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Kapitel 9

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Zürich, Schweiz

Juli 2016

Hatte Hanna anfangs noch gedacht, die vom langweiligen Warten auf Valerios Botschaften durchzogenen Tage seien unerträglich gewesen, belehrte sie das Leben nun eines Besseren.

Nicht zu wissen, wo sich Valerio aufhielt und wann er sich wieder melden würde, war eine Sache. Sich nicht sicher zu sein, ob er überhaupt noch lebte oder Hilfe brauchte, eine komplett andere.

Erwartungsgemäß hatte Hanna am letzten Donnerstag, als sie gegen Mittag endlich ihre Schicht im Café angetreten hatte, ein zorniges Donnerwetter seitens ihres Chefs über sich ergehen lassen müssen. Bisher ließ sie sich nichts zuschulden kommen und erledigte ihre Arbeit stets vorbildlich und pflichtbewusst. Deshalb beruhigte er sich nach einer zehnminütigen Tirade, bei der er mehrmals mit der Faust auf den Schreibtisch schlug und feine Speicheltröpfchen im Raum verteilte. Die Ader an seiner Schläfe pulsierte noch weiter bedrohlich, aber seine Atmung wurde ruhiger. Am Schluss meinte er: »Das kommt nicht wieder vor. Ich muss mich auf meine Angestellten verlassen können, Frau Krüger.«

Hanna senkte die Augen möglichst demütig, entschuldigte sich und nickte. Er hatte vollkommen recht.

Kaum hatte sie die Tür zum Backoffice hinter sich geschlossen, fühlte es sich in ihrem Kopf bereits wieder an, als stecke man ihre Gedanken in einen Mixer. Farben, Bilder, Töne, Berührungen, alles wirbelte ähnlich einem Hurrikane durcheinander und machte es ihr unmöglich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren.

Die Tage zogen sich wie Kaugummi. Manche Bestellungen schrieb sie wie in Trance dreimal auf. Während die Kunden ihren Blick oder ihre Beratung suchten, schweifte ihre Aufmerksamkeit zur Universität oder in eine namenlose Ferne. Ging es Valerio gut? Würde sie ihn wiedersehen?

Hanna spürte das Brennen in ihren Augenwinkeln.

Sei durfte nicht weinen. Nicht vor den Kunden.

»Besten Dank, einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch.« Sie sagte es und meinte es gar nicht ehrlich. Was sie sich wirklich wünschte, war nicht, dass besagter Gast einen angenehmen Tag erlebte, sondern dass Valerio wohlauf war.

Einige Studentinnen, die sich wohl auf den Campus verirrt hatten, setzten sich an Tisch Sieben. Eine symbolträchtige Konstellation, wenn man abergläubisch war. Die zartgliedrigen Frauen mit ihren seidigen Haaren, die wie Vorhänge über ihre Schultern fielen, erinnerten sie an Valerios Schützlinge in Augst.

Die Ziegenbrigade, hatte sie sie damals abfällig genannt. Im Moment hätte sie einiges darum gegeben, diesen Tag nochmals erleben zu dürfen. Es hätte sie mit Zufriedenheit und Freude erfüllt, mit diesen zickigen, spätpubertären Gazellen durch die mystischen Ruinen Augusta Rauricas zu schlendern, Valerios melodiöse Stimme im Ohr.

Ihr Handy vibrierte.

Vor Schreck hätte sie beinahe das Tablett mit dem Cappuccino für Tisch Drei fallengelassen.

Sie bediente den Kunden und schenkte ihm ein oberflächliches Lächeln. Danach bedeutete sie Elsa, der Buffetmitarbeiterin, dass sie auf die Toilette müsse.

Sie rannte zu den Waschräumen, als litte sie an Blasenschwäche. Sie nahm die erste freie Kabine, knallte die Tür zu und setzte sich auf den Toilettendeckel. Einen kurzen Moment zögerte sie.

Wenn es bloß ihre Mutter oder eine Freundin war, die sich nach ihrem Befinden erkundigte oder sie zu einem Essen einladen wollte?

Dann würde ihr Tag gleich genauso beschissen weitergehen wie bisher.

Hanna entsperrte das Display.

Keine Botschaft von Valerio.

Es war eine SMS der schweizerischen Fluggesellschaft Swiss.

»Jetzt fängt das auf dem Handy auch schon an mit diesen Junk-Nachrichten!«, zischte Hanna erbost und wollte die SMS löschen.

Plötzlich durchfuhr es sie eiskalt.

Warum sollte jemand ausgerechnet eine Fake-Mitteilung von der Fluggesellschaft senden? Was versprachen sich die Gauner davon? Jeder, der nicht wirklich auf dem Weg ins Ausland war, wusste, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. Hanna gehörte, wie wahrscheinlich viele Landesgenossen, nicht zu den Vielfliegern, die täglich eine Maschine bestiegen. Die Chance, dass jemand auf so eine Nachricht reinfiel, war verschwindend gering ...

... was bedeutete, dass sie echt war.

Hanna strich mit zittrigen Fingern über das Display und öffnete die SMS.

Es handelte sich um einen digitalen Boardingpass.

Nach Whitehorse, Kanada.

Abflug am nächsten Morgen sechs Uhr fünfundfünfzig.

...

Der Schatzjäger - Gesamtausgabe

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