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Kapitel 6

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Die digitale Zeitanzeige des Weckers auf Hannas Nachttisch zeigte zwei Uhr nachts. Sie erhob sich und schlich benommen ins Bad. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit. Sie wollte kein Licht anmachen, sonst würde sie nachher nicht mehr schlafen können.

Als sie auf der Toilette saß, erreichten sie die Meldungen ihrer Wahrnehmung verzögert.

Sie hatte keine Atemgeräusche gehört, das Bett neben ihr war leer. Was hatte sie also geweckt? Sie musste nämlich gar nicht aufs Klo.

Von einem Adrenalinschub durchflutet, hastete Hanna zurück in das Zimmer. Valerio war fort. Dieses Mal kannte sie wenigstens seinen Nachnamen, und ein Schloss sollte wohl auch nicht so schwierig zu finden sein. Wie viele davon befanden sich in der Schweiz schon in Privatbesitz?

Instinktiv rannte sie zum Fenster. Was, wenn er sie geweckt hatte?

Sie erkannte das Schimmern einer blauschwarzen, halblangen Haarpracht im blassen Schein einer Straßenlaterne, dann bog er um die Ecke und verschwand aus ihrem Blickfeld. Er trug einen Rucksack bei sich.

Hanna beeilte sich, in ihre Ruinenkluft zu schlüpfen, hastete die Treppe hinunter in die Lobby und auf die Straße. Sie rannte in die Richtung, in die sie Valerio hatte verschwinden sehen.

Sie brauchte nicht lange, um zu erraten, was sein Ziel war. Einige der Ruinen der Römerstadt befanden sich nicht weit von ihrem Gasthof entfernt.

Hannas Schritte verursachten Klatsch- und Sauggeräusche, da der Asphalt immer noch feucht vom Regen war. Es wäre gelogen, wenn sie behauptet hätte, in ihren Shorts und den Sandalen nicht zu frösteln. Nachdem sie jedoch einen lockeren Trab angeschlagen hatte, um Valerio, der ebenfalls joggte, nicht aus den Augen zu verlieren, war die Kälte bald kein Problem mehr. Sie keuchte und schwitzte. Sie erinnerte sich an die verwahrloste Fitness-Zehnerkarte, die sie achtlos auf ein Regal im Wohnzimmer geworfen und seit einem Jahr keines Blickes mehr gewürdigt hatte.

Ich bin noch jung und brauche das nicht, hatte sie sich damals eingeredet. Das Geburtstagsgeschenk ihrer Eltern hatte jedoch schon seinen guten Grund. Mit dreißig gehörte man zu jener Altersgruppe, die begann, alt zu werden. So sah es aus. Dagegen konnte auch Hannas sturer Optimismus nichts ausrichten.

Ihre Lunge war kurz vor dem Zerbersten, und es fühlte sich an, als wüte ein Küchenmesser von innen in ihrer Brust. Endlich schien Valerio sein Ziel erreicht zu haben. Er wurde langsamer, und somit drosselte Hanna ihr Tempo ebenfalls. Es dauerte nicht lange, bis sie erkannte, wohin ihn sein nächtlicher Ausflug führte.

Zur Basilika.

Sie folgte ihm, immer im Schatten des Gemäuers bleibend.

In was war sie da hineingeraten? Wenn sich einer mal nicht wie eine Würgeschlange verhielt, verschwand er mitten in der Nacht, um sich eine Jahrtausende alte Basilika anzusehen. Wurde sie hier Zeuge eines satanischen Rituals, war er ein Psychopath? Hanna hatte schon viel gelesen und im Fernsehen gesehen. Die Unscheinbarsten waren oft die Schlimmsten. Wie dieser deutsche Jack The Ripper, der eine Frau und Kinder besaß, die er abgöttisch liebte und denen er auch nie nur ein Haar gekrümmt hatte. Daneben weidete er Frauen aus wie Schlachtvieh (das Wort, das er beim Prozess selbst benutzt hatte), als wäre es das Normalste der Welt. Hanna erschauerte. Ihre Fantasie ging wohl gerade mit ihr durch.

