Weinberg säumten ihren Weg. Schlussendlich durchquerten sie noch den kleinen Uferwald. Feuchtigkeit und der feine Geruch nach vermoderten Blättern lagen in der Luft. Die Sonne gelangte wohl nur selten zwischen dem Blätterdach der Laubbäume bis an den Boden. Farne wucherten rund um die Baumstämme. Immer wieder flatterte ein aufgescheuchter Vogel davon. Die vorsichtigeren Kollegen hatten es sich in den Baumkronen bequem gemacht und trällerten dort ihre fröhlichen Arien.
Als sie die Anlegestelle im Süden erreichten, bedeutete Valerio Hanna, sich zu setzen. Er nahm seinen Wanderrucksack von der Schulter, kniete sich hin und packte aus.
»Meine Güte, du hast ja wirklich an alles gedacht!«, entfuhr es ihr, als er eine Thermoskanne mit Kaffee, Brot, Käse, Schnittfleisch, Tomaten und Melonen auspackte.
»Milch und ordentlich Zucker für deinen Kaffee«, meinte er zwinkernd und stellte die letzten Zutaten ihres Mittagessens auf den Holzsteg. Danach setzte auch er sich und forderte Hanna auf, sich zu bedienen. Sie war tatsächlich hungrig und bediente sich an den Köstlichkeiten. Valerio beobachtete sie dabei mit einem zufriedenen, jedoch unergründlichen Lächeln.
»Wo hat es dir besser gefallen, in Paris oder London?«, wollte er unvermittelt wissen.
»Das hast du dir gemerkt?« Hanna war erstaunt. Sie hatten eine unverfängliche Konversation unter Fremden geführt, und er hatte jedes Wort behalten. »Das kann man nicht vergleichen. Diese zwei Städte und ihre Bewohner haben komplett unterschiedliche Formen von Charme, aber beide sind auf ihre Weise faszinierend. Frankreich ist das Land der Haute Cuisine und der Mode. Paris hat etwas Edles und Kunstvolles an sich. Nur schon aufgrund seiner imposanten Bauwerke. Quasimodo und seine Esmeralda ... nicht umsonst wird Paris die Stadt der Liebe genannt. Die Franzosen sind impulsiver als ihre nördlichen Nachbarn. So jedenfalls habe ich es wahrgenommen.« Hanna wusste, dass sie bei ihren Schwärmereien oft einen verträumten Gesichtsausdruck annahm. Valerio unterbrach sie nicht.
»London hingegen ist auf seine eigene Art bunt. Große Verbrechen und dunkle Machenschaften auf der einen Seite, wenn ich an Jack The Ripper oder all die geköpften Damen Heinrich des VIII denke. Im Gegensatz dazu hatten sie den wildromantischen Shakespeare. Die Briten sind außerdem sehr höfliche und geduldige Menschen mit einem faszinierenden Sinn für schwarzen Humor. Liegt vielleicht daran, dass sie den schwarzen Tee vergöttern.« Hanna lachte und zuckte dann mit den Schultern, ehe sie fortfuhr. »Keine Ahnung. Beide Orte sind voller Lebendigkeit, Kultur und ... Geheimnisse. Ich liebe Mysterien, musst du wissen.«
»Ist das so?« Valerio musterte sie mit einem Schmunzeln.
»Absolut! Was wäre das Leben ohne verborgene Rätsel, ohne Fragezeichen?« Hanna hatte komplett vergessen, etwas zu essen. Sie biss in das mitgebrachte Baguette und nahm einen Schluck des in der Zwischenzeit beinahe kalt gewordenen Kaffees.
»Und du, wo warst du schon auf dieser Welt?«
Valerio räusperte sich und blickte sie geradewegs an. Seine Augen waren hypnotisierend, aber unergründlich.
»Ich war bereits überall auf dem Globus, auch an internationalen Universitäten. Die Lehrtätigkeit ist jedoch nur ein Teil meines Berufes. Mein Vater besitzt eine eigene Firma, für die auch ich tätig bin. Er ist Kunsthändler, spezialisiert auf archäologische und antike Artefakte. Ebenfalls weltweit.« Valerio schob sich ein Stück Käse in den Mund. »Vorzugsweise bin ich an Orten, die nicht auf Karten verzeichnet sind. Die indigenen Völker, die ich berufsbedingt näher erforsche, sind oft nicht mit einer gängigen Sightseeing-Tour buchbar. Entweder man findet sie allein und bittet um Gastfreundschaft, oder man bekommt sie gar nie zu Gesicht.«
Hanna war fasziniert.
