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Kapitel 2

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Dawson, Kanada

Ende Juli 2016

Nach exakt einer Stunde, wie es George am Tag zuvor prophezeit hatte, tauchte vor Hannas Augen eine Blockhütte auf. Ihr Puls beschleunigte sich, und ihr Mund wurde trocken. Sie warf einen Kontrollblick auf die Landkarte, die sie neben den Armaturen so drapiert hatte, dass sie jederzeit nachschauen konnte, ob sie nicht vom Weg abgekommen war. Sie war der mit Leuchtstift markierten Route Richtung Norden entlang des Yukon Rivers gefolgt.

Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie, ihrem Instinkt und dem wortlosen Hinweis folgend, ihre Habseligkeiten aus dem Rollkoffer in den Tramperrucksack gestopft und sich Jeans und ein T-Shirt übergestreift. Sie war froh, dass sie passendes Schuhwerk anhatte. Bei der Erwähnung der Destination Whitehorse verzichtete sie auf High Heels oder leichte Sommersandalen. Eine weise Entscheidung, wenn man knapp einen Tag nach Ankunft in der Fremde dazu genötigt wurde, einen fauchenden, schwarze Abgaswolken spuckenden Pick-up zu fahren.

Die Dame an der Rezeption überreichte ihr beim Checkout die Schlüssel für besagtes rostrotes Ungetüm sowie eine Landkarte mit einer durch einen neongelben Marker angezeigten Wegstrecke. Nebenbei war die Rechnung für die Übernachtung und das aus knusprigem Brot, Kaffee und einem reichhaltigen Buffet bestehende Frühstück bereits bezahlt worden. Im Voraus.

Hanna lenkte den Wagen, der durch Schlaglöcher und über Gesteinsbrocken schaukelte, so gut es ging in Richtung der rustikalen Behausung. Erst jetzt entdeckte sie das Glitzern des Flusses zwischen den Tannen, welche die Blockhütte umgaben.

Aus einem steinernen Kamin stieg Rauch in den sonst wolkenlosen Himmel. Als Hanna den Wagen vor dem Haus zum Stillstand brachte, herrschte eine gespenstische Stille, die nur durch das gelegentliche Knacken im Gehölz und das sorglose Trillern einiger Vögel unterbrochen wurde.

War hier überhaupt jemand zu Hause?

Betont laut stieg Hanna aus dem Fahrzeug und knallte die Tür zu. Das Geräusch wurde vom Wald kommentarlos verschluckt. Nichts regte sich.

»Hallo?« Sie machte einige zögerliche Schritte auf die Blockhütte zu, erklomm die Holzstufen der Veranda und blickte sich immer wieder nach Verfolgern um. Das morsche Holz knarzte unter ihren Schuhen, und die Vögel hielten kurz die Luft an. Abgesehen davon schien sich hier draußen niemand um ihre Anwesenheit zu scheren.

Sie warf einen Blick durch die mit Spinnweben umrahmten, milchigen Fenster, die wie die Augen eines Blinden auf die Veranda starrten. Im Inneren der Blockhütte herrschte Dunkelheit. Das wenige Licht, das durch die rückseitigen Glasfenster fiel, vermochte aufgrund des dichten Waldes rund um das Gebäude kaum mehr als den Hauch einer Dämmerung zu erzeugen. Hanna konnte weder Schatten noch Bewegungen ausmachen. Nach einem Blick über die Schultern beschloss sie schließlich, die Behausung zu betreten.

Die Haupttür war unverschlossen. Man schien hier nicht mit Strolchen oder anderen ungebetenen Gästen zu rechnen oder ... – schoss es Hanna siedend heiß durch den Kopf – ... oder der Herr des Hauses war unerwartet aus seinem Heim verschleppt worden.

Sie betrat das Innere der Holzhütte.

Der Duft nach würzigen Speisen vermischte sich mit dem Geruch von Holz und Staub. Die Spannteppiche am Boden waren abgewetzt und schmutzig. Offensichtlich zog man hier seine Schuhe nicht aus, wenn man nach Hause kam. Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum, der einer Kochnische, einem Kamin, einem Esstisch mit Holzstühlen und zwei bequemen Stoffsesseln Platz bot. Eine einfache Holzstiege führte in den oberen Stock. Vermutlich zu den Schlafräumen. Rechts befand sich eine Tür, die nur angelehnt war. Ein schmales Bad mit Dusche. Über einem der Stühle beim Tisch hing eine in Grün- und Brauntönen gehaltene Holzfällerjacke.