Sie hatte mit Valerio eine Nacht verbracht, ihm vertraut und geglaubt, ihn zu kennen. Aber wie gut kannte sie ihn tatsächlich? Eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen, wenn sie daran dachte, wie unvorsichtig sie gewesen war.

Valerio ließ seinen Rucksack an den Boden gleiten, kniete nieder und packte einige Gegenstände aus, die Hanna nicht genau ausmachen konnte. Die Wolken, die nach dem Gewitter immer noch nicht vollständig abgezogen waren, bedeckten Teile des Mondes. Vermutlich stand ein Vollmond kurz bevor, denn das kalte Leuchten war hell genug, um zu erkennen, was Valerio tat.

Er kramte sein Handy hervor und suchte eine Nummer, dann hielt er sich das Gerät ans Ohr. Hanna schätzte, dass es mittlerweile halb drei Uhr nachts war. Wen rief er denn um diese Uhrzeit an? Seine Worte wehten in der nächtlichen Stille deutlich zu ihr herüber.

»Hallo, ich bin’s. Wie weit seid ihr mit den Vermessungen?«

Valerio lauschte der Antwort der Stimme am anderen Ende.

»Das sagte ich doch schon! Ich kann anhand des Mondes nur ausmachen, an welcher Seite des Gebäudes es zu finden ist, aber nicht, wo genau! Da der Vollmond erst morgen um null Uhr siebenundfünfzig da sein wird, werde ich das Artefakt wohl erst dann suchen können. Eine präzise Berechnung wäre hilfreich. Dann verlieren wir nicht so viel Zeit.« Valerio tigerte vor den Mauerresten auf und ab und gestikulierte aufgebracht. Seine Worte wurden immer wieder von einem ärgerlichen Zischen und hektischem Kopfschütteln begleitet.

»Gut, dann nehme ich einige Stichproben, und ihr wertet sie morgen im Laufe des Tages aus. Da müsst ihr euch aber beeilen.« Er steckte sich das Handy mit einer ruckartigen Bewegung in die Hosentasche und beugte sich erneut über seinen Rucksack. Dann förderte er ein Maßband und mehrere Behälter zutage, die Hanna an das Kontaktlinsendöschen einer ihrer Mitbewohnerinnen im Studentenwohnheim erinnerten. Studium Nummer zwei war das gewesen.

Valerio begann an der Ecke, die am weitesten von Hannas Standpunkt entfernt war, und nahm im Abstand von jeweils einem halben Meter Gesteinsproben. Wie am Tag zuvor kratzte er dabei mit einem Messer über die Oberfläche der Mauer. Hanna fragte sich, ob das im Sinne des Erfinders war. Sie hatte bei sämtlichen Monumenten Tafeln entdeckt, welche die Besucher um Respekt im Umgang mit den Ruinen und deren Umgebung baten. Was Valerio hier mitten in der Nacht tat, lief unter Denkmalschädigung.

Aber das klang immer noch besser als die Optionen, die Hanna zu Beginn ihres Auftauchens bei der Basilika durch den Kopf gegangen waren. Sie wunderte sich immer noch, was Valerio hier genau anstellte, aber es schien eher mit seinem Beruf als Völkerkundler als mit einem satanisch motivierten Serienmord zu tun zu haben. Sie seufzte erleichtert.

Als Valerio sich ihrem Standort näherte, beschloss sie, zurück ins Gasthaus zu gehen. Sie zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Der Regenschauer hatte die Luft merklich abgekühlt, und sie hatte in der Hitze des Gefechts nicht an einen Pullover oder eine Jacke gedacht.

Zurück in ihrem Zimmer warf sie sich erschöpft ins Bett. Sie schlief ein, bevor ihr Kopf das Kissen richtig berührte.

Kurze Zeit später wurde sie erneut aus dem Schlaf gerissen. Die Tür ging auf, und Valerio kehrte zurück. Ihr Herz pochte so laut gegen die Rippen, dass sie glaubte, man müsste es unter dem feinen Baumwollshirt des Pyjamas schlagen sehen. Sie knipste das Licht an.