»Willst du damit sagen, dass du zu dieser Sorte Globetrotter gehörst, die mit einer Plastiktüte voller Habseligkeiten auf Reisen gehen und schauen, wo sie unterkommen?«
Valerio lachte. Ein raues, heiseres Lachen, das durch seinen Klang an die Beschaffenheit von Sandpapier erinnerte.
»In früheren Zeiten habe ich das tatsächlich gemacht. Heute, mit dreiunddreißig Jahren, versuche ich, meine Exkursionen etwas sorgfältiger zu planen, was mir allerdings meistens nicht gelingt.«
»Warum nicht?« Hanna war neugierig.
Er wich ihrem Blick aus. Das verunsicherte sie. Was hatte er zu verbergen? Eine Frau? Womöglich Kinder? Sie schaute automatisch auf seine Hände und suchte nach einem Ring. Er musste es bemerkt haben, denn er grinste belustigt.
»Nicht, was du denkst. Keine Verpflichtungen ... bloß ... mir fehlt oft die Disziplin für eine solide und frühzeitige Planung. Gerade, weil ich keine Verpflichtungen habe.«
Das klang logisch. Hanna glaubte ihm trotzdem nicht. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass da noch mehr war. Er log sie nicht direkt an, aber er verschwieg galant einen Teil der Wahrheit.
Langsam neigte sich der Nachmittag dem Ende zu, und sie packten ihre Sachen zusammen. Während sie so in Gedanken versunken nebeneinander standen, wandte sich Valerio ihr plötzlich zu und nahm ihre Hand.
»Ich mag dich, Hanna«, war alles, was er sagte. Sein Ausdruck war intensiv und bewegt. Sie mochte das Gefühl seiner rauen, warmen Handfläche. Sein Atem strich über ihr Gesicht, und erneut wehte dieser exotische Duft nach Oliven, Zitrone und Kräutern zu ihr herüber. Dezent, aber unheimlich verlockend. Sie hielt seinem Blick stand und schwieg.
Mit der freien Hand löste er das Haargummi, sodass ihre Haare wie ein seidiger Vorhang über die Schultern fielen. Mit einem faszinierten Glitzern in den Augen ließ er die Strähnen durch die Fingerspitzen gleiten. Schließlich zog er sie näher zu sich heran und küsste sie.
Hanna genoss die zurückhaltende Berührung seiner Lippen und das sanfte Kratzen der Bartstoppeln auf ihrer Wange. Er streichelte ihren Rücken, während er sie an sich drückte. Einige Sekunden lang verharrten sie schweigend in dieser Position und lauschten dem Pochen ihrer Herzen.
»Ich mag dich auch, Valerio«, hauchte Hanna und schob ihm eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Er senkte den Kopf und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Seine Lippen strichen zaghaft über die Stelle hinter ihrem Ohr und endeten dann in einem zarten Kuss auf ihren Hals. Sie erschauerte bei dem Gefühl und schloss kurz die Augen. »Lass uns zur nördlichen Anlegestelle zurückgehen, sonst verpassen wir noch das letzte Kursschiff«, meinte Valerio mit heiserer Stimme und lächelte. Er schulterte seinen Rucksack und nahm wie selbstverständlich Hannas Hand. Sie erreichten den Steg, und das Schiff wartete schon. Sie gingen an Bord und wählten dieses Mal einen Sitzplatz. Da es bereits gegen achtzehn Uhr war, waren sie beinahe allein an Deck. Die meisten Tagestouristen bevorzugten den Nachmittag, um zum Abendessen wieder zurück zu sein.
Zurück am Festland blieben Hanna und Valerio einige Augenblicke unschlüssig voreinander stehen. Er umarmte sie wortlos und küsste sie auf die Stirn. Dann suchte sein Mund den ihren. Sie schloss die Augen und gab sich dem süßen Gefühl dieses Moments hin.
Plötzlich klingelte Valerios Telefon. Erschrocken löste er sich von Hanna und wühlte in der Tasche seiner Jeans. »Ah Sch..., da muss ich rangehen.« Er sah sie entschuldigend an und sie erkannte das Bedauern in seinen Augen. Blödes Timing. Er nahm den Anruf entgegen.
»Ja? Okay. Wann? Geht klar!« Er steckte das Handy wieder ein und wirkte auf einmal gestresst. Sein Blick zuckte kurz in die Ferne, als suche er dort irgendwas. Dann prüfte er die Uhrzeit auf seiner Armbanduhr.
»Hanna, ich muss gehen. Jetzt sofort.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und eilte davon.
Entgeistert starrte sie ihm nach, bis seine Gestalt hinter einem Häuserblock verschwand. Erneut machte sich ein Gefühl von Taubheit in ihr breit.
Valerio war weg. Schon wieder.
Und auch dieses Mal kannte sie weder seinen Nachnamen noch eine Telefonnummer.