Hanna durchquerte den Raum und wagte einen Blick durch die Rückfenster der Hütte. Sie sog den Atem ein.

Das Sonnenlicht glitzerte auf den Wellenkronen des träge dahinfließenden Yukon wie Tautropfen auf einer Herbstwiese. Auch beim hinteren Teil des Gebäudes gab es eine überdachte Veranda. Diese war durch eine Glastür erreichbar. »Da bist du ja, früher, als ich dachte.«

Hanna wirbelte herum und gab einen spitzen Aufschrei von sich. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, und für einen kurzen Augenblick vergaß sie zu atmen. Sie hielt ihre Hand auf ihr amoklaufendes Herz.

»Valerio?«

Er stand im Lichtkegel der Haustür, weshalb sie wohl die Umrisse seiner Gestalt, nicht aber sein Gesicht erkennen konnte. Doch bereits der warme Bariton seiner Stimme strich über sie hinweg wie ein tröstendes Lied.

»Geht es dir gut?« Plötzlich kämpfte sie mit den Tränen und spürte einen Kloß in ihrem Hals. Ihre Lippen zitterten.

Ohne ein Wort war er mit zwei Schritten bei ihr und nahm sie in die Arme. Sein Duft nach Tannennadeln und die ihm eigene, herbe Duftmischung umgab sie wie ein schützender Nimbus. Sie schloss die Augen und genoss die Wärme seiner Wange auf ihrem Gesicht, das sanfte Kratzen seiner Barstoppel. Sie spürte das gleichmäßige Klopfen seines Herzens dicht an ihrer Brust.

Sie hatte ihn unheimlich vermisst.

Er löste sich sachte von ihr und wischte mit dem Daumen eine Träne, die sich unmerklich aus ihren Augenwinkeln gelöst hatte, von der Wange. Dann strichen seine Lippen sanft über ihr Gesicht. Schwerelos und unwirklich wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.

In Hanna brach ein unbeschreibliches Chaos aus.

Müdigkeit vermischte sich mit der plötzlichen Erleichterung darüber, dass es Valerio gut ging. Glück durchströmte sie wie ein wärmender Kakao an kalten Wintertagen. Gleichzeitig bäumte sich, völlig unerwartet, eine Welle der Leidenschaft in ihr auf. Hanna wusste zuerst nicht, wie sie dieses jähe Verlangen, dieses glühende Pulsieren in ihrem Inneren handhaben sollte.

Sie zog Valerio näher zu sich heran und ließ ihre Hände über die strammen Stränge seiner Muskeln gleiten. Er erwiderte ihre aufkeimende Begierde und küsste sie.

Leidenschaftlicher. Entschlossener.

Sie hatten noch genug Zeit, sich über ihre unterschiedlichen Reisen hierher auszutauschen. Im Moment forderten ihre Körper eine stumme Unterhaltung, eine Verschmelzung, ein plastisches Wiedersehen. Bevor sie darüber redeten, wie Valerio dem Tod entflohen war, wollten sie das Leben zelebrieren.

Hanna spürte die Hitze, die durch ihre Gefäße donnerte, ihren Herzschlag beschleunigte und jeden Quadratzentimeter ihrer Haut prickeln ließ. Valerios Lippen zeichneten ein brennendes Muster von ihrem Hals über ihre Brüste und entlang ihres Bauches, während er sie aus ihrer Kleidung schälte. Sie riss ihm sein T-Shirt über den Kopf und löste seinen Ledergurt.

Sie hatten keine Zeit mehr, das Schlafzimmer im oberen Stock aufzusuchen. Valerio führte Hanna zu einem flauschigen Etwas vor dem Kamin. Den rauen Borsten nach zu urteilen, die leicht über ihren Rücken kratzten, handelte es sich dabei vermutlich um ein Bärenfell oder etwas ähnliches.

Valerios Schatten baute sich über ihr auf. Sie zog ihn näher zu sich heran und schlang ihre Beine um seine Mitte. Sein keuchender Atem strich über sie hinweg und vermischte sich mit ihrem eigenen.