»Valerio?«

Er blieb wie angewurzelt stehen und starrte sie an.

»Es ist mitten in der Nacht, wieso bist du wach?« Die Frage war vollkommen absurd, wenn man bedachte, dass er sie geweckt hatte – schon zum zweiten Mal.

»Dasselbe möchte ich von dir wissen.« Ihr Blick glitt bewusst an ihm hinab und blieb an seinem Rucksack und den mit feuchter Erde und Kies beschmutzten Schuhen hängen. Sie setzte sich im Bett auf. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.

»Ich konnte nicht schlafen«, versuchte er es mit einer Ausrede.

»Das sehe ich, aber was hast du gemacht?« Hanna provozierte ihn absichtlich.

»Das kann ich dir nicht erzählen.« Er senkte den Blick und schlüpfte aus den Schuhen.

»Du warst bei der Basilika, ich habe dich gesehen. Also?« Sie verschränkte die Hände vor der Brust und hob eine Augenbraue. Da sie wusste, was er bei der Basilika getan hatte, fürchtete sie sich nicht mehr vor einer Antwort. Nun war ihre unersättliche Neugier entflammt.

»Du bist mir heimlich gefolgt?« Aus seinem Mund klang es wie ein Vorwurf.

»Ich erinnere dich daran, dass du es warst, der mitten in der Nacht das Zimmer verlassen hat. Du hast mich geweckt, und ich habe gesehen, wie du weggingst. Dann bin ich dir hinterhergerannt.«

»Ich hätte an deiner Stelle vermutlich dasselbe gemacht.«

Seine plötzliche Ehrlichkeit überraschte sie.

Er setzte sich auf das Bett und nahm ihre Hand in seine. »Sag mir, was du gesehen hast, Hanna.«

Sie lachte und entzog ihm ihre Hand. Warnend hob sie den Zeigefinger. »So einfach mache ich es dir nicht. Du sagst mir jetzt die ganze Wahrheit, nicht nur jene, die du gezwungen bist, preiszugeben, weil ich dich beobachtet habe!«

Für einen kurzen Moment sah sie etwas Streitlustiges in seinen Augen aufblitzen, dann breitete sich ein warmes Lächeln auf seinem Gesicht aus. »Ich wusste, dass du anders bist. Deshalb mag ich dich so gern. Du bist eine Herausforderung, das gebe ich zu, dadurch aber alles andere als gewöhnlich und langweilig. Wie ich schon erwähnte, habe ich nicht damit gerechnet, dass du unter der Woche hier auftauchst. Trotzdem obsiegte die Vorfreude auf ein Treffen, und so habe ich es in meinen Dozenten-Alltag integriert, anstatt es abzusagen. Vielleicht mit einer Schachtel Pralinen per Kurier ...« Er zwinkerte belustigt.

»Heb dir dein Gesülze für später auf, und lenk nicht vom Thema ab!«, schalt ihn Hanna. Sie meinte es bitterernst. »Was waren das für Döschen, und warum hast du Proben von der Mauer genommen? Was hat das Ganze mit dem Vollmond zu tun und ... wer zum Teufel bist du eigentlich? Ich kenne keinen Kunsthändler oder Völkerkunde-Referenten, der sich mitten in der Nacht wie ein Gespenst zwischen Ruinen herumtreibt. Außer Indiana Jones, aber der zählt ja wohl nicht!« Hanna schnaubte verärgert. »Gut, ich kenne auch sonst niemanden, der diesen Beruf ausübt, aber trotzdem!« Sie schlug mit der Faust auf die Matratze.

Valerio strich sich seine in Unordnung geratenen Haare hinter die Ohren. Aus dem Kirchturm von Kaiseraugst erklangen vier Glockenschläge.

»Es hat mit der Firma meines Vaters zu tun. Ich habe dir ja gesagt, dass meine Tätigkeit als Völkerkunde-Referent nur ein Nebenjob ist«, begann Valerio vorsichtig.

Hanna unterdrückte eine bissige Bemerkung. In ihrem Inneren brodelte es wie kochendes Wasser. Da war Wut, mehr noch Furcht und Unwissenheit, vermischt mit der Angst, einen Fehler begangen zu haben, indem sie ihm vertraut hatte.

»Wir sammeln archäologische und antike Artefakte.«

»Das sagtest du bereits«, wandte Hanna schnippisch ein. Das war keine Erklärung dafür, warum man mitten in der Nacht an einer denkmalgeschützten Ruine herumsäbelte.

»Es handelt sich dabei nicht um normale Kunstgegenstände.« Valerio schwitzte.

Hanna wurde hellhörig. »Wie meinst du das? Seid ihr Kunsträuber?« Ein leises Frösteln durchzuckte ihren Körper. Hatte sie tatsächlich mit einem Kriminellen geschlafen? Wenn dem so war, konnte sie ihre Menschenkenntnis auch gleich in der nächsten Mülltonne entsorgen.

Valerio strich sich mit den Händen über den Bart. Ein Schaben wie von Sandpapier. Seine Bewegungen waren fahrig, er wich ihrem Blick aus. »Ich darf nicht darüber sprechen«, meinte er zögerlich und schaute sie von der Seite her an. »Aber ich weiß, dass du mir nicht mehr vertrauen wirst, wenn ich diesen wichtigen Teil meines Lebens vor dir verheimliche. Ich kann nicht mehr rückgängig machen, dass du mich belauscht hast. Daher ist es besser, wenn du begreifst, worum es geht und was auf dem Spiel steht ... und daraufhin schweigst.«

»Sonst musst du mich töten, oder was?« Hannas Lachen klang in ihren eigenen Ohren blechern und trocken. Dass Valerio schwieg, führte dazu, dass ihr Herz einen Schlag aussetzte. »Du wirst mich doch nicht angreifen?«

»Natürlich nicht!« Nun klang er verärgert und verletzt. »Wie kannst du so etwas auch nur von mir denken! Ich weiß nur nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Macht ihr illegale Sachen?«, hakte Hanna nach, die noch immer keine Ahnung hatte, warum es ihm so schwerfiel, mit der Wahrheit herauszurücken.

Valerio schüttelte den Kopf und sie stieß erleichtert die Luft aus.

»Wenn ihr keine Kunsträuber seid, aber auch keine herkömmlichen Kunstsammler, wie nennt ihr euch dann? Rein rhetorisch?«

»Schatzjäger, wir sind eine geheime Bruderschaft von Schatzjägern.«

Hanna lachte übertrieben. Sie sollte wohl wirklich langsam an Schlaf denken, damit ihre Nerven sich erholen konnten. »Wie bitte?«

»Du hast schon richtig gehört.« Valerios Schultern sackten nach unten, als trage er ein schweres Gewicht. Dann brachen die Dämme, und die Worte sprudelten aus seinem Mund wie das muntere Plätschern einer Quelle. »Die Kunsthändler-Firma, die Lehrtätigkeit, das alles dient uns nur zur Tarnung und natürlich zur Mitfinanzierung unserer wahren Tätigkeit. Die Artefakte, mit denen wir dort handeln, haben keine große Bedeutung. Jedenfalls nicht für uns. Das sind gewöhnliche Kunstgegenstände, mal mehr, mal weniger wert. Hängt davon ab, was jemand gewillt ist zu bezahlen. In Wahrheit gehören wir einer alten Bruderschaft an, die bereits zu Zeiten der ersten Kreuzzüge existiert hat.« Er holte Luft und sah Hanna unverwandt an. »Die Vereinigung ist geheim. Die meisten Familien sind schon seit der Gründung des Geheimbunds dabei und geben das Wissen jeweils an die jüngere Generation weiter. Ich wurde seit meiner Geburt auf meine Aufgabe als Schatzjäger vorbereitet. Ich spreche zahlreiche Sprachen, von deren Existenz du noch nie gehört hast, ich beherrsche Kampftechniken, kenne mich in Völkerkunde, Geschichte und Geografie aus. Ich weiß, wie man in der Wildnis überlebt, habe nebenher ein Studium in Ethnologie absolviert und ...«

»... und hast ziemlich viel Geld«, beendete Hanna seinen Vortrag pragmatisch.

»Das meiste Geld gehört der Bruderschaft. Aber ja, wir haben einflussreiche Gönner unter den Mitgliedern. Nicht alle sind operativ für den Orden tätig wie ich. Außerdem gehe ich wie bereits erwähnt einer Tarntätigkeit nach, deren Einkünfte auf mein privates Bankkonto fließen. Ich habe auch eigene Ersparnisse.«

»Wozu der ganze Aufwand? Was für Schätze sind das, und was habt ihr damit vor? Verkauft ihr sie auf dem Schwarzmarkt? Dann wäre es doch Kunstraub ...« Hanna hatte Mühe, ihre Gedanken zu sortieren. Ein Stechen machte sich in ihrem Schädel bemerkbar. Sie hielt sich die Hand an die Stirn.

»Kaffee?«, fragte sie Valerio und ging zu dem Wasserkocher auf der Kommode. »Sofern er überhaupt funktioniert«, murmelte sie mehr zu sich selbst, als sie das von Staub bedeckte Kabel ausrollte, Wasser einfüllte und den Startknopf drückte.

»Gern.« Er unterdrückte ein Gähnen. Erst jetzt fiel Hanna auf, dass seine Augen gerötet waren und er für seine Verhältnisse ziemlich bleich und eingefallen aussah. Eine Liebesnacht und anschließend ein Abenteuer im Freien waren wohl auch für einen routinierten Schatzjäger zu viel.

Das Wasser kochte. Hanna schüttete Kaffee und Zucker in zwei Tassen und suchte vergeblich nach Sahne. Dann halt schwarz, Hauptsache mit Süßstoff, dachte sie und reichte Valerio das dampfende Gebräu. Der Instantkaffee schmeckte genauso scheußlich, wie er aussah. Nach Spülmittel.

Hanna setzte sich mit gekreuzten Beinen zurück auf das Bett und starrte Valerio über den Rand ihrer Tasse hinweg an.

»Also«, begann er und seufzte, als er es sich auf dem Bett bequem machte. »Um auf deine Frage zurückzukommen. Nein, wir sind keine Kunsträuber. Die Artefakte, beziehungsweise Schätze, die wir suchen, gehören in die Kategorie der Mysterien.« Das Wort lag mehrere Sekunden lang wie das eindrückliche Dröhnen einer Klangschale in der Luft. »Mysterien? Was darf ich darunter verstehen?«

»Die Bruderschaft hat es sich zum Auftrag gemacht, Artefakte, die ausgeprägte magische oder mächtige Eigenschaften haben, aufzuspüren und sie aus dem Verkehr zu ziehen. Dies muss geschehen, bevor sie irgendjemandem in die Hände fallen, der diese für seine eigenen Zwecke – beispielsweise zur Vernichtung der Welt oder deren Knechtschaft – benutzen könnte. Nicht selten geschieht es, dass wir erst von einem Geheimnis erfahren, wenn bereits ein macht- oder geldhungriger Psychopath hinter dem Gegenstand her ist. Daher ist unsere Vorbereitungszeit oft sehr knapp bemessen, die Einsätze erfordern höchste Konzentration und Flexibilität.«

»Mhm.« Mehr fiel Hanna dazu im Augenblick nicht ein. Valerio wartete einige Sekunden auf eine weitere Reaktion oder Folgefragen. Als keine kamen, erzählte er einfach weiter.

»Unser Credo ist, dass kein Artefakt zerstört wird, unabhängig davon, wie gefährlich oder mächtig seine Eigenschaften sind. Wir respektieren die Mysterien dieser Welt und bringen sie mit der nötigen Ehrfurcht in Sicherheit. Meistens an einen anderen Ort, wo man sie nicht vermutet und hoffentlich einige Jahrhunderte verschollen bleiben.«

»Bis irgendwo in der Zukunft ein neuer, hochintelligenter Irrer sie findet, und dann geht das ganze Spiel von vorne los«, schlussfolgerte Hanna.

Valerio lachte. Das erste Mal, seit sie das ernste Thema angeschnitten hatten.

»Im Grunde hast du recht. Seit ich mich erinnern kann, ist das aber noch nie passiert.«

»Dennoch geht euch die Arbeit nie aus?«, fragte Hanna nun ungläubig.

»Das ist das Beängstigende daran. Die Welt ist voller Mysterien. Manchen Experten zufolge ist die Menschheit ungefähr zwei Millionen Jahre alt. Das sind eine Menge Jahre, um Rätselhaftigkeiten anzusammeln. Dabei lassen wir aber all die Merkwürdigkeiten, die nicht mit uns Menschen zu tun haben oder nicht einmal auf diesem Planeten entstanden sind, noch außer Acht. Man kann also gut und gern sagen, dass die Flut an magischen Kuriositäten beinahe endlos ist. Im Jahr 1095 wurde zum ersten Kreuzzug aufgerufen ... so lange gibt es den Orden also noch nicht, im Gegensatz zu den sich ständig vermehrenden Geheimnissen dieser Welt.«

»Dann bist du also doch so etwas wie Indiana Jones, habe ich recht?«, fragte Hanna und spielte in Gedanken die letzte Nacht durch. Sie hatte mit Indiana Jones geschlafen, nicht mit dem Prinzen-Piraten Jack Sparrow. Damit konnte sie leben.

Valerio legte den Kopf schief und grinste. »Das ist eine Filmfigur. Das hat mit der Realität, die wir antreffen, nichts gemeinsam.«

»Tja, da wo ich herkomme, sind es meistens auch nur Disney-Figuren, die in Schlössern wohnen ... also?«

Nun lachte Valerio schallend, und seine melodiöse Stimme erfüllte den Raum. »Eins zu null für dich. Ich sagte ja bereits: Du bist eine Herausforderung, Hanna Krüger. Aber eine süße.« Er stellte die Kaffeetasse ab und nahm Hanna ihre aus der Hand. Dann beugte er sich nach vorne und küsste sie.

»Wenn ich nicht so verdammt müde wäre, dann würde ich dich jetzt aus deinem Pyjama schälen und vernaschen«, murmelte Valerio und vergrub den Kopf an Hannas Hals, während er diesen sanft mit Küssen bedeckte. Seine Finger wanderten zärtlich über ihren Körper.

Hanna spürte, wie die Flammen des Verlangens an ihr leckten. Doch schließlich siegte bei ihr ebenfalls der Verstand. »Es ist schon fünf Uhr. Lass uns schlafen. Ich vermute, dass wir einen langen Tag vor uns haben.« Die Vorkommnisse bei der Basilika waren noch nicht geklärt. Hanna war allerdings zu erschöpft, um noch weitere hochkomplexe Sachverhalte zu klären.

Während Valerio seinen Arm um sie legte und sich an sie schmiegte, fielen ihr bereits die Augen zu.

»Eine Frage habe ich noch«, flüsterte sie. »Was machst du jetzt, wo du gegen den Codex jedes Geheimbunds verstoßen hast und mich, eine Außenstehende, eingeweiht hast?«

Valerio drehte das Gesicht in ihre Richtung. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren.

»Ich habe dich nicht eingeweiht, Hanna. Ich habe dir gesagt, was nötig war, damit du mir weiterhin vertrauen kannst. Zu deinem eigenen Schutz hast du jedoch nicht genug Wissen, um dich oder uns damit in Gefahr zu bringen. Man würde dir nicht glauben und dich für eine wirre Verschwörungstheoretikerin halten. Trotzdem: Können wir uns vorerst darauf einigen, dass du den Mund hältst und nichts auf eigene Faust unternimmst? Ausnahmsweise, auch wenn es nicht deine Art ist?« Er zwinkerte und gab ein schwaches Prusten von sich.

Hanna knuffte ihn in die Seite. »Du hast überhaupt keine Ahnung, was meine Art ist!«, protestierte sie mit letzter Kraft.

»Ich denke, ich habe eine ziemlich gute Vorstellung davon.« Valerio seufzte ergeben.

»Mein Vater wird mich umbringen, wenn er von uns erfährt.«

Dann schliefen sie ein.

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