Читать книгу Der Schatzjäger - Gesamtausgabe - Ladina Bordoli - Страница 15
Kapitel 7
ОглавлениеAls Hanna am nächsten Morgen aufwachte, war Valerio, wie sie bereits erwartet hatte, weg. Dieses Mal hatte er ihr jedoch einen Zettel auf den Nachttisch gelegt. Er besaß eine für einen Mann ungewöhnlich verschnörkelte Schrift.
Ich melde mich, wenn die Sache vorüber ist, bitte halte dich an unsere Abmachung. Ich freue mich auf dich ... bis bald, Valerio.
Hanna schnaubte verärgert. Sie hatten keine Abmachung. Er hatte sie um etwas gebeten, und sie hatte ihm keine eindeutige Antwort gegeben, schon gar kein Versprechen. Er hatte ja selbst gesagt, dass sie nicht genug wisse, um die Mission in Gefahr zu bringen.
Er nahm doch nicht allen Ernstes an, dass er ihr mitten in der Nacht diese haarsträubende Geschichte von einem Geheimbund und übernatürlichen Artefakten vorlegen konnte und sie dann einfach nach Hause ging und sich ein Butterbrot schmierte? Andere Frauen hätten das womöglich getan und gehorcht. Die Sorte Frau, die jeweils wimpernklimpernd in Valerios Kursen herumlungerte, die hätte so was bestimmt gemacht, um ihm zu gefallen. Die interessierten sich auch nicht für Valerio, den Menschen hinter der attraktiven Fassade.
Hanna hingegen gehörte zu der unangepassten, eigensinnigen Sorte Frau. Sie besaß eine Neugier, die, einmal entfacht, einem Flächenbrand glich. Sie wollte nicht das dümmlich grinsende Küken an Valerios Seite sein, sondern seine Komplizin.
Ihr ganzes Leben lang hatte sie unbewusst auf jemanden wie ihn gewartet. Einen Mann, der es vermochte, sie zu faszinieren.
»Ein Schatzjäger ...«, murmelte Hanna versonnen vor sich hin. Sie musste das Wort immer wieder laut aussprechen, damit sie die Vibrationen, die es auslöste, auf ihren Lippen spürte. Wenn sie es nicht mit ihren eigenen Ohren hörte, konnte sie es nämlich kaum glauben.
Valerio war der erste Mann, der Hanna wirklich interessierte. Er war überdies der Erste seines Geschlechts, der sie eine süße Herausforderung nannte. Die meisten ihrer Verflossenen hatten sie zuerst erfrischend gefunden, dann wollten sie sie in einen goldenen Käfig sperren, und am Ende waren sie von ihrer anarchischen Leidenschaftlichkeit überfordert. Das sagten sie zwar nie, Hanna erkannte es aber an dem beinahe greifbaren Fragezeichen über ihren Köpfen und den immer hektischeren Bemühungen, sie zu domestizieren. In Valerios Augen sah sie stets ein entspanntes Schmunzeln und offenherzige Neugier, wenn er sie beobachtete.
Für Hanna war also vollkommen klar, was zu tun war.
Sie vertrieb sich die Zeit bis zum Abend mit Bummeln und Lesen. Sobald der kosmische Nachbar sein rundes Gesicht am Himmel zeigte, würde sie sich in der Nähe der Basilika verstecken.
»Ich habe befürchtet, dass du nicht tust, was ich dir gesagt habe.« Es klang nicht einmal wütend, bestenfalls resigniert. Hanna konnte sein Gesicht nicht erkennen, da er ihr den Rücken zukehrte. Sie hätte jedoch geschworen, dass seine Mundwinkel bei der Bemerkung leicht zuckten. Sie hörte es dem Ton seiner Stimme an.
»Womit habe ich mich verraten?« Sie kroch aus dem Dickicht und klopfte sich Blätter und Erde von der Kleidung. »Gar nicht. Wie ich bereits heute in den frühen Morgenstunden sagte, kann ich dich besser einschätzen, als du denkst.« Er drehte sich zu ihr um und verschränkte die Hände vor der Brust. Seine Miene war ausdruckslos, was er vermutlich absichtlich machte, um sie zu verunsichern.
»Wie hast du mich kommen sehen, es war schon dunkel, und ich war sehr leise?«
Nun brach Valerio in Lachen aus und schüttelte amüsiert den Kopf.
Hanna grinste ebenfalls.
»Ich habe dein Handy via GPS geortet. Ich wusste, dass du dich meiner Anordnung wiedersetzen würdest. Du hast noch geschlafen, als ich die Meine-Freunde-finden-App aktiviert und mit meinem iPhone verknüpft habe.«
Hanna schnappte nach Luft. Sie sperrte den Mund auf und schloss ihn wieder. Es gab nichts, was sie ihm an den Kopf hätte werfen können. »Heißt das, ich darf heute Nacht bleiben?« Hannas Puls beschleunigte sich.
Valerio warf einen gehetzten Blick auf die Leuchtanzeige seiner Uhr, dann schaute er in den Himmel, wo der Mond bereits mit seinem augenlosen Kugelgesicht auf sie nieder starrte. Es war zwölf Uhr fünfundzwanzig.
»Eigentlich nicht, aber ich habe keine Zeit mehr, um dich fortzuschaffen. Hat dir mal jemand gesagt, dass du verdammt stur bist, Hanna Krüger? Damit meine ich: wirklich unglaublich starrsinnig?«
»Willst du jetzt vorwärts machen, oder nicht? Soll ich dir bei was auch immer helfen, oder nicht?« Hanna überging seine Unterstellung galant. Man nannte sie gelegentlich rebellisch ... aber das musste sie ihm nicht gleich unter die Nase reiben.
In diesem Augenblick klingelte Valerios Handy. »Endlich!«, schnauzte er ohne ein Grußwort in den Hörer.
»Nummer 5A bis 7C also. Gut. Danke.« Er legte auf und wirkte plötzlich gestresst. Wie schon in der Nacht zuvor holte er ein Maßband hervor. Sein Mund war zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und seine Bewegungen knapp und präzise.
»Die Gesteinsproben haben ergeben, dass sich das, was wir suchen, zwischen dem Punkt 5A, der die obere linke Ecke des Teilstücks markiert, und dem Punkt 7C, der das Quadrat unten rechts abschließt, befindet. Bitte markiere die Eckpunkte, die ich dir nun ausmesse, mit dieser Kreide hier.« Valerio reichte Hanna einen Kreidestift und begann, das Maßband auszurollen. Ungefähr nach zweieinhalb Metern Mauerlänge musste sie auf zwei Metern Höhe einen kleinen Punkt kennzeichnen. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte und die Arme ausstreckte, gelang ihr das mehr schlecht als recht. Dies war jedoch nicht der Moment, um sich bei Valerio zu beklagen. Dann würde er sie bloß wegschicken. »Was genau suchen wir eigentlich, wenn ich fragen darf? Jetzt, wo ich schon mal hier bin ...«, versuchte Hanna es vorsichtig. In Wahrheit platzte sie fast vor Neugier.
»Wir suchen eine Wandmalerei, die nur bei Vollmond sichtbar wird. Der Orden hätte den genauen Ort des Felsbildes unter Einbezug antiker Quellen berechnen sollen, sodass mir genügend Zeit bleibt, alles auf die Vollmondnacht vorzubereiten. Es liegt jedoch in der Natur meines Schatzjäger-Berufes, dass selten etwas so klappt, wie man es sich wünscht. Der Aufruf zur Rettung dieses Artefaktes kam erst vor rund einer Woche.«
»Als du nach unserem Tagesausflug zur Insel Ufenau unverhofft davongerannt bist?«, fiel ihm Hanna ins Wort. »Deshalb musstest du mit den Gesteinsproben improvisieren und auf diese Weise versuchen herauszufinden, ob sie die Wandmalerei enthalten?« Wenigstens klickte schon mal ein Puzzleteil in Hannas Gehirn an den richtigen Platz.
»Genau. Die Malerei besteht aus einer bestimmten organischen Zusammensetzung, die wir in unserem Labor den Gesteinsproben zuordnen konnten«, bestätigte er, während er weitere Vermessungen vornahm und Hanna anwies, die zweite Markierung anzubringen. Nach einer Viertelstunde hatten sie das Rechteck abgesteckt.
»In diesem Bereich befindet sich die Malerei gemäß unseren Proben.«
»Warum können wir sie nicht sehen? Es ist doch Vollmond?«, fragte Hanna. Die Mauerruine ragte noch immer gleich nackt und stumm wie ein überdimensionaler Altar vor ihnen im Mondschein in die Höhe.
»Noch nicht ganz«, erklärte Valerio und schaute auf die Uhr. »Außerdem muss die Malerei in letzter Instanz mit dem Saft von Königskraut aktiviert werden. Dann wird sie in Kombination mit dem Mondlicht sichtbar. Wir sollten uns also beeilen.« Er ließ den Blick ehrfürchtig über die dunklen Mauern der Basilika schweifen. Hanna schaute ihn mit fragend erhobener Augenbraue an. Sie hatte noch nie von einem solchen Kraut gehört. Sie ging aber davon aus, dass die Bruderschaft sich den Aufwand der Abmessung und der Gesteinsproben gespart hätte, wenn sie darauf nicht vorbereitet wäre. Valerio wühlte in seinem Rucksack und förderte eine Lunchbox zu Tage. Sie war bis obenhin mit Basilikumblättern gefüllt, wie Hanna dem unverkennbaren Duft entnehmen konnte. Er drückte ihr einige in die Hand.
»Basilikum heißt übersetzt Königskraut, abgeleitet vom altgriechischen Wort basiliké, was so viel wie königlich bedeutet. Dasselbe trifft übrigens auf die Basilika zu. Die Bezeichnung stand ursprünglich für eine Königshalle. Bitte nun mit den Blättern über den gesamten Abschnitt streichen, sodass sich der Saft großzügig darauf verteilt. Beeil dich, Hanna.«
»Altgriechisch sprichst du also auch noch«, murmelte sie und begann, die Pflanzenblätter über die Mauer zu reiben. Der frische Geruch des Königskrauts vermischte sich mit dem modrigen Aroma des antiken Gesteins. Hanna erinnerte der Duft an einen gemütlichen Abend bei ihrem Stammitaliener. Dessen Lokal befand sich in einem alten Kellergewölbe und war beidseitig von Regalen mit Weinflaschen flankiert.
Der Ruf einer Eule durchschnitt die Nacht und ließ sie unwillkürlich frösteln. Das Gehölz rund um die Ruine der Basilika knackte, und die Blätter raschelten im nächtlichen Wind.
»Irgendjemand ist also hinter dieser Malerei her?«, bohrte Hanna weiter.
»Hanna, ich bitte dich, dich zu konzentrieren. Es eilt. Jene, die das Artefakt für ihre egoistischen Zwecke nutzen wollen, sind im schlimmsten Fall schon auf dem Weg hierher. Unser Team ist ihnen in der Aufklärung des Rätsels nur wenige Tage voraus. Ich vermute, dass sich dieser Abstand mittlerweile verringert hat.« Valerio strich sich einige Schweißperlen von der Stirn, die im blassen Licht des Mondes auf seinem Gesicht glitzerten.
Hannas Kopf schwirrte. Warum und wie war die Bruderschaft an diese Informationen gelangt, und weshalb war es ihnen gelungen, den Bösewichten einen Schritt voraus zu sein? Wie funktionierte dieser Schatzjäger-Orden überhaupt? Sie hatte so viele Fragen, von denen sie wusste, dass sie heute Abend nicht mehr beantwortet werden konnten.
Valerios Bewegungen wurden immer hektischer. Nach einer Viertelstunde hatten sie die gesamte abgesteckte Fläche mit Basilikumsaft eingestrichen. Mittlerweile hatte Valerio verschiedene Instrumente aus seinem Rucksack gefischt. Hanna hatte keinen Schimmer, wozu man sie brauchte.
»Unglaublich!« Die feinen Härchen auf Hannas Armen stellten sich auf, und ein Schauer der Ehrfurcht durchlief ihren Körper. Es war das erste Mal, dass sie Zeuge eines Mysteriums wurde. Vor ihren Augen, silbern im bleichen Licht des Erdtrabanten über ihnen, tauchte eine komplizierte Malerei auf. Es war zwölf Uhr siebenundfünfzig. Vollmond.
»Ist das ... was zum Teufel ist das?« Hanna legte den Kopf schief und ging näher heran. Das sah nicht nach einem Bild aus.
»Nicht! Nicht anfassen!« Valerio war aufgesprungen und fasste sie am Handgelenk.
Sie starrte ihn erschrocken an. Sein Atem ging stoßweise und strich warm über ihr Gesicht hinweg. Seine Stirn lag in angestrengten Furchen. »Entschuldigung«, murmelte sie und versuchte, ihr Herz, das gegen ihren Brustkorb hämmerte, zu beruhigen. »Ich nehme an, das ist Altgriechisch?«, vermutete Hanna flüsternd und konnte den Blick nicht mehr von der silbernen, fremdartigen Schrift abwenden.
Valerio nickte und machte sich weiter an den Instrumenten, die er auf dem Boden ausgebreitet hatte, zu schaffen.
»Was bedeuten die Zeichen?« Musste sie ihm eigentlich jedes Wort aus der Nase ziehen? Sie war seine Komplizin, ebenso seine Geliebte. Oder nicht? Als er beharrlich schwieg, stemmte sie die Arme in die Hüfte.
»Weißt du was, ich glaube, du vertraust mir überhaupt nicht! Du willst dein Leben gar nicht mit mir teilen. Wenn du mir ständig Informationen vorenthältst, komme ich mir dumm und unwürdig vor. Verstehst du?« Hanna zeigte auf ein Wort in der Felsmalerei. »Ich spreche zwar nicht fließend Altgriechisch. Aber: Studium Nummer drei, auch wenn’s nur drei Wochen dauerte, begann mit einem Exkurs in die altgriechische Sprache. Paris trifft in Troja auf Helena, die so bildhübsch war, dass ihm die Spucke wegblieb. Das einzige Wort, das ich mir in diesem Zusammenhang merken konnte, war dieses hier.« Sie tippte mit dem Finger auf eines der ersten Wortgebilde des Textes. »Kallos, schön. Es kommt mehrmals vor. Es geht um die Schönheit.«
Valerios weit aufgerissene Augen und halb geöffneter Mund waren wie Nektar und Ambrosia. Hanna hob feixend eine Augenbraue und schürzte provokativ die Lippen.
»Ich bin vielleicht blond, aber nicht blöd, mein Lieber.«
Valerio erhob sich, langsam und geschmeidig wie eine Raubkatze. Er trat so nahe an Hanna heran, dass sie einen Schritt zurückwich und mit dem Rücken zur Mauer stehen blieb. Sein Blick glitt über ihr Gesicht und blieb an ihrem Mund hängen. Seine Augen glichen zwei dunklen Tümpeln.
»Du bist wirklich die erstaunlichste Frau, die ich je kennengelernt habe, Hanna.« Ein amüsiertes Glucksen drang aus seiner Kehle. Seine Nase berührte sie beinahe. »Du schaffst es tatsächlich, mich täglich zu überraschen, was bei meinem Beruf nicht oft vorkommt. Paris und Helena also. Eines der bekanntesten Liebespaare der Antike.« Mit diesen Worten küsste er sie.
Wie viele Turteltauben hatten sich hier wohl schon heimlich geküsst? Zu Zeiten der Römer, als die Basilika noch eines der imposantesten Bauwerke der gesamten Stadt gewesen war?
Hanna sog Valerios Geschmack in sich auf und strich mit den Fingerspitzen über seinen Bauch. Er löste sich sanft von ihr, einen verklärten Ausdruck im Gesicht.
»Es ist eine Rezeptur für ewige Schönheit. Die Farbe, mit der die Zutaten aufgeführt sind und deren Vermengung erklärt ist, ist zugleich der letzte und wichtigste Bestandteil der Mischung. Einer der weltweit größten Kosmetikgiganten ist hinter der Wandmalerei, beziehungsweise der Formel her. Reicht dir das als Antwort?« Er strich ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Das ist ungeheuerlich!«, stieß Hanna aus und hielt sich sofort die Hand vor den Mund, weil sie so laut gesprochen hatte. Bevor sie sich jedoch in einem Monolog über würdevolles Altern, den krankhaften Jugendwahn und ihren Fitnessboykott verlor ...
»Sagtest du nicht, dass wir uns beeilen sollten?«
»Vertraust du mir jetzt?« Für Valerio war das Thema offensichtlich noch nicht abgeschlossen. Sein Gesichtsausdruck wirkte verletzlich.
»Tue ich.« Sie umarmte ihn, um ihre Worte zu bekräftigen. Er schloss sie mit einem Seufzer in die Arme. Kurz und innig, dann kam die alte Geschäftigkeit zurück.
»Kannst du bitte hier mit anfassen, Hanna? Das ist nun sehr heikel, und du musst vorsichtig sein.« Er legte eine Papierrolle auf dem Boden aus.
»Das ist der Träger einer Spezialfolie«, erklärte er. »Wir lösen die Folie nun am vorderen Teil ab, bringen sie an der Mauer an und versuchen dann gemeinsam, die Kunststofffolie schrittweise auf die Malerei zu kleben und vom Trägermaterial abzulösen. Verstanden?«
Hanna nickte und fasste das eine Ende der Folie. Sie brachten sie bei den ersten zwei Eckpunkten bei der Nummer 5A und 5C an. Valerios Shirt war am Rücken und auf der Brust dunkel vom Schweiß, wie Hanna im Licht des Monds feststellte. Mit langsamen Streichbewegungen klebte er die Plastikfolie auf die Malerei. Sie schwiegen, und Hanna kaute nervös auf ihrer Unterlippe. Hoffentlich machte sie keinen Fehler. Als sie den gesamten Abschnitt mit der Spezialfolie abgedeckt hatten, stieß Valerio einen erschöpften Seufzer aus. Hanna schüttelte ihre Arme, die bereits taub waren vom Halten der Rolle. Mit einem unangenehmen Kribbeln kehrte das Blut zurück in die Gliedmaßen.
»Jetzt erhitzen wir die Folie, damit die Farbe der Malerei auf ihr haften bleibt. Wenn wir sie abziehen, ist das Felsbild nicht mehr auf der Mauer.«
Hanna riss ungläubig die Augen auf, während Valerio einen Bunsenbrenner zutage förderte. »Du meist, du entfernst die Darstellung vollständig und bringst sie auf diese Spezialfolie? Diese wiederum transportierst du dann an einen sicheren Ort, damit das Artefakt versteckt werden kann?«
Zum ersten Mal seit einer Stunde grinste Valerio wieder, während er kurz zu ihr aufsah. »Genauso habe ich es beabsichtigt. Du bist eine scharfsinnige Assistentin.«
Sie strich sich geschmeichelt eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. Erst jetzt merkte sie, dass auch sie schwitzte.
Nach einer Viertelstunde hatte Valerio die altgriechische Schrift auf die Folie gebannt, alles zusammengerollt und seinen Rucksack gepackt. Hanna fragte sich, warum die Schergen des Kosmetikgiganten nicht aufgetaucht waren. Wenn das Artefakt wirklich in Gefahr war, musste man doch bestimmt davon ausgehen, dass auch sie wussten, wann die Malerei auftauchen würde und zu welchem Zeitpunkt man sie für seine Zwecke nutzen konnte?
»Jetzt nichts wie weg hier!« Valerio unterbrach Hannas Grübeleien, bevor sie ihre Bedenken äußern konnte, und fasste ihre Hand. Dann rannten sie los.
Nach fünfzehn Minuten erreichten sie die Hauptstraße des Dorfes. Die Straße war menschenleer. In diesen Teilen der Schweiz gab es keine Obdachlosen, keine stinkenden Müllberge und keine mit Gittern verschlossenen Verkaufslokale. Einfamilienhäuser reihten sich friedlich aneinander, gepflegte Gärten dazwischen. Außer ihren hastigen Schritten auf dem Asphalt hörte man keinerlei Geräusche. Hanna hielt sich keuchend und um Atem ringend an einem Laternenpfahl fest. »Ich kriege keine Luft mehr, ich brauche eine Pause.« Erneut wünschte sie sich, dem Fitnessabo eine Chance gegeben zu haben.
»Es ist nicht mehr weit bis zum Gasthof«, meinte Valerio.
»Ich kann trotzdem nicht mehr atmen«, protestierte Hanna und warf ihm einen bösen Blick zu. »Können wir nicht wenigstens normal laufen?«
Er zuckte ergeben mit den Schultern. Nach einem prüfenden Blick in beide Richtungen gab er schließlich nach. »Also gut, aber wir gehen zügig, okay?«
Hanna rollte die Augen und setzte sich in Bewegung. Valerio hielt erneut ihre Hand. Die Wärme seiner mit ihren verschlungenen Finger lenkten sie von dem Stechen in ihrer Lunge ab. Jeder Atemzug fühlte sich an, als sei ihre Luftröhre verbrannt.
Dann bogen drei schattenhafte Gestalten vor ihnen um die Ecke.