Mit einem ergebenen Seufzer gab sie sich dem Rhythmus ihrer beiden Körper hin.

Hannas Herz pochte immer noch schneller, während sie, mit Schweißperlen bedeckt, in Valerios Armen auf dem Bärenfell lag. Sie spürte ein Ziehen in ihrem Unterleib, und ihr gesamter Körper schien nach wie vor in Flammen zu stehen. Als sie sich das letzte Mal geliebt hatten, war es vorsichtig gewesen, geprägt von der gegenseitigen Unsicherheit, einem bisher fremden Menschen plötzlich nahe zu sein.

Dieses Mal war es intensiver. Zügelloser. Als hätten die gemeinsam überstandenen Strapazen dazu geführt, dass sich zwischen ihnen eine tiefere Verbundenheit entwickelt hatte. »Was ist in der Nacht in Kaiseraugst geschehen?« Hanna stützte sich auf den Ellenbogen und wandte sich Valerio zu. Sie fröstelte. Er schien es am Zittern ihrer Stimme zu bemerken, erhob sich und angelte sich eine Decke von einem der Sessel. Er rückte näher zu Hanna und deckte sie beide damit zu. Sie genoss das Gefühl der wohligen Erschöpfung, die sich langsam in ihr breitmachte, ebenso wie Valerios Wärme.

»Ich kann von Glück reden, dass nur einer im Besitz einer Schusswaffe war. Ich musste innerhalb weniger Sekunden entscheiden, welche zwei Angreifer die Bumerangs abbekommen sollten. Ich entschied mich für jenen mit der Waffe und seinen Kumpel rechter Hand.« Valerio strich Hanna mit einem zärtlichen Lächeln eine verschwitzte Haarsträhne hinters Ohr. »Ich habe sie an der Stirn getroffen, sie sackten ohnmächtig zusammen. Den Dritten, der durch mein Manöver und seine in sich zusammenfallenden Freunde abgelenkt war, konnte ich mit Fäusten ins Koma befördern. Dann bin ich davongerannt.«

Hanna schluckte. »Und die Felsmalerei?« Wie jedes Mal, wenn sie das Thema anschnitt, erfasste sie diese elektrisierende Neugier, die sich durch einen erhöhten Puls und ein Kribbeln in ihrem Solarplexus äußerte. Seine dunklen Augen musterten sie erst unergründlich, dann legte sich ein amüsiertes Lächeln um die Mundwinkel, und sein Blick sprühte Funken.

»Neugierig?«, feixte er. Seine Stimme hatte noch immer einen heiseren Anstrich.

»Ein bisschen?« Hanna ließ ihre Augenbraue in die Höhe schnellen.

»Ich habe sie gestern an einen sicheren Ort gebracht.«

Sie hatte wohl nicht erwartet, dass er ihr im Detail sagen würde, wo das genau war.

»Was suchst du nun hier, in der Nähe des Goldrausch-Städtchens Dawson?«, stellte sie die nächste Frage, die ihr seit ihrer Ankunft in Whitehorse auf der Zunge brannte. »George war nicht sehr gesprächig«, fügte sie noch an und kicherte.

Valerio legte den Kopf in den Nacken und lachte ebenfalls. »Deshalb habe ich ihn für diesen Auftrag ausgewählt. Seine Wortkargheit hat in vielerlei Hinsicht Vorteile. Er ist auch sonst sehr diskret und verschwiegen ...« Er ließ den Satz unheilvoll und mit plötzlich ernstem Blick in der Luft hängen.

Hanna runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Er behält es jeweils für sich, wer genau sein Auftraggeber und was der Inhalt seiner Fracht ist. Er ist zwar ein Mitglied der Bruderschaft, aber eines von der Sorte, das nicht hirnlos devot und klatschsüchtig ist. Ich kenne ihn von früher, als ich hier in der Gegend einen Auftrag zu erledigen hatte.«

Als Valerio bemerkte, dass Hanna seinen Andeutungen noch immer nicht folgen konnte, seufzte er ergeben und inspizierte scheinbar interessiert die Fingernägel.

»Hanna ... klar, ich musste die Wandmalerei aus Augusta Raurica verstecken. Ich hätte dafür aber jeden Ort dieser Welt wählen können; auch einen besser zugänglichen oder einen, der geografisch etwas näher liegt. Fakt ist, ich wollte Zeit mit dir verbringen. Allein. An einem schönen Ort. Es ...« Nun senkte er den Blick, und ein Hauch von Traurigkeit huschte wie ein Schatten über seine Gesichtszüge.

»Es ist für mich nicht einfach, dem Radar meines Vaters zu entkommen. Er und die Bruderschaft sind überall. Es ist nicht im Sinne des Ordens, dass ich eine Beziehung mit einer Nichteingeweihten führe. Wir haben genügend Frauen in unseren Reihen, die ehrbaren Familien entstammen und paarungswillig sind, um es einmal platt auszudrücken.«

Hanna nickte zaghaft. Sie spürte, wie sich unsichtbare Ketten um ihr Herz legten.

»Ich wollte Zeit mit dir verbringen, uns eine Auszeit genehmigen. Ich habe mich an George und Tom, der deinen Pick-up bereitgestellt hat, erinnert und daran, dass sie einsilbige Bären der Wildnis waren. Im Ausland bin ich dem Einfluss meines Vaters weniger stark ausgeliefert als in unmittelbarer Nähe der Schweiz oder an einigen anderen Destinationen dieser Welt, die er selbst aufgrund seiner Tarntätigkeit als Kunsthändler frequentiert. Dawson City ist nicht sein beliebtestes Reiseziel.«

»Da verpasst er aber entschieden etwas!« Hanna beugte sich vor und drückte Valerio einen Kuss auf die Lippen.

Er legte die Hand an ihre Wange und strich ihr über die Haare. Hannas Herz machte wieder einen Sprung. Dann knurrte ziemlich unromantisch ihr Magen.

Valerio schmunzelte belustigt.

»Das wäre dann wohl das Zeichen zum Aufbruch.« Er zwinkerte ihr zu, während er sich erhob und seine Kleidung zusammensuchte.

Hanna blieb noch einige Sekunden unter der Decke.

Wie kam es, dass dieser Adonis, dessen nackte, muskelbepackte Gestalt durch das Halbdunkel einer Hütte an der Grenze zu Alaska huschte, mit ihr zusammen war? Selbst wenn Liebe nichts mit Stolz zu tun hatte, konnte Hanna nicht abstreiten, dass sie sich in diesem Moment fühlte, als hätte sie endlich auch einmal den Sechser im Lotto. Sie, die bis jetzt keine Ausbildung beendet und in den Augen vieler als Kellnerin geendet hatte. Sie selbst sah das nicht so. Sie liebte ihren Job und empfand für die Menschen, die sich täglich mehrere Stunden mit einem stets freundlichen Lächeln auf den Beinen hielten, um anderen ihre Wünsche zu erfüllen, allergrößten Respekt. Wer hatte allerdings das seltene Glück, einem Schatzjäger zu begegnen, und wie viele von jenen, die es taten, vermochten es auch noch, seine Zuneigung für sich zu gewinnen? Sein Mädchen zu werden?

Hanna kannte auf der gesamten Welt – und von der hatte sie ja schon mehrere Ecken gesehen – niemanden.

Seine Haut schimmerte im Halbdunkel des Raumes wie Karamell. Hanna gab sich einen Ruck und erhob sich. Valerio hatte sich längst angezogen und ein wenig Brot, Käse und Trockenfleisch aufgetischt. Dazu reichte er kalten Pfefferminztee.

Den Rest des Tages verbrachten sie damit, Holz zu hacken und zu stapeln, Fische für das Abendessen zu fangen und Spaziergänge durch die nahen Wälder zu unternehmen. Der harzige Duft nach Tannennadeln, vermischt mit dem feuchten Moosgeruch des Bodens, gab Hanna ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Das hatte sie seit Kindertagen nicht mehr erlebt. In Zürich herrschte stets hektische Lebendigkeit. Autohupen, Studentenkichern, Kuchengabeln, die über Porzellan schabten, Stühle wurden gerückt, Besucher schnatterten aufgeregt und erzählten sich die neusten Du-weißt-ja-nicht-was-mir-wieder-passiert-ist-Geschichten. So sehr Hanna die beschauliche Schweizer Stadt mit ihrem Charme liebte, so sehr erkannte sie jetzt, wie ihr die Ruhe der Natur gefehlt hatte.

Valerios Lachs, den er mit Dill und diversen anderen Kräutern, Salz und Olivenöl marinierte und anschließend grillte, mundete vorzüglich. Da es gegen Abend bereits empfindlich kühl wurde, entfachten sie ein Feuer im Kamin und nahmen ihr Essen im Inneren der Hütte ein.

Die Tage am Yukon River zerflossen wie Vanille-Eis auf der Zunge. Hanna verlor jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Sie legten sich schlafen, wenn es draußen dunkel und kühl wurde, aßen, wenn ihre Mägen knurrten, und liebten sich, wenn ihre Körper vor Verlangen brannten.

Sie verbrachten viele Stunden schweigsam auf der Terrasse mit Blick auf den Fluss, eingehüllt in Decken, bei einem Glas Wein oder einem warmen Tee. Das Zwitschern der Vögel und das Zirpen der Grillen bildeten die einzige Geräuschkulisse.

Hanna hätte an diesem Ort, fernab der Zivilisation, alt werden können.

Es war Sonntag. Vor einer Woche war Hanna bei der Blockhütte und Valerio angekommen. Die Sonne näherte sich im Westen den dunkel in den Himmel ragenden Bergketten und überzog das Flusswasser mit einem schimmernden Rot-Orange. Sie stützte sich am Geländer der Veranda ab. Dabei beobachtete sie ein Thorshühnchen bei seinem Bad im Fluss und lauschte dem aufspritzenden Wasser, als es gelegentlich den Kopf unter die Oberfläche tauchte und mit den Flügeln flatterte. Valerio legte seine Arme um sie und lehnte an ihr, sodass sein Atem über ihren Nacken strich. Ruhig und gleichmäßig.

Sie waren in Gedanken weit weg, geerdet in der Natur, geleitet nur von ihren Instinkten und ihrer Liebe. Deshalb dauerte es einige Sekunden, bis sie den seltsamen Störenfried überhaupt zuordnen konnten.

Das schrille, rasiermesserscharfe Klingeln eines Handys.

Valerios Handy.

Plötzlich fuhr er erschrocken hoch, sog die Luft ein und schaute sich um. Es wirkte, als müsse er sich zuerst orientieren. Dann rannte er mit großen Schritten ins Innere der Hütte, kramte in irgendeiner Jacke nach dem Gerät und hob ab.

»Ich weiß, entschuldige.« Vermutlich schnauzte ihn sein Gegenüber gerade ziemlich unhöflich an, weshalb das denn so lange dauerte. Hanna drehte sich um und versuchte, aus Valerios Mimik herauszulesen, um was es ging.

Irgendwas an seinem Gesichtsausdruck löste in ihr ein ungutes Gefühl aus. Kurz darauf erkannte sie auch, warum. Sie hatte ein Déjà-Vu. So hatte er damals nach der Schiffsfahrt ausgesehen, und ebenso in Augusta Raurica.

Als er nach fünf Minuten auflegte und mit einer traurigen Miene auf sie zukam, ahnte sie bereits, was er ihr sagen würde.

»Ihr habt ein neues Mysterium gefunden, stimmt's?« Sie nagte unsicher an ihrer Unterlippe. Sie wusste nicht, ob sie diese Neuigkeit nun mit Enttäuschung erfüllte oder eher mit Abenteuerlust. Kam darauf an, welche Rolle man ihr ab jetzt zugestand. »Muss ich nach Hause?«, fragte sie zaghaft und musterte seine dunklen Augen.

Valerio schob sich eine glänzende Haarsträhne hinter die Ohren und strich über seinen Dreitagebart. In der unheilschwangeren Stille, die zwischen ihnen herrschte, konnte Hanna das Geräusch deutlich ausmachen.

»Man hat mir mitgeteilt, dass ich unverzüglich nach Siem Reap, Nordkambodscha, und von dort aus zu der wenige Kilometer nördlich gelegenen Tempelregion von Angkor reisen muss. Einer unserer Asien-Agenten, der zurzeit nicht in Kambodscha weilt, hat verdächtige Aktivitäten aufgespürt, weiß aber nicht, um was es sich bei dem gesuchten Artefakt handeln könnte. Die Bemühungen und Vorbereitungen des kriminellen Kreises, dem unser Augenmerk gilt, ist dermaßen aufwendig, dass wir davon ausgehen, dass es sich bei dem möglichen Mysterium um etwas Bahnbrechendes handelt.«

Sein Blick huschte unruhig über das Innere der Blockhütte, als mache er in Sekundenschnelle eine Bestandsaufnahme der verstreuten Gegenstände im Raum und überlege sich, wie schnell er sie zusammenpacken konnte.

»Ich werde versuchen, für morgen einen Flug direkt von Dawson City über Whitehorse in den Osten zu ergattern. Ich muss mich dafür später mit unserer Zentrale in Verbindung setzen.«

»Und was wird aus mir?« Er hatte ihre Frage immer noch nicht beantwortet. Wollte er sie etwa am Flughafen in Whitehorse parken oder, noch schlimmer, hier in Dawson allein zurücklassen? »Dann fliege ich mit.« Hannas Herz pochte, als diese Worte ihre Lippen verließen. Hatte sie das wirklich gerade gesagt? Ja, und noch mehr: Sie meinte es auch so.

Sie schaute Valerio herausfordernd an und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Unsicherheit war aus ihrer Stimme gewichen.

»Daran dachte ich auch gerade.«

Hanna wollte soeben den Mund aufsperren und zu einer Protestrede ansetzen, als sie ihn wie ein Fisch, der nach Luft schnappte, wieder schloss. »Du nimmst mich mit?« Sie musste es noch einmal aus seinem Mund hören, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte. Die Stille der Natur hatte ihr vielleicht in der letzten Woche mehr zugesetzt, als sie annahm. Möglicherweise fantasierte sie jetzt bereits.

»Ich bin deiner Meinung. Ich möchte nicht ohne dich nach Siem Reap.« Er kam näher und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Hanna, wir gehören zusammen, du und ich. Egal, was die Bruderschaft davon hält, ich ... liebe dich. Ich will mein Leben an deiner Seite verbringen.«

Hanna spürte den Druck der Tränen in ihren Augenwinkeln, während Valerios Lippen zärtlich über ihren Mund strichen.

Das war das erste Mal, dass er gesagt hatte, dass er sie liebte. Nicht gern hatte, sondern liebte.

»Ich liebe dich auch, mein Schatzjäger«, flüsterte sie heiser. Sie legte ihr Gesicht an seine Wange und schmiegte sich an ihn. Während sie seinen würzigen Duft in sich aufsog, schloss sie genießerisch die Augen. Nach dieser intensiven, von stiller Verbundenheit und Leidenschaft geprägten Woche in der kanadischen Wildnis konnte sich Hanna überhaupt nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, ohne seine regelmäßigen Atemzüge neben sich einzuschlafen.

»Wir fahren zusammen nach Dawson City. Dort buchen wir eine Unterkunft für dich. Damit die Bruderschaft keinen Verdacht schöpft, wirst du erst einen Tag später in den Fernen Osten reisen. Ich warte in Siem Reap auf dich und bereite derweil alles für unseren Trip nach Angkor vor. Der Orden kontrolliert gelegentlich die Passagierliste meines Fluges – aus Sicherheitsgründen. Würden die Mitarbeiter mehrmals hintereinander auf deinen Namen stoßen oder generell feststellen, dass eine Landesgenossin merkwürdigerweise genau dieselbe Reiseroute wie ich hat, halten sie dich für einen Verfolger. Sobald sie Muster erkennen, werden sie misstrauisch.«

Hanna nickte und wischte sich einen feuchten Schimmer – das waren keine Tränen! – aus den Augenwinkeln.

Hastig packten sie ihre Sachen. Hanna war um ihren neuen Treckingrucksack nun doppelt froh. Was sollte sie mit einem lahmenden Rollkoffer in den Ruinen von Angkor? Während sie ihre Habseligkeiten im Reisegepäck verstaute, ließ sich Valerio durch die Bruderschaft den Flug nach Kambodscha und die Unterkunft in Siem Reap organisieren. Gleich darauf buchte er für Hanna über sein privates Bankkonto einen zweiten Flug und eine Übernachtung in Dawson.

Kurze Zeit später, es war bereits Nacht, fuhren sie los.

Ihre Flitterwochen waren beendet.